Christine Wunnicke: „Wachs“

Wachs von Christine Wunnicke. Longlist Deutscher Buchpreis 2025.

Erbauungsliteratur zeichnet sich durch einen eher rhapsodischen, teilweise verträumten, hoffnungsvollen Stil aus. Sie gleitet, sobald sie sich vom religiösen Hintergrund trennt, leicht in das Märchengenre hinein, um dort eine gewisse Zeitlosigkeit als Schutzzone zu etablieren. Heute erscheinen seltener religiöse Texte wie Angelus Silesius‘ Cherubinischer Wandersmann sichtbar auf den Markt als eher biographische Selbstreflexionen, wie bspw. in Helga Schuberts Der heutige Tag oder Stephan Schäfers 25 letzte Sommer. Eher wissenschaftlicher, als spirituell orientiert, gibt es dann Texte wie Alan Lightmans Und immer wieder die Zeit oder John Streleckys Das Café am Rande der Welt, die große Erfolge laut Verkaufszahlen erzielt haben. Christine Wunnicke setzt sich in diese Tradition und beschreibt in Wachs das Schicksal zweier Wissenschaftlerinnen im Paris des 18. Jahrhundert:

Madeleine wandte sich zu ihr und blickte auf sie hinunter. Marie war ein sehr kleines Geschöpf, in ihrem zu großen Mantel. Nach kurzem Zögern legte Madeleine beide Hände auf ihre Schultern. »Als Sie mir Ihre Zeichnungen zeigten«, sagte sie mit Bedacht, »sah ich Skizzen für ein Küchenstück. Ich wollte sagen: Marie, es ist aus der Mode, derartig Fleisch zu malen. Man tat das vor einem halben Jahrhundert. Man tat das in Holland. Man tut es nicht mehr, zumal in Paris. Es ist zu dick und zu rot für unseren Geschmack. Wir lieben das Filigrane. Das wollte ich sagen. Ich erkannte nicht, was es war. Ich bin Ihre Lehrerin nicht.«
Christine Wunnicke aus: „Wachs“

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