Niklas Luhmann: „Liebe als Passion“

Entdeckung der Poesie als innere Grenze der Prosa.

Interpretationsmodelle (6): Niklas Luhmann gilt trotz schmissiger Buchtitel wie Liebe als Passion oder Reden und Schweigen als sehr abstrakter Soziologie. Seine systemtheoretische Herangehensweise verunmöglicht einfache, selbstreferenzielle Urteile und verknüpft eher, als dass Fakten isoliert, gegeneinander ausgespielt und Wertparadoxien erstellt werden. Mit Luhmanns Theorie lässt sich keine Ideologie unterfüttern. Sie steht windschief zu herkömmlichen Binnendifferenzierungen und sieht in Meinungen, Urteilen eher den Ausgangspunkt zur Theorieentfaltung als ein wie auch immer anvisiertes Ziel. Verknüpfen, entfalten, verbinden, Zusammenklänge finden beschreibt sein Verfahren, das dennoch, wie eine Anekdote beweist, sehr reale Anfangsgründe besitzt:

[Auf die denkbar blödeste Frage, warum er so funktionalistisch und sachlich denke] antwortete Luhmann, er sei zusammen mit einem befreundeten Klassenkameraden noch in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs eingezogen und in sinnlose Kämpfe verwickelt worden – und auf einmal sei der enge Freund nicht mehr an seiner Seite gewesen, sondern in tausend Teile zersplittert. Und da habe er (Luhmann wechselte in einen halbironischen Ton) sich vor der Alternative gesehen, entweder verrückt zu werden oder so zu denken und zu leben, dass er es jederzeit für möglich halte, dass ein Mensch, ein Subjekt von jetzt auf gleich zersplittert werde. Er habe sich für das Zweite entschieden und sei Systemtheoretiker geworden.

Dirk Baecker et al aus: „Luhmann Lektüren“

Inhalt/Argumentation/Methode:

Luhmann beginnt mit Eindrücken. Er kennt Anfänge und entwickelt sie, kehrt in Schleifen zu ihnen zurück, dreht sie spiralförmig weiter und entdeckt neue Ebenen in seinen Erinnerungen. Auf diese Weise verschwinden nach und nach seine Anfangsmotive und das, was entsteht, die Theorie, erhält ein Eigenleben, das er Autopoiesis nennt. Gibt es einen Vorgang, dem Luhmann bevorzugt seine Aufmerksamkeit schenkt, der ihn interessiert und erstaunt, dann diese Abkopplung, Selbständig-Werdung, die Individualisierung und somit Konstituierung eines Systems. In Liebe als Passion zeichnet er die Individualisierung der Einzelsubjekte anhand der Geschichte des Liebesdiskurses nach und beschreibt in dicht gepackten 16 Kapiteln, wie sich die Kommunikationspraxen im Übergang von einer streng hierarchisch (stratifikatorisch) differenzierten Gesellschaft in eine funktional-orientierte verändert haben.

1. Kapitel. Statt die moderne Gesellschaft als schlicht unpersönlich zu charakterisieren, betont Luhmann, dass die Entkopplung funktionaler Geschäftsabläufe ins Anonyme hinein die zwischenmenschlichen Dimensionen entlasten und sich auf diese Weise Möglichkeiten ergeben, besonders intensive, selbstbezügliche Nahwelten zu schaffen, die befreit von funktionalen Aspekten einen dynamischen Eigensinn entwickeln dürfen:

Es werden, mit anderen Worten, soziale Beziehungen ermöglicht, in denen mehr individuelle, einzigartige Eigenschaften der Person oder schließlich prinzipiell alle Eigenschaften einer individuellen Person bedeutsam werden. Wir wollen solche Beziehungen mit dem Begriff der zwischenmenschlichen Interpenetration kennzeichnen. Im gleichen Sinne kann man auch von Intimbeziehungen sprechen.

Diese Intimbeziehungen stehen aber vor dem Dilemma, das dem jeweiligen Gegenüber, die Gedanken, Gefühle, die Anschauungen, Vorstellungen nicht direkt zugänglich sind. In der Nahwelt findet ein Rätselraten statt. Die Kommunikation hängt am seidenen Faden der Liebe – wie diese sich schützt, einen Code entwickelt, um Gespräche und Austausch dennoch möglich, das Gelingen derselben wahrscheinlich zu machen, darum geht es in Liebe als Passion.

2. Kapitel: Als Code bezeichnet Luhmann eine Infrastruktur, eine Grammatik für mögliche Gefühle und wie mit ihnen kommunikativ umgegangen werden kann. Er gibt direkt Beispiele für solche Formen. Totalität als Form besteht kommunikativ gesehen beispielsweise im Anspruch, stets verstanden zu werden. Universalität hingegen will Bezugnahmen, die in Grauzonen operieren, aber mit dem je Angebotenen ausnahmslos improvisieren und operieren, so dass ein Geben und Nehmen ermöglicht wird. Luhmann sieht im Letzteren eine wichtige Immunisierungsstrategie für Liebe.

Soweit es überhaupt um »Geben« geht, besagt Liebe deshalb: dem anderen zu ermöglichen, etwas zu geben dadurch, daß er so ist, wie er ist.

In diesem Sinne erhält alles, was innerhalb der Liebe als Medium geschieht, eine Bedeutung, und jede Bezugnahme auf das Gegenüber wird Information, eine Differenz, wie Luhmann Gregory Bateson zitiert, die einen Unterschied macht. Eine solche Gesprächsführung, oder ein solches Dialogverhalten setzt einen entwickelten Kommunikationscode voraus. Auf welche Weise dieses sich entwickelt hat, will Luhmann nachzeichnen.

3. Kapitel. Er analysiert hierfür die Veränderung der Liebessemantik, wie sie sich in tradierten Kommunikationsformen wie dem Roman oder dem Theaterstück sprachlich ausgewirkt haben. Sie dienen offenkundig zur Etablierung von aufwendigen, hochkomplexen Gesprächssituationen, die durch sie eine Präfiguration erhalten, also in je einzelnen Situationen angewendet, modifiziert, aber als Idealtypus vorgestellt werden können:

Das Wagnis Liebe und die entsprechend komplizierte, anforderungsreiche Alltagsorientierung ist nur möglich, wenn man sich dabei auf kulturelle Überlieferungen, literarische Vorlagen, überzeugungskräftige Sprachmuster und Situationsbilder, kurz: auf eine tradierte Semantik stützen kann. Diese Semantik muß »entsprechende Komplexität« bereithalten.

Literatur versteht Luhmann in diesem Kontext als Paradigma, als Bedingung der Möglichkeit, eine tiefgreifende, ineinander verschränkte Dialogform zwischenmenschlicher Interpenetration zu etablieren, die kommunikative Intimität wahrscheinlicher werden lässt.

4. Kapitel. Luhmann skizziert die grobe Evolution der Liebessemantik von der Höfischen Liebe (Minnesang) über die amour passion der Frühneuzeit bis hin zur romantischen Liebe. Die Liebessemantik dient hier den Individuen wie die Grammatik der Sprache, die nur für die Richtigkeit der Aussagen bürgt, nicht aber sinnvolle Sätze garantiert.

Der Code wird als »Ideologie« (Destutt de Tracy) formuliert, als Zeichensystem für die Steuerung von Imagination, die ihrerseits den Reproduktionsprozeß der Gesellschaft steuert. Und das ermöglicht es jedermann, sich zeitweise mit Vorstellungen von Liebe zu berauschen und eine Existenz als »homme-copie« zu führen unabhängig davon, ob und wie immer einige Auserwählte Höhen und Tiefen der Liebespassion erfahren. Die Endfassung lautet dann, daß jedermann eine copierte Existenz führt und daß dies die Voraussetzung dafür ist, daß man Passionen sich aneignen und genießen kann.

Luhmanns Betrachtungsweise beschreibt die Vorgänge ähnlich wie François de La Rochefoucauld, der in seinen Maximen schreibt:

Es gibt Menschen, die sich niemals verliebt haben würden, hätten sie niemals von Liebe sprechen gehört.

François de La Rochefoucauld aus: „Maximen“ [136]

Ohne diesen Vorgang zu ironisieren, begreift Luhmann darin einen evolutionären Fortschritt. Der Liebescode eröffnet Freiräume, die sich für Gefühle nutzen lassen. Sie erzwingen keine Gefühle, bieten diesen aber Möglichkeiten, sich zu entfalten.

5. – 14. Kapitel. Nachzeichnung der Reflexivwerdung des Liebesdiskurses. Aus einem Reiz-Reaktions-Schema, das Jäger und Beute und Schönheit als vermittelndes Beschreibungsmedium vorsieht, entwickelt sich eine Gleichsinnigkeit und Gleichberechtigung. Der Subjekt-Objekt-Dualismus wird im Verliebtsein durchschritten, indem das Subjekt sich affiziert sieht, erkrankt, ausgeliefert (17. Jahrhundert). Liebe beginnt einen inneren Verwandlungsprozess vorauszusetzen, das weniger Aktivität als Passivität zeugt, d.h. aus Erobern wird Erhört-Werden. Träumend gerät das Individuum außer sich, schwelgt in der Imagination, in der Hoffnung, Sehnsucht nach Erfüllung. Die Impulskontrolle nach innen hin verleiht der Liebe eine Dynamik (das Telos – die Erfüllung; das Jetzt – die Entsagung) und verdrängt eine quasi bis dahin angenommene Natürlichkeit:

Dadurch daß sie Zeit in Anspruch nimmt, zerstört die Liebe sich selbst. Sie löst auch die Eigenschaften auf, die ihre Imagination beflügelt hatten, und ersetzt sie durch Vertrautheit. Eine Schöne erscheint beim zweiten Male schon als weniger schön, und eine Häßliche als annehmbarer. Die Umstellung des Code von Natur auf Imagination setzt, mit anderen Worten, die Liebe der zeitlichen Korrosion aus, und zwar schneller (!), als es der natürliche Verfall der Schönheit bewirken würde. Subjektivierung und Temporalisierung greifen Hand in Hand.

Die Subjektivierung verschiebt aber die Reaktion auf ein Inneres: die Imagination. Zusammenhänge, Geschichten erhalten Bedeutung, und in ihr eine Welt, in der die Liebe Sinn stiftet. Diese Welt erscheint bedrohter, verletzlicher. Die Steigerung der Imagination läuft auf Exzess hinaus, in der das liebende Individuum sich vollends in sich selbst verstrickt und das Lieben liebt oder anders: in Selbstreferenzialität abtrudelt. Bei aller Immunisierungsstrategie bedarf jedoch das vernarrte Individuum Informationen, Hinweise, Anstöße, die es nur vom je ersehnt anderen erhalten kann:

Nicht zuletzt entspricht dem Exzeß ein Versagen aller Begründungen. Etwas Bestimmtes dazu zu sagen, würde dem Stil des Liebens widersprechen. Die Unaussprechbarkeit selbst ist die Begründung. An die Stelle von weiteren Begründungen treten die Beweise (épreuves) der Liebe. Sie beziehen sich nicht auf ihren Grund, sondern auf ihre Faktizität. […] Das Gefühl wirkt wie ein Dauerkatalysator, um den herum sich Formulierungen absetzen, ohne daß das Problem selbst dadurch gelöst werden könnte. Wahre oder falsche Liebe, aufrichtiges oder unaufrichtiges Verhalten – diese Frage gewinnt sowohl durch die Differenz von Code und Verhalten als auch durch die zeitliche Verzögerung der Zielerreichung zentrale Bedeutung.

Aufschub, Zweifel, Imagination erzeugen eine Dauerspannung, der jedoch schnell die Ideen ausgehen können. Luhmann sieht in dieser Selbstvoraussetzung einen Motor, die statischen Vorstellungen vom Individuum zu überwinden. Die Liebenden, um sich weiter und dynamisch, intensiv lieben zu können, benötigen neue Anstöße, neue Anlässe und beginnen auf diese Weise aufeinander einzuwirken, sich gegenseitig zu verändern. Die Selbstreferenzialität geht in einen gebundenen Zustand über – es werden erwartbare unerwartete Informationen getauscht, eingewoben, verarbeitet und miteinander in Beziehung gesetzt. Die Liebe als Gefängnis, das Individuum als Tatsache wird überwunden:

Mit der Metaphorik der Liebe könnte man auch sagen: Die Identität verbrennt im Feuer der Liebe, sie kann sich nur durch Inkonstanz retten. So jedenfalls in der Themenstruktur des Code. Dies ändert sich erst im Laufe des 18. Jahrhunderts. Die Personen werden als änderbar, als entwicklungsfähig, als perfektibel begriffen, und die Liebe dadurch als bestandsfähig, ja schließlich sogar als mögliche Ehegrundlage. Der Zusammenhang bleibt, aber die Vorzeichen kehren sich um; die Unbestimmtheit und Plastizität der Charaktere ermöglicht Beständigkeit in der Liebe.

So schreitet die Begegnungsform vom Jagd-Beute-Schema über das Exzess-Paradoxon der Selbstreferenzialität zum Liebesabenteuer in der Romantik. Das vollentwickelte, sich selbst vertraute, sich selbst überschreitende Subjekt vermag in der Liebessemantik einen dynamischen Zustand zu erhalten, solange es einen strukturellen Grund zur Aufrechterhaltung eines Vertrauen sieht: die Monogamie:

Ungeregelte Möglichkeiten der Betätigung hochgradig plastischer, kulturell formbarer organischer Prozesse würden die funktionale Spezifikation kommunikativer Interaktionen erschweren und höhere Ansprüche in dieser Hinsicht ausschließen. So setzt kapitalintensives Wirtschaften eine hinreichende Absättigung der Primärbedürfnisse in der Gesamtbevölkerung voraus und politische Ordnung eine »Kasernierung« der physischen Gewalt. Es scheint der gleiche Grund zu sein, der es erschwert, wenn nicht ausschließt, höchstpersönliche Beziehungen mit zwischenmenschlicher Interpenetration und Übernahme der Welthaftigkeit des Partners zu verdichten und ins Unwahrscheinliche zu steigern, wenn es den Partnern offensteht, sexuelle Beziehungen zu anderen Personen aufzunehmen.

Hiermit hat Luhmann die Entwicklung bis zur Neuzeit subjektsemantisch nachvollzogen. In den letzten Kapiteln arbeitet er nochmals die Anfordernisse des Liebescodes in der funktional-differenzierten Gesellschaft auf.

15. Kapitel. Standesunterschiede, Traditionen, althergebrachte Paradigmen, Zwangsverheiratung, Sesshaftigkeit gibt es in der modernen Gesellschaft strukturell nicht mehr. Die Gesellschaft als Vorgang, als Prozess, legitimiert sich als autopoietisches System rein funktional. Wer Geld einzahlt, spielt keine Rolle. Hauptsache es fließt. Diese verwaltete Welt, die sich im Verfahren legitimiert, trennt die je sozialen Systeme in persönliche und unpersönliche Bereiche auf.

[Die Kritik] ergibt sich aus sozialstrukturellen Entwicklungen und besteht letztlich darin, daß die moderne Gesellschaft die Unterscheidung von persönlichen und unpersönlichen Beziehungen radikalisiert. Ohne viel Übertreibung kann man sagen, daß in jeder sozialen Beziehung diese Differenz erfahrbar wird: Die unpersönlichen Beziehungen sind »nur« unpersönliche Beziehungen. Die persönlichen Beziehungen werden mit Erwartungen eines auf die Person Abgestimmtseins überlastet, woran sie oft zerbrechen, was aber die Suche danach nur verstärkt und das Ungenügen nur unpersönlicher Beziehungen nur umso deutlicher hervortreten läßt.

Vor diesem Hintergrund wird eine Nahwelt für das Individuum attraktiver, eine Welt, in der das Ich als Ganzes in Erscheinung tritt und nicht parzelliert, in welcher es verschiedenste Aspekte von sich äußert, ohne Gefahr zu laufen, missverstanden zu werden, in der Äußerungen erprobt, erforscht werden können und Anschlussfähigkeit erhalten ohne direkten Funktionsvollzug und   Entscheidungszwang.

Der Code fordert jetzt eine universale Doppelwertung aller Ereignisse unter Führung durch die Differenz persönlich/unpersönlich. Dazu ist Liebe nötig als Ausdifferenzierung einer Bezugsperson, im Hinblick auf die die Welt anders gewertet werden kann als normal; in derer Augen auch der Liebende selbst ein anderer sein kann als normal.

16. Kapitel. In einem letzten Schritt fasst Luhmann den Begriff der kommunikativen Interpenetration schärfer, um ihn von dem Traum der unio mystica abzugrenzen. In seiner Sichtweise handelt es sich bei der Liebe um eine Antwort auf die Komplexität der Gesellschaft, die diese weder vereinfachen, wegdiskutieren, noch unschädlich für die Anforderungsgrade im Alltag machen kann. Das Hintergrundrauschen bleibt. Es fiebert durch die Liebenden. Wie die Zeit, das Altern, die Hoffnung auf Dauer, die Angst vor Verlust. Interpenetration, im Gegensatz zur unio mystica, strebt keine Verschmelzung, sondern eine doppelt gelockerte Kontingenz an: Systeme, die miteinander ein System bilden, als Einheit in einer Einheit:

Die Terminologie der soumission und der complaisance ist nicht mehr adäquat, wenn sie es je gewesen ist. Es geht darum, in der Welt eines anderen Sinn zu finden. Da diese Welt nie unproblematisch ist, kann auch der sie bestätigende Sinn nie unproblematisch sein. Er mag sich den Launen oder Stimmungen des anderen widersetzen. Er mag die Welt des Geliebten durch sein Vorkommen in ihr transformieren. Er muß das Risiko laufen, letztlich nicht zu wissen, was für den anderen gut ist, und sich statt dessen an die Liebe halten.

Mit dieser begrifflichen Fassung endet er mit einem unveröffentlichten Gedicht seines Freundes Friedrich Rudolf Hohl, dem er auch das Buch im Andenken gewidmet hat:

Ein Gesicht vor dem
Einen
keins mehr Sub-ject
nur noch Bezug
unfaßbar
                   und
                                  fest

Friedrich Rudolf Hohl (unveröffentlicht)

Kommunikatives Resümee:

Niklas Luhmanns Text Liebe als Passion beschreibt eine Dialogarchitektur, die sich entwickelt hat, um Intimitäten zu tragen und zu entfalten. Im Hintergrund der Rekonstruktion steht, von Luhmann teilweise nicht direkt angesprochen, die Entzauberung der Welt durch die Aufklärung, die Säkularisierung der Religionen, die Funktionalisierungen der Denk- und Wissensbereiche, aber vor allem die planetare Kartographierung, Erfassung, Katalogisierung der Welt. Viele Denksysteme, bspw. das der Frankfurter Schule rundum Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in Dialektik der Aufklärung oder auch der vermeintliche philosophische Gegenspieler Martin Heidegger in Die Frage nach der Technik, sehen darin einen Grund, eine Notwendigkeit zum Pessimismus:

In der rationalistischen verwalteten Ära, auf die gesellschaftliches Leben sich zubewegt, werden persönliche Beziehungen, die nicht in jeder Einzelheit vom sozialen Mechanismus sich bestimmen lassen, sondern ihm zu widerstehen fähig wären, nicht bloß als gefährlich, sondern als sinnlos erscheinen. Wozu die Freundschaft, wenn jeder Schritt in Freizeit und Beruf, wenn Ziel und Mittel zweckentsprechend vorgezeichnet sind? Liebe hat den Grund verloren. Geschlechtliche Bedürfnisse werden längst vernünftig geregelt sein, ihre Steigerung zur Sehnsucht entbehrt des Motors, wie der Traum vom Schlaraffenland bei den Begünstigten im Wirtschaftswunder.

Max Horkheimer aus: „Notizen“ [Im Zeitalter der Verwaltung]

Für Niklas Luhmann gilt das nicht. Ihm wird in dieser verwalteten Welt die Liebe zu einem freien Abenteuer, die Reise nach Innen und Außen, die zwischenmenschliche, funktional-entlastete Interpenetration, und mit diesem Abenteuer als Antwort auf die Industrialisierung sieht er die Träume der Romantik, der Luhmanns Sympathie gilt, die anfangs des 19. Jahrhunderts sich mit der Suche nach der blauen Blume vom Alltagsstreben abgrenzt, verwirklicht. Statt aber die blaue Blume in einem Fernen, nicht Erreichbaren zu suchen, findet Luhmann sie in allernächster Nähe:

Das setzt zugleich die alte Einsicht fort, daß die Liebe sich ihre Gesetze selbst gibt und zwar nicht abstrakt, sondern im konkreten Fall und nur für ihn. Radikaler als je zuvor wird man konzedieren müssen, daß Liebe alle Eigenschaften auflöst, die für sie Grund und Motiv sein könnten. Jeder Versuch, den anderen zu »durchschauen«, führt ins Bodenlose, in jene Einheit von wahr und falsch, von aufrichtig und unaufrichtig, die sich allen Kriterien entzieht.

In schlichter, spröder Sprache identifiziert Niklas Luhmann in Liebe als Passion inmitten der hochtechnologisierten Funktionsräume der Gesellschaft einen Platz für ein schwelgendes, weit um sich greifendes Welt- und Sinngefühl. Die Freiheit und Beweglichkeit findet bei ihm wie in ihr zwischen den Zeilen oder Funktionskreisen statt. Sein Text endet mit einem Gedicht, mit der Inkommunikabilität des Vertrauens, des Verstehens, des An- und Bedeutens von möglichen, niemals festgelegten, stets spontan entstehenden Sprechakten. Liebe, so Luhmann, bleibt Improvisation, und der Witz, so seine Analyse, besteht darin, fast eine List der Vernunft und Liebe ineins, dass die größten Freiräume in der nüchtern-funktional, fast mechanisch-gezimmerten Industriegesellschaft bestehen.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Außerplanmäßig werde ich ab und zu Klassiker der Interpretationsmodelle besprechen. Bislang erschienen sind

(1): Theodor W. Adorno: „Skoteinos“,
(2): Jacques Derrida: „Gesetzeskraft“,
(3): Franz Kafka: „Der Prozess“,
(4): Moritz Baßler: „Populärer Realismus“,
(5): Byung-Chul Han: „Die Krise der Narration“

in diesem Zuge soll nach und nach sich klären, vor welchem Leseerwartungshorizont meine Besprechungen stattfinden.

Andere aktuelle und Klassiker-Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier.

8 Antworten auf „Niklas Luhmann: „Liebe als Passion““

  1. Grad gestern (ich machte eine systemische Aufstellung) sagte ich zu einer frustrierten Ehefrau in etwa: Immer wieder stelle ich fest, dass viele Männer nicht mal den ersten Buchstaben im Alphabet des sprachlichen Codes beherrschen, durch den sie Frauen glücklich machen könnten. (Der Mann war überzeugt, alles für seine Frau getan zu haben: sexuelle Befriedigung, materielle Sicherheit, guter Vater). Getan – ja. Aber Gefühl und Sprache öffnen? Nein. Schimmerte da, ohne dass es mir bewusst war, Luhmann durch? Diesen Luhmantext kenne ich, glaube ich, nicht, wohl aber andere, deren Lektüre weit weit zurückliegt.

    1. Ich denke schon, zumindest baut Luhmann genau auf deiner Beobachtung auf, dass eben nur die kommunikativen Codes die Welt auf eine Weise gestalten, dass sich beide dauerhaft wohlfühlen, insolange sie an Intimität Interesse haben, die nicht zur bloßen Triebabfuhr gereicht. Hinter all den systemtheoretischen Überbau liegt eine sehr romantische Idee von Zweisamkeit, die gerade das Verbindliche untersucht, das in dieser ermöglicht wird. Ich finde diesen Text immer schwer zugänglich. Er hinterlässt jedoch immer eine gewisse Euphorie und einen sanftmütigen Optimismus, sobald ich ihn beendet habe. Haben dich irgendwelche Texte von Luhmann nachhaltig beschäftigt? Viele Grüße!

  2. Vor dem Beginn meiner Lektüre deines Textes fragte ich mich zweifelnd, ob das hier Kommende vielleicht zu hoch für mein Verständnis werde.
    Aber nein – es ist dir gelungen, die komplexen Überlegungen Luhmanns (an den ich mich nie gewagt habe) für mich verständlich zu vermitteln und – mehr noch – durch deine Zitatauswahl meine Barriere gegenüber dem Original ein Stückchen abzubauen.
    Ich erlebe hier eine spannende Wechselwirkung zwischen deinen und Luhmanns Worten auf mich: fast im Sinne von textlicher Interpenetration bringt Luhmann Klärung, wo mir deine Gedanken zu kompliziert werden und umgekehrt.
    Inhaltlich erlebe ich hier etwas sehr Erhellendes: die nachträgliche Einsicht, wie Liebesbeziehungen gelingen können. Die Erklärung für etwas intuitiv Gelebtes.
    Und zugleich einen Hinweis, warum so viele moderne Lieben scheitern: an der Erwartung, dass sie mit einem Knall sofort funktionieren und anschließend immer so bleiben. Das geht schief, ist vielfach zu beobachten.
    Das lebenslange/liebeslange ständige Suchen, Entdecken, Verändern, Umspielen, Sprechen, Mitfühlen, Missverstehen, Klären, Loslassen, Wiederfinden … ja. Und dazwischen bleibt kaum Energie für Polygamie. Das alles hat nichts zu schaffen mit Besitzdenken, eher mit Tanz.
    Was für eine schöne und bereichernde Lesebesprechung, Alexander. Danke.

    1. Vielen Dank, liebe Ule.

      Es ist mir eine Freude zu lesen, dass meine Mühen etwas fruchten. Diese Besprechung hat sehr viel von mir abverlangt, da der Text hochabstrakt argumentiert und ich auf keine systemtheoretischen Begriffe ohne Weiteres zurückgreifen konnte, ohne vollends unverständlich zu werden. Zudem bleibt die Abstraktionshöhe dermaßen aufrechterhalten, dass ich nur durch Rekapitulieren dem Inhalt etwas auf dem Pelz rücken konnte und mich dabei etwas paraphrasierend empfand. Es scheint aber zumindest nicht völlig entglitten zu sein. Danke fürs Feedback.

      Ja, der Tanz als Metapher, die fasst es gut zusammen. Das ist schön, denn das Eintanzen, Miteinander-Tanzen, das Weitertanzen und Improvisieren beim Tanzen gelingt auch nur über Dauer, Konzentration und durch Aufmerksamkeit, ansonsten tritt man sich schnell auf die Füße, und daraus wird bekanntlich kein Tanz, egal wie gut die Musik ist. Besitzdenken zieht Luhmann gar nicht in Betracht, ihm gilt es einzig um das Schöne, das in einer Liebesbeziehung kommunikative Durchdringung stattfindet, ohne Funktionalisierung, Instrumentalisierung und sonstige extrinsische Motive.

      Ich denke, diese Art zu sprechen, erscheint als real-gelebte Utopie. Es geht immer besser und aufmerksamer, freundlicher und schöner, ohne dabei zu frustrieren. Dass dieser Luhmann das zu schätzen wusste, und auch noch ein Gedicht seines besten Freundes publizierte, als eine Art Zugeständnis des Geheimnisvollen einer jeden Begegnung, rundet das alles ab finde ich.

      Danke dir nochmals für deine Kommentar und dein Wertschätzen! Beste Grüße!!

  3. Das hier noch zu Boyle (dort konnte ich nicht kommentieren):
    Das möchte ich noch ergänzen:
    Wassermusik fand ich vollkommen überdreht!
    World’s End hat mir seeehr gut gefallen, tolles Buch, das ich über Jahre verteilt mehrmals las.
    Sehr gut auch noch America!
    Herzliche Grüße vom Lu

    1. Ja, „Wassermusik“ steht auch noch auf meiner Leseliste. Sein letztes Buch wirkte auf mich etwas zerfahren, aber d.h. ja nicht, dass andere Bücher nicht eine Wucht seine können 🙂 Danke für den Tipp, wiewohl ich noch deine Fantasy-Lese-Tipps auf dem Schirm habe. Viele Grüße!!

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Kommunikatives Lesen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen