Erbauungsliteratur zeichnet sich durch einen eher rhapsodischen, teilweise verträumten, hoffnungsvollen Stil aus. Sie gleitet, sobald sie sich vom religiösen Hintergrund trennt, leicht in das Märchengenre hinein, um dort eine gewisse Zeitlosigkeit als Schutzzone zu etablieren. Heute erscheinen seltener religiöse Texte wie Angelus Silesius‘ Cherubinischer Wandersmann sichtbar auf den Markt als eher biographische Selbstreflexionen, wie bspw. in Helga Schuberts Der heutige Tag oder Stephan Schäfers 25 letzte Sommer. Eher wissenschaftlicher, als spirituell orientiert, gibt es dann Texte wie Alan Lightmans Und immer wieder die Zeit oder John Streleckys Das Café am Rande der Welt, die große Erfolge laut Verkaufszahlen erzielt haben. Christine Wunnicke setzt sich in diese Tradition und beschreibt in Wachs das Schicksal zweier Wissenschaftlerinnen im Paris des 18. Jahrhundert:
Madeleine wandte sich zu ihr und blickte auf sie hinunter. Marie war ein sehr kleines Geschöpf, in ihrem zu großen Mantel. Nach kurzem Zögern legte Madeleine beide Hände auf ihre Schultern. »Als Sie mir Ihre Zeichnungen zeigten«, sagte sie mit Bedacht, »sah ich Skizzen für ein Küchenstück. Ich wollte sagen: Marie, es ist aus der Mode, derartig Fleisch zu malen. Man tat das vor einem halben Jahrhundert. Man tat das in Holland. Man tut es nicht mehr, zumal in Paris. Es ist zu dick und zu rot für unseren Geschmack. Wir lieben das Filigrane. Das wollte ich sagen. Ich erkannte nicht, was es war. Ich bin Ihre Lehrerin nicht.«
Christine Wunnicke aus: „Wachs“
Inhalt/Plot:
Wachs handelt von Marie Marguerite Bihéron (1719 – 1795) und ihrer Lebenspartnerin Madeleine Basseporte (1701 bis 1780), beide historisch verbürgte Persönlichkeiten ihrer Zeit. Bihéron erarbeitete sich einen Namen als Anatomikerin und Herstellerin von Wachsorganen und Madeleine als Zeichnerin und Illustratorin für Flora und Fauna. Wunnicke lässt nun ihren Roman auf zwei Zeitebenen spielen, in einer vor- und nachrevolutionären Zeit. In der nachrevolutionären liegt Marie, mit dem Leben abgeschlossen, in einer Bruchbude in Paris und verfolgt die Ereignisse nach 1789 nur noch aus Tageszeitungen und durch ihren Freund und Pfleger Edmé Cantegrit, bis sie es nicht mehr aushält, auf den Tod zu warten, und wieder in die Stadt hinauszieht:
Der Leiterwagen quälte sich durch den Schlamm. Es hatte geregnet und gegraupelt. Jetzt schien die Sonne. Der neue November war wie der alte April. Die Reise in diesem Karren, fand Marie, fühlte sich an, als rutschte man vor jedermanns Augen auf dem Hintern durchs Quartier Sainte-Geneviève. Sie sah alles von unten, lauter Hosen und Röcke. Viel los war in diesem Quartier. Es war hier immer lebhaft gewesen, und lebhaft war es auch heute. Noch immer? Schon wieder? Summa summarum schien alles beim Alten. Alle da. Niemand fehlte. Niemand saß in einem Häuschen hinter seinem Haus und fürchtete sich. Ich bin, dachte Marie, der größte Hasenfuß von Paris.
