Inhaltlich bietet Krieg und Frieden die Entwicklungsläufe verschiedener Figuren, die summarisch darauf hinauslaufen, dass der Altadel bestehen bleibt, der Stadtadel ausgetauscht wird, und die Schönen charakterschwach (Hélène und Anatol) und die Unschönen charakterstark (Marja und Pierre) gezeichnet werden. Reflektorisch behandelt Tolstoi die verschiedenen Formen der Geschichtsphilosophie und kam zu dem entschiedenen Schluss:
Ursachen für historische Ereignisse gibt es nicht und kann es auch nicht geben, außer der einzigen Ursache aller Ursachen. Aber es gibt Gesetze, die die Ereignisse steuern, teils unbekannte, teils von uns zu entdeckende. Die Entdeckung dieser Gesetze ist nur dann möglich, wenn wir uns vollständig davon frei machen, nach den Ursachen im Willen eines einzelnen zu suchen, genauso wie die Entdeckung der Gesetze der Planetenbewegung erst dann möglich wurde, als die Menschen die Vorstellung aufgegeben hatten, die Erde stehe still.
Lew N. Tolstoi aus: „Krieg und Frieden“ [übers. von Barbara Conrad]
Im letzten und abschließenden Teil möchte ich die Fäden zu einem literarisch-kommunikativen Resümee zusammenführen, das die sehr radikale Desillusionierung nachzeichnet, die in Krieg und Frieden ihre Darstellung findet, die öffentliche Welt als heilloses Chaos von Intrigen und Eitelkeiten, das nur im Stillen und Privaten seine Läuterung erfahren kann, nämlich im Stoizismus eines unerschütterlichen Gottesglauben.
Romantische Desillusionierung
Die Hauptfigur von Krieg und Frieden heißt Pierre Besuchow, der illegitime Sohn von Pjotr Kirillowitsch Besuchow, einem Altadligen, der besagten Pierre zu dessen Alleinerben ernennt. Pierre, just aus Frankreich zurückkehrt, benimmt sich wurstig in der aristokratischen St. Petersburger Stadt- und Hofadelgesellschaft, wird mit der von allen Seiten für ihre Schönheit bewunderten Hélene Kuragin vermählt und vermeint, als gehörnter Ehemann, auf ein Duell mit dem ihm körperlich, soldatisch weit überlegenen Dolochow nicht verzichten zu können. Mit Glück übersteht er das Duell und geht zu seinem Erstaunen als Sieger hervor:
Pierre stand mit sanftem Lächeln des Mitleids und der Reue, Arme und Beine hilflos gespreizt, mit seiner breiten Brust direkt vor Dolochow und blickte ihn traurig an. Denissow, Rostow und Neswizki kniffen die Augen zu. In ein und demselben Moment hörten sie einen Schuss und den wütenden Schrei Dolochows.
»Daneben!« schrie Dolochow und ließ sich kraftlos, das Gesicht nach unten, in den Schnee sinken. Pierre griff sich an den Kopf, drehte um und lief in den Wald, stapfte durch den unberührten Schnee und redete laut unverständliche Worte.
»Dumm … dumm! Tod … Lüge …« sagte er immer wieder stirnrunzelnd. Neswizki hielt ihn an und brachte ihn nach Hause.
