Salman Rushdie: „Die elfte Stunde“

Die elfte Stunde von Salman Rushdie. Spiegel Belletristik Bestseller 2025.

Salman Rushdies Erzählstil wird gemeinhin zum magischen Realismus gerechnet. Dieser zeichnet sich durch eine harte Sehschärfe auf das Alltägliche aus, das eigenartig geheimnisvoll gebrochen mit Elementen des Traumes, des Unbewussten und/oder Phantastischen versetzt wird, ohne die homogen-stabile Erzählweise jedoch zu unterbrechen. Die beschriebenen Figuren erleben in diesem Sinne Wunder und Absurditäten als Elemente des Normalen. Andere bekannte Titel aus diesem Genre lauten Wir sehen uns im August (Gabriel García Márquez ) oder Hundert Jahre Einsamkeit, Die Blechtrommel (Günter Grass) oder Die Wand (Marlen Haushofer). Die Erzählungen in Die elfte Stunde unterstützen diese Sichtweise. Rushdie durchbricht in jedem der fünf Erzählungen die Normalität mit abstrusen, unheimlichen Vorkommnissen:

Als er merkte, dass er wahrgenommen wurde, schien er überrascht – ja, das auf jeden Fall –, wirkte aber auch liebenswert und freundlich. [Die indische Studentin] setzte sich zu ihm an die andere Seite des kleinen Tisches, konnte jedoch nichts sagen. Der Geist sagte auch nichts. Ihre Wortlosigkeit fand sie allerdings weder beängstigend noch unbehaglich. Eigentlich, erzählte sie später, sei es mit ihm sogar sehr angenehm gewesen. »Ich dachte, es – er – hat sich gefreut, gesehen zu werden«, sagte sie. »Er wirkte erleichtert.«
Salman Rushdie aus: „Die elfte Stunde“

Inhalt/Plot:

Die elfte Stunde umfasst fünf Erzählungen:

  1. „Im Süden“: Zwei pensionierte alte Männer, Junior und Senior, streiten sich täglich und allmorgendlich über dieses und jenes;
  2. „Die Musikerin von Kahani“: Eine indische Sitar-Spielerin, Kind eines Mathematiker-Ehepaares, gewahrt der gefährlichen und zerstörerischen Möglichkeiten ihrer Musik;
  3. „Saumselig“: Ein College-Ehrenfellow und britischer Schriftsteller erwacht als Geist und gibt sich einer indischen Studentin zu erkennen.
  4. „Oklahoma“: Ein indischer Schriftsteller drängt sich einem US-amerikanischen Schriftsteller-Ehepaar auf; und
  5. „Der alte Mann auf der Piazza“: Ein alter Mann verbringt sein Leben damit, den Menschen auf einem Marktplatz zuzusehen und zuzuhören, und bezeugt das langsame Sterben der Sprache.

Das Personal aus den fünf Erzählungen erscheint als kohärent und konform und entstammt grundsätzlich aus dem akademischen oder Kunst- und Kulturbereich. Einzige Ausnahme bildet der alte Mann in der letzten Erzählung, der gar keinen Beruf und gar keinen Hintergrund besitzt und ein Leben als Tagträumer und Wahrheitsrichter auf dem Marktplatz (mglw. an Sokrates angelehnt) verbringt. Selbst Nebenfiguren erscheinen komplett aus einem wohlhabenden Milieu, so dass sich eine einheitliche Grundsituation in den Erzählungen einstellt, deren Figuren, nicht von alltäglichen Sorgen geistig geknebelt, sich mit eher sozialen, psychischen, erotischen Problemen beschäftigen können. Die Probleme reichen von einer nicht eingestandenen Hassfreundschaft über Eheprobleme, Erfolgsneid, Depression zu der Problematik vom Verschwinden der Sprache überhaupt, wiederum in der letzten Erzählung, die als einzige eine Alleinstellung im Erzählband einnimmt und sich nicht wirklich einfügen will, insbesondere da die Hauptfigur, neben dem alten Mann, die Sprache selbst ist:

Unsere Sprache, allein in ihrer Ecke der Piazza, seit die meisten Anhänger hinüber zum Café am Brunnen geeilt sind, ist mit der Entwicklung nicht zufrieden. Sie warnt die beiden ihr treu gebliebenen Jünger, dass dies nicht gut ausgehen wird. Die hören zwar respektvoll zu, doch was sie sagt, klingt für sie wie Neid. Die Zeiten haben sich geändert. Unser Volk interessiert sich weniger für unsere schöne, komplexe Sprache als für die großen kruden Fragen nach dem, was richtig und was falsch ist. Wir haben aufgehört, die Liebhaber von Gedichten zu sein, die wir einst waren, Aficionados von Mehrdeutigkeit und Anhänger des Zweifels, um zu Stammtischmoralisten zu werden. Zeigt der Daumen nach oben? Zeigt er nach unten?