Die revolutionären Gewaltereignisse haben Marie in die Isolation getrieben. Das Schafott, die Hinrichtungen, das Gebrüll, die marodierenden Massen nahmen ihr den ganzen Lebensmut, weshalb sie eines Tages alle Besitztümer der Familie Cantegrit übergab und auf einer ärmlichen Liege jahrelang auf das Ende ihrer Zeit wartete. Das aber nicht kam. Ganz anders agiert Marie sechzig Jahre zuvor, als sie mit vierzehn Jahren draufgängerisch in die Kaserne der Schwarzen Musketiere eindringt, sich durch die Gänge zum Generalmajor kämpft, um diesen dort, um eine Leiche zum Sezieren zu bitten:
Die Augen des Mädchens hafteten nur an dem älteren Offizier. Er war aufgestanden. Mit gerunzelten Brauen stand er wortlos über ihr. Sie legte den Kopf in den Nacken, schluckte und hielt eine Rede. »Ich möchte bitte eine Leiche kaufen, so Sie eine für mich haben. Das Geld trage ich bei mir, ich kann gleich bezahlen, so es denn nicht allzu teuer ist, und meine Mutter heißt es gut. Ich würde auch gerne, falls das möglich und erschwinglich ist, eine Subskription anmelden, für den ganzen Herbst und Winter und die ganze Zeit, bis es wieder warm wird. Ich würde die erste morgen abholen lassen.«
Marie wird nicht nur in der Kaserne für bizarr gehalten, auch ihre Zeichenlehrerin, Madeleine, weiß zuerst nicht viel mit ihr anzufangen. Eigensinnig und eigenbrötlerisch schleppt sich Marie durch den Zeichenunterricht, den Madeleine gibt, um Geld für sich und ihre Mutter zu verdienen. Madeleine hat zuerst nicht viel Verständnis für Maries grobem Stil mit allzu dicken Umrisslinien, die eher das Prinzip des Bildes als das Bild selbst nachahmen. Bald aber findet Madeleine heraus, dass Marie mit denselben beruflichen Herausforderungen wie sie konfrontiert ist, sich nämlich in einer Welt durchsetzen zu müssen, die ihnen als Frauen sehr enge Spielräume setzt. Eine enge Freundschaft entsteht, die in Wunnickes Roman, zu einer Liebesbeziehung wird:
Madeleine nickte verlegen. Sie ließ die Türklinke los und folgte Marie zurück in die zerstörte Apotheke. Marie klopfte die grüne Chaiselongue für sie aus und brachte Wasser. Es schmeckte nach Nelkenöl. Madeleine trank es aus und wollte mehr, ihr Mund war trocken, ihr schwindelte. Reglos ließ sie geschehen, dass Marie die Bänder ihrer Haube aufknotete und ihr die Haube vom Kopf nahm. »Danke«, sagte Marie. Sie nahm eine Locke vorsichtig zwischen zwei Finger und begutachtete sie. Die kleine Zornesfalte zwischen ihren Brauen erschien und verschwand. Sie studierte Madeleines Locke mit Andacht.
Mit sehr viel Sensibilität zeichnet Wunnicke in Wachs die Freundschaft und Liebesbeziehung zwischen den ungleichen Frauen nach. Im Stoffbereich Liebe/Freundschaft angesiedelt, erhält ihr Roman eine Dynamik durch das Verhängnisvolle Durcheinander. Es besitzt amorös-strukturelle Ähnlichkeiten zu Julia Josts Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht und besitzt vom Ton her eine Verwandtschaft zu, fast noch im Mittelalter steckenden, Märchen von Stefanie vor Schulte Junge mit schwarzem Hahn.
Vollständige Inhaltsangabe mit Spoilern hier.
Stil/Sprache/Form:
Stil und Erzählform lassen sich als poetisch-beschwingt, atmosphärisch und tragend bezeichnen. Wunnicke wählt ein romantisches Genre, nämlich das Märchen, das sich in der geschichtlichen Welt entfaltet. Novalis beschreibt dies in seinen Magischen Fragmenten im Abschnitt: Zur Theorie des Märchen, wie folgt:
Wird eine Geschichte ins Märchen gebracht, so ist dies schon eine fremde Einmischung. Eine Reihe artiger und unterhaltender Versuche, ein abwechselndes Gespräch, eine Redute sind Märchen. Ein höheres Märchen wird es, wenn, ohne den Geist des Märchens zu verscheuchen, irgend ein Verstand (Zusammenhang, Bedeutung etc.) hinein gebracht wird. Sogar nützlich könnte vielleicht ein Märchen werden.
Novalis aus: „Aphorismen“
Exakt diesen Versuch unternimmt Wunnickes Erzählinstanz, indem sie die Vorgänge und Zusammenhänge des beruflichen Werdegangs der beiden Frauen mit dem mystischen Zusammensein und der abenteuerlichen Entdeckerfreude verknüpft. Beide, Marie und Madeleine, träumen halb, visionieren, kämpfen und finden stets irgendeinen Ausweg aus der finanziellen und sozialen Drangsal. Sie halten durch, bis ihr Umfeld aufgibt, sie akzeptiert und sich mit ihren Expertentum zu arrangieren beginnt:
Mit Damen, Musketieren, Kammerherr und Leclerc stand Madame d’Étiolles dann plötzlich im Zeichensaal. Darin befanden sich Madeleine, die am großen Tisch eine morgenländische Ranunkel zeichnete, drei ihrer Mädchen, die Gestrüpp zerrupften als Teil ihres Tagwerks, und, am Katzentisch in der Ecke, Marie. Sie steckte soeben den Finger in eine Schlagader aus duftendem Bienenwachs.
»Frauen«, sagte Madame d’Étiolles. Es kam ausdruckslos heraus, eine Feststellung, weder Tadel noch Lob. Dennoch vertrieb es den Intendanten. Er stellte der Besucherin niemanden vor. Rückwärts nahm er Abstand, murmelte eine Entschuldigung und glitt aus der Tür.