Die Erfahrung des Duells und der Gewalt sitzen tief. Er trennt sich von seiner Frau, sucht Sinn in der Sinnlosigkeit, gerät in die Fänge der Freimaurer, schützt die junge Natascha vor dem Schwerenöter Anatol Kuragin und rettet, nachdem er die blutrünstige Schlacht bei Borodino bezeugt und sich vorgenommen hat, Napoleon zu assassinieren, im brennenden, von den napoleonischen Truppen besetzten Moskau, ein Kind aus den Flammen und gerät hierdurch in Gefangenschaft. Bei einer Hinrichtung, die den Eindruck der Sinnlosigkeit von Gewalt nach dem Duell und der Schlacht bei Borodino verschärft, wird Pierre das letzte Fünkchen Sinn genommen, das er bislang noch im trägen Winkel seines Gemüts versteckt gehalten hat:
Von dem Augenblick an, als Pierre dieses schreckliche Morden angesehen hatte, begangen von Menschen, die das nicht tun wollten, schien plötzlich die Feder, die doch alles gehalten hatte und lebendig wirken ließ, aus seiner Seele herausgerissen, und alles war zusammengefallen zu einem Haufen sinnlosen Schutts. Obgleich er sich darüber keine Rechenschaft ablegte, der Glaube in ihm an eine wohlgeordnete Welt, an die menschliche, an seine Seele und an Gott war vernichtet.
Nach wochenlanger Gefangenschaft, Flucht, erlebt er wie sein Kamerad Platon Karatejew vor Schwäche zusammenbricht und von einem französischen Soldaten hingerichtet wird, er wird aber befreit, kehrt zurück, hört, dass seine Frau Hélène, wahrscheinlich in Folge eines schief gegangenen Schwangerschaftsabbruches, Selbstmord begangen hat, und findet in aller Ruhe und Desillusion schließlich zu Gott und heiratet, die nun auch gläubig gewordene Natascha:
Er konnte kein Ziel haben, weil er jetzt den Glauben hatte – nicht den Glauben an irgendwelche Regeln oder Wörter oder Gedanken, sondern den Glauben an einen lebendigen, immer fühlbaren GOTT. Früher hatte er IHN in Zielen gesucht, die er sich setzte. Dieses Suchen eines Ziels war nur die Suche nach GOTT; und plötzlich hatte er in seiner Gefangenschaft nicht durch Worte oder Überlegungen, sondern mit dem unmittelbaren Gefühl das erfahren, was ihm schon vor langem seine Kinderfrau gesagt hatte: dass GOTT hier ist, gerade hier, überall. [Hervorhebung durch Tolstoi]
Diese durchlaufende Desillusion markiert Krieg und Frieden an allen männlichen Figuren, die sich die Hörner ihres Heroismus abstoßen, meist mit Folge ihres vorzeitigen Ablebens: Petja Rostow, der unvorsichtig, voller Überschwang in ein Französisches Lager eindringt; Andrej, der in den Schlachten knapp mit dem Leben davon kommt, aber um Rache an Anatol zu üben, wieder in den Krieg zieht und tödlich verwundet wird; Anatol selbst, der in selbiger Schlacht alleine krepieren muss; Nikolai, der auf einer mit Kanonen beschossenen Brücken erfährt, dass er nicht mutig, sondern feige ist; und nicht zuletzt Napoleon selbst, der als geschlagener Moskau verlassen muss, desillusioniert und am Ende seiner militärischen Kräfte. Die Gewalt, die Politik, das öffentliche Leben, die Zeremonien, sie alle werden in Krieg und Frieden als heuchlerische Kräfte benannt und beschrieben.
Auktorialer Mythenzermalmer
Krieg und Frieden lässt sich als Paradigma des auktorialen Erzählens bezeichnen. Die Erzählinstanz weiß stets mehr als seine Figuren. Sie wertet, urteilt, rafft und verdichtet, stellt Zusammenhänge her und überlagert, parallelisiert Bilder und Szenen zu einem dichterischen Eindruck, ohne dass, und dies ist der entscheidende Aspekt, die Erzählinstanz herablassend, großzügig oder süffisant-gnädig gegenüber seinen Figuren erscheinen würde. Das gelingt durch die reflektorischen Passagen, in denen die erzählende, komponierende Instanz sich einerseits den schwierigen geschichtsphilosophischen Begründungszusammenhängen und andererseits dem überlieferten, zur Debatte stehenden historischen Material stellt, d.h. die Zurechenbarkeit als reflexive, sachvermittelnde, überschauende, kontextualisierende Kraft wird in Krieg und Frieden gestärkt, genau eben durch die Passagen, die meist dem lektorierenden Zugriff in Neuausgaben zum Opfer fallen.