Hier wird als Abschluss von Die elfte Stunde im Zeitraffer eine kulturelle Entwicklung nachgezeichnet, die offenkundig motiviert worden ist durch ein kritisches Beäugen der kulturellen Entwicklung in den neuen Medien, der hieraus entstandenen, für manche, neuen Unübersichtlichkeit und die weiterhin wahrscheinlich wachsende Gier nach schneller, einfacher Klarheit und Urteilsfähigkeit. In der Gesamtkonzeption wirkt „Im Süden“ und „Der alte Mann auf der Piazza“ wie eine Klammer. In beiden Erzählungen wird das Thema Altern, Sterben und Tod verhandelt, wohingegen in den mittleren drei das Hauptaugenmerk auf ein möglich besseres Diesseits liegt, eine Art Suche nach Sinn und Frieden und Genuss, begleitet aber von einem unheimlichen Bedürfnis nach Rache, Zerstörung und Heimsuchung:

Inzwischen war er seit einigen Monaten tot, doch begann er endlich zu verstehen, warum er noch hier, noch immer auf dem College-Gelände war. Etwas in seinem Leben war unvollständig geblieben und musste zu Ende gebracht werden, ehe er ruhen konnte. Etwas, das den Nebel beseitigen mochte, der ihn gegenwärtig umhüllte. Rache. Freisprechung und Rache.

Als magische Elemente dienen in den Erzählungen zum einen das Erscheinen eines gesprächsbereiten Schattens, das Beschwören von Fluten und Orkanen durch Musik, das Leben nach dem Tod als Geist sowie die zeitverschobene Selbstbegegnung in einem Süßwarenladen.

Vollständige Inhaltsangabe mit Spoilern hier.
Stoffbereich: Körper-Geist-Bewusstsein mit Plot: Unerfüllte Liebe/Eifersucht.

Stil/Sprache/Form:

Insgesamt besticht Die elfte Stunde durch einen lakonischen Erzählton, der sehr mit der Erzählweise eines García Márquez aus Wir sehen uns im August ähnelt. Die Grundstimmung erscheint entsagend, desillusioniert, distanziert und ernüchtert. Hierzu passt die sehr trockene Ausdrucksweise, die wenig blumigen Adjektive, die fast durchgängig protokollarisch gehaltenen Satzabfolgen und das klar vermiedene, fast völlig fehlende deskriptive Element der Örtlichkeiten und Umgebungen der Figuren. Als Beispiel dient der Auftritt des College-Provost:

Der Provost in seiner kardinalfarbenen Pracht leitete am Heiligen Abend einen Festgottesdienst mit Weihnachtsliedern und neun Lesungen. Die Kapelle war das Reich des Kaplans, und der Chor unterstand dem Chorleiter, das gesamte College aber wusste, wo die wahre Macht lag, wessen Ring man küssen musste. Emmemm nickte huldvoll nach links und rechts, hob königlich eine Hand und winkte dem Chor so gnädig wie der Gemeinde zu, wobei sein blanker Kathedralendom schimmerte, als trüge er einen Heiligenschein, ehe er in die ihm zugewiesene Bank sank. Der scharlachrote Wintermantel senkte sich um ihn herum wie ein prachtvoller Ballon.