Das Angerissene, nur Skizzenhafte, die schnellen Handlungsumschwünge, die fast völlig ausbleibende Psychologie verorten Wachs klar in den Bereich des Märchens und des Traums. Es liest sich leicht und widerständig, ja bizarr und eigenbrötlerisch wie die Figuren selbst, aber stets im konsistent gehaltenen Ton und durchgängig aufrechterhaltener narrativer Intensität. Wunnicke intoniert eine Begleitmusik zu den Ereignissen, die zu der Französischen Revolution führen, zu der Aufklärung, zu den Figuren des Jean-Jacques Rousseaus und des Denis Diderot. Sie führt insofern aus, was Ernst Bloch in Erbschaft dieser Zeit als das eigentliche Wesen des Märchen bezeichnet hat:
Derart sind diese Märchen der Aufstand des kleinen Menschen gegen die mythischen Mächte, sie sind die Vernunft Däumlings gegen den Riesen. Erstes schweifendes Wesen schlägt hier Raum für ein anderes Leben als das, wohin man hineingeboren oder, gebannt, hineingeraten war. Statt Geschick beginnt eine Geschichte, Aschenbrödel wird Prinzessin, das tapfere Schneiderlein holt die Königstochter. Wo das geschieht, steht dahin, es schwebt ebenso wie die Zeit, worin der Triumph geschehen wird.
Ernst Bloch aus: „Erbschaft dieser Zeit“
Kommunikativ-literarisches Resümee:
Insgesamt zeichnet eine hohe Verträumtheit Wunnickes Kurzroman aus. Von dieser Warte aus gesehen gesellt Wachs sich zu Romanen wie Henri Alain-Fourniers Der große Meaulnes oder besagtes Junge mit schwarzem Hahn. In seiner Kürze und Sachgebundenheit besitzt er jedoch fast eher Stundenbuch-Charakter und die Note einer wissenschaftlich-inspirierten freien Reflexionsassoziation wie bei Alan Lightmans Und immer wieder die Zeit:
Einen Tag vor dem Ende [der Welt] sind die Straßen von lachenden Menschen erfüllt. Nachbarn, die nie miteinander gesprochen haben, grüßen sich wie Freunde, legen ihre Kleider ab und baden in den Brunnen. Andere springen in die Aare. Nachdem sie bis zur Erschöpfung geschwommen sind, liegen sie im dichten Ufergras und lesen Gedichte. Ein Rechtsanwalt und eine Postbeamtin, die einander nie zuvor begegnet sind, gehen Arm in Arm durch den Botanischen Garten, betrachten lächelnd die Alpenveilchen und die Astern und diskutieren über Kunst und Farbe. Was hat ihre bisherige gesellschaftliche Stellung noch für eine Bedeutung? In einer Welt, die nur noch einen Tag vor sich hat, sind sie gleich.
Alan Lightman aus: „Und immer wieder die Zeit“
Lightman assoziiert und imaginiert um Albert Einstein und Michele Besso herum, wo Wunnicke um Marie und Madeleine einen Diderot und Rousseau streifen lässt. Sie füllen beide die Leerräume der Möglichkeiten mit Utopie und Fröhlichkeit auf, indem sie eine Welt zeichnen, die für Liebe, Freundschaft und Abenteuerlust Spielraum lässt. Marie und Madeleine umgibt eine Art Schutzzone, eine Unzerstörbarkeit, die von Anfang an das Lesen beruhigt. Zu renitent, zu wild, zu zielorientiert handeln beide, als dass das Unbill durch die anderen tief in sie einzudringen vermöchte. Sie gehen unbeirrt ihren Weg, und diese Unbeirrbarkeit gestaltet Wunnicke in ihrer kompromisslos verdichteten Erzählweise:
Meine Frau macht neuerdings Menschen, schrieb Madeleine Basseporte an Linné. Ein ständiges Schauerstück ereignet sich hier. »Es gipse, wer gipsen will«, sprach Marie, dann begann sie zu kneten und zu schnitzen. Sie braucht dafür nicht einmal ein Modell. Sie kann es aus dem Gedächtnis. Alles, was der sterblichen Hülle innewohnt, befindet sich in ihrem Kopf. Sie verschönt es dort drinnen. Sie nimmt das Kranke fort, das Faule, das Gestorbene, dann gibt sie ihre Liebe hinzu und macht alles heil. Sie besiegt den Tod en passant, wenn sie bossiert, und erschafft von allem das Prinzip.
Leider verdichtet Wunnicke teilweise zu sehr und springt auch etwas weit von Moment zu Moment, beinahe als eine Goethische Antithese zu seinem im Faust stehenden „Verweile doch [Augenblick]! Du bist so schön!“. Wunnicke hingegen verweilt nicht. Sie treibt die Erzählung schnell und kompromisslos weiter, vielleicht durch das allzu enge Korsett einer historisch fundierten Nacherzählung. Was aber hierdurch entsteht, eine Art historisch-botanisches Gewebe an Möglichkeiten in einer Zeit vor dem großen Umbruch, die scheinbar mehr Spielräume geboten hat, als die lange Zeit danach. Ein eigenes Fragezeichen, das dort Christine Wunnicke aufzeigt und andeutet, wenn sie Marie 1793 durch ein von der Revolution zerstörtes Leben und Paris humpeln lässt.
tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung, aber mit detaillierter Inhaltsangabe findet sich hier.
Andere (mir bekannte) Rezensionen: Zeichen&Zeiten
Nächste Woche am 23.09.2025 auf Kommunikatives Lesen werde ich dann einen Roman von der veröffentlichten Shortlist des Deutschen Buchpreises vorstellen.
Die Kurzversion findet sich bald hier und auch andere aktuelle Kurzrezensionen.

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