Brigitte Reimann: „Franziska Linkerhand“

Franziska Linkerhand
Paradigma eines freien, befreiten Erzählens …

Franz Kafka hat den größten Teil von seinem fast beendeten Roman Das Schloß in der Ich-Perspektive geschrieben und danach, per Hand, in seinem Manuskript in die Er-Perspektive umgeschrieben. Die Streichungen lassen sich in den Originalabschriften einsehen. Die Entscheidung zeigt den wesentlichen Aspekt auf, den die Erzählperspektive im Medium Roman innehat. Brigitte Reimann hat eine außergewöhnliche Wahl für ihren ebenfalls nur beinahe beendeten Roman Franziska Linkerhand gewählt:

„Da hast du [Franziskas Bruder Wilhelm] ja Glück gehabt“, sagte Franziska kalt… in diesem Augenblick verachtete ich ihn, einen Heuchler und Feigling, der sich für seinen Freund nicht engagieren wollte. Ich wäre lieber nobel gestorben… Mit siebzehn ist man ein strenger Richter über andere, und man urteilt hart, prinzipientreu; selbst ungeprüft, prüfte ich meinen Bruder.

Brigitte Reimann aus: “Franziska Linkerhand”
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Werner Bräunig: „Rummelplatz“

Rummelplatz
… den aufrechten Gang einüben … Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2007

Der einzige, jedoch nicht fertiggestellte Roman Werner Bräunigs, Rummelplatz, erschien erst 2007, also lange nach dem Ende der DDR und somit auch nach seinem Tod. Er verschied nämlich bereits mit nur 42 Jahren am 14. August 1976. Rummelplatz ein Fragment zu nennen, wäre dennoch irreführend. Es lassen sich aus den Manuskripten in sich geschlossene Versionen kompilieren. Oft wird Rummelplatz dennoch nur im Zusammenhang mit der Kulturpolitik der DDR genannt, als Beispiel, wie der Staatsapparat vom 18. Dezember 1965 an, freie Meinungsäußerung und einen kritischen Kulturbetrieb bewusst und explizit immer mehr zu unterbinden versucht hat. Im Folgenden nun aber eine detaillierte literarische Begegnung. Bräunigs Rummelplatz als Roman und nicht als Symptom gelesen. Er beginnt mit dem Satz:

Die Nacht des zwölften zum dreizehnten Oktober schwieg in den deutschen Wäldern; ein milder Wind schlich über die Äcker, schlurfte durch die finsteren Städte des Jahres vier nach Hitler, kroch im Morgengrauen ostwärts über die Elbe, stieg über die Erzgebirgskämme, zupfte an den Transparenten, die schlaff in den Ruinen Magdeburgs hingen, ging behutsam durch die Buchenwälder des Ettersberges hinab zum Standbild der beiden großen Denker und den Häusern der noch größeren Vergesser, kräuselte den Staub der Braunkohlengruben, legte sich einen Augenblick in das riesige Fahnentuch vor der Berliner Universität Unter den Linden, rieselte über die märkischen Sandebenen und verlor sich schließlich in den Niederungen östlich der Oder.

Werner Bräunig aus: “Rummelplatz”

Der nächste Satz lautet nun direkt, die ganze Stimmung und Färbung des Romans vorwegnehmend:

Es war eine kühle Nacht, und die Menschen in den schlecht geheizten Wohnungen fröstelten.

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