Die Kapelle, die Gemäuer, die Stühle, die Architektur oder die Fenster, nichts von all dem wird erwähnt. Einzig die Wechselwirkungen zwischen den Figuren interessiert die Erzählinstanz. Diese Erzählweise wird beibehalten und hält das Geschehen im interrelationalen Rahmen eines gegenseitig Würdigens und Ablehnens, eines sozialen Geschehens, das nur aus einem Wettkampf um Respekt, Ehre und Würde zu bestehen scheint. Eigenartigerweise herrscht in den meisten Erzählungen eine unbändige Rachsucht und ein Trauern über die Machtlosigkeit der Kunst. Hier erscheint Die elfte Stunde mit Paul Austers Baumgarten verwandt, eine rückbesinnliche Form des Scheiterns und Versuchens, die in Isolation zu enden droht.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Das gemeinsames Thema der Erzählungen in Die elfte Stunde heißt Scheitern: das Scheitern an der eigenen Familie („Im Süden“); das Scheitern der Musikerin, mit ihrer Kunst zu heilen statt Zerstörung über die Welt zu bringen („Die Musikerin von Kahani“); das Versagen, Trost in der Literatur zu finden („Oklahoma“); und der Versuch, die Sprache zu würdigen und zu respektieren, statt sie für Urteile und Verbote und Gebote zu missbrauchen („Der alte Mann auf der Piazza“):

Aufrecht und offenen Mundes steht unsere Sprache da, doch hören wir ihren Schrei nicht, der eine solche Intensität erreicht hat, dass die roten Hohlziegel auf den Dächern Risse kriegen, ja selbst die Steine, mit denen die Häuser gebaut sind. Eine der Statuen in einer der Loggien, eine kunstvolle Kopie jener im Vatikan, die den trojanischen, sich schlangengleich windenden Priester Laokoon zeigt, zerspringt in hunderttausend Stücke.

Der magische Realismus in Rushdies Erzählungen durchbricht nicht mehr die Realität. Die Realität wirkt so aus den Fugen, dass nichts mehr überrascht, ja nichts mehr als magisch zu erscheinen vermag, im Grunde nur Tristesse und Ernüchterung vorherrschen. Márquez‘ Wir sehen uns im August und Austers Baumgarten geben sich hier mit Rushdies Die elfte Stunde die Hand. Der Zauber ging auf dem Weg verloren. Wahrscheinlich, so der Tenor bei Rushdie, durch die Kompromisse mit den Reichen und Schönen und Mächtigen. Es bleiben Sex und Geld, Ruhm und Gewalt, Rache und Wettbewerb, eine sich selbst unterminierende Kunst, die um sich schlägt und alles niederreißt, aber keine Wirkung zu entfalten vermag. Rushdie beschwört eine Parade lebendiger Toter herauf, denen das Leben entglitten ist, um sie dann, in der letzten Erzählung, die hervorsticht, allesamt schlussendlich, als namenlose, zu begraben.

Ich kümmerte mich zügig um meine Toilette und schiss, duschte und rasierte mich, die einsame Dreieinigkeit des Morgens. Lange Zeit saß ich dann auf der Kante des lila Sofas, steif, ahmte die Pose auf Tante K.s Flintenveranda nach. Jede Bewegung schien unmöglich.

Maurice Blanchot reflektierte in Der Gesang der Sirenen (1962) eindrücklich über die Zukunft und den Nullpunkt der Literatur im Zeitalter der Massenmedien und über die Gefahr, die Bemühungen um ein Verdichten und dem Versuch, die Sprache zu bewegen und zu beleben, aufzugeben und schrieb:

Wichtig ist allein das Werk, aber im letzten Grunde ist das Werk nur dazu da, um die Suche nach dem Werk einzuleiten; das Werk ist die Bewegung, die uns dem reinen Punkt der Inspiration entgegenträgt, ihrem Woher, das sie, wie es scheint, nur wenn sie selber verschwindet, zu erreichen vermag.
Maurice Blanchot aus: „Der Gesang der Sirenen“

In Die elfte Stunde hat Rushdie jenes Suchen aufgegeben und durch Bewegungslosigkeit ersetzt. Es kommunizieren nur noch Schatten der Lust miteinander, die jeweils kein rühmliches Ende finden können noch wollen. Sie desavouieren sich selbst. Rushdies Erzählband wirkt daher wie eine ungewollte Heimsuchung eines schlechten Gewissens, wovon bleibt die Frage. Diese Frage aber stellt Die elfte Stunde lauthals.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

+fließend angenehm lesbarer Stil
+abwechslungsreiche Szenen
-unentschieden
-etwas einseitige Frauenfiguren
-didaktisch eingefärbt, narrativ zurechtgebogen

Nächste Woche am 