Nicht etwas allein ist Ursache. All das ist nur das Zusammentreffen jener Bedingungen, unter denen sich jedes organische, elementare Geschehen des Lebens vollzieht. Und der Botaniker, der herausfindet, dass der Apfel fällt, weil sich sein Zellgewebe zersetzt und ähnliches mehr, hat genauso recht und genauso unrecht wie das Kind, das unten steht und behauptet, der Apfel sei gefallen, weil es ihn essen wollte und darum gebeten habe. Genauso recht und unrecht hat auch derjenige, der behauptet, Napoleon sei nach Moskau gezogen, weil er es gerne wollte, und untergegangen, weil Alexander seinen Untergang wollte: genauso recht und unrecht hat derjenige, der behauptet, dass ein untergrabener Berg, der Millionen Pud schwer war, nur einstürzte, weil der letzte Arbeiter ein letztes Mal den Keil unter ihn getrieben hatte.
Die Erzählinstanz in Krieg und Frieden, die durch seine Zeit überspannende Perspektive die Deutungshoheit unweigerliche besitzt, weist diese durch reflektierende, sich selbst in Frage stellende Erörterungen zurück. Er öffnet die Situation, begibt sich in die Details, in die Mikroskopie der Lebenswege und Lebensstadien der einzelnen Figuren und arbeitet aus ihnen einen Gesamteindruck heraus, der vielschichtig, multiperspektivisch, kybernetisch und emergent nur im Unendlichen seine Konvergenz zu finden scheint: die des Unbewegten ersten Bewegers. In dieser Selbstbescheidung findet die auktorial sich emporschwingende Erzählinstanz ihre Brechung und Krieg und Frieden wird zu einer Art Läuterungsprozess gegen selbstherrliches Menschentum, Eitelkeit, Ruhm- und Geltungssucht. Paradebeispiel bleibt für ihn Napoleon Bonapartes Werdegang:
Jenes Ideal von Ruhm und Größe, das darin besteht, nichts, was man selbst tut, für schlecht zu halten, sich vielmehr mit jeglichem eigenen Verbrechen zu brüsten, indem man ihm [einem Gräueltaten begehenden Menschen ohne Überzeugung, Sitte und Tradition] eine unbegreifliche übernatürliche Bedeutung zuschreibt – dieses Ideal, das diesen Mann [Napoleon] und die mit ihm verbundenen Menschen leiten soll, in Afrika wird es hemmungslos ausgearbeitet. Alles, was er macht, gelingt ihm. Die Pest befällt ihn nicht. Die Grausamkeit der Ermordung seiner Gefangenen wird ihm nicht angelastet. Seine kindisch-unvorsichtige, grundlose und unedle Abreise aus Afrika, weg von seinen Kameraden in Not, rechnet man ihm als Verdienst an, und wieder lässt ihn die feindliche Flotte zweimal durch.
Napoleon und mit ihm alle, die sich als Persönlichkeiten und Herrschende über ihre Mitmenschen aufwerfen, geraten in Krieg und Frieden in die narrativen Mühlen der Sinnlosigkeit. Tolstoi verwendet die auktoriale Erzählinstanz als Alleszermalmer und fürchtet weder Logik noch Argument noch Fakten noch Dokument. Nach über zweitausend Seiten wird alles über den Vaterländischen Krieg als Hohn und Spuk zurückgelassen, als blutrünstiges Treiben, demiurgisches Schalten und Walten einer Teufelsmaschine. Tolstois Krieg und Frieden stellt sich hiermit komplementär an die Seite von George Eliots Middlemarch, die diese Erzählperspektive nutzt, um minutiös die leisesten und stillsten Gemütsregungen nachzuzeichnen, die ohne Krieg, Mord und Totschlag doch zu ähnlichen Ergebnissen in der englischen Idylle des Lebens in der Provinz kommt:
[Dorothea Brookes] empfindsamer Geist hatte noch immer seine vielen Auswirkungen, auch wenn sie nicht groß zu erkennen waren. Ihre warmherzige Natur ergoss sich wie der Fluss, den Kyros zerteilte, in Kanäle, die keinen bedeutenden Namen tragen. Doch die Wirkung ihres Daseins auf ihre unmittelbare Umgebung war unberechenbar vielfältig, denn das Wohl der Welt hängt zum Teil von unheroischen Taten ab, und dass alles um uns nicht so schlecht steht, wie es könnte, verdankt sich zum Teil der Zahl jener, die gewissenhaft im Verborgenen lebten und in vergessenen Gräbern ruhen.
George Eliot aus: „Middlemarch“
Was Pierre in Tolstois Krieg und Frieden ist, ist Dorothea Brooke in Eliots Middlemarch. Beide durchlaufen Läuterungsprozesse, beide widerstehen faustischen Dialogen und mephistophelischen Verlockungen, beide erkennen mutig ihre Grenzen und Möglichkeiten und Sehnsüchte an und richten ihr Leben danach aus. Wie in Krieg und Frieden, wie bei Tolstoi überhaupt, so bekommt auch bei Eliot das Leben in der Provinz einen Glanz, das Farmen, das Säen, das Unkraut-Pflücken, den Sinn der über den Sinn enthebt und das Leben in der ganzen Pracht erblühen lässt, im winzigen, alltäglich erscheinenden Detail. Die Reflexions- und Erzählebene doziert nicht. Sie begleitet, sie rüttelt wach, sie bietet an. Tolstoi hatte viel vor mit Krieg und Frieden:
»Was ist Krieg und Frieden? Krieg und Frieden ist kein Roman, noch weniger ein Poem, und noch weniger eine historische Chronik. Krieg und Frieden ist das, was der Autor ausdrücken wollte und konnte, in der Form, in der es ausgedrückt ist. […] Der Kern dessen, was ich sagen wollte, besteht darin, dass dieses Werk kein Roman ist und auch keine Erzählung [… und] dass es keine Auflösung haben wird, mit der jedes weitere Interesse zerstört würde.«
Lew N. Tolstoi aus: „Vorwort zu ‚Krieg und Frieden‘ 1868“
Wenige auktorial erzählten Texte vermögen diese Perspektive zur Öffnung und Dynamiksteigerung zu verwenden. Auktoriales stellt meist still, bringt Kritik zum Schweigen, stellt sich allein in die Deutungshoheit und verfügt, oft maliziös, über die eigenen Figuren. Eliot und Tolstoi stellen das Gegenteil von diesem Verfahren dar. Sie verwenden die auktoriale Erzählung, um das Erzählen selbst zu beleben, es näher an die Figuren heranreichen zu lassen, um ihnen einen selbständigen Atem einzuhauchen, und zwar indem die Erzählinstanz sich in ihre eigenen Schranken verweist. In dieser Rahmung des Erzählens, mag es um das Leben in der Provinz und dem Widerstehen gegen die Versuchung des Lügens und Betrügens oder um einen Europa umspannenden dynastischen Krieg und das Widerstehen gegen Kriegsdemagogik und Kriegsverklärung gehen, vermittelt schließlich diese Erzählweise das Vertrauen, dass Erfahrung weitergegeben und aus ihr gelernt werden kann, und öffnet, ja reißt eine Lücke in dem allzu dicht gewebten Weltanschauungsgeflecht, das allerortens allzuleicht in hybrishafte Selbstgefälligkeit umzuschlagen weiß.
Nächste Woche am 13.05.2025 auf Kommunikatives Lesen werde ich Christoph Heins DDR-Chronologie Das Narrenschiff vorstellen.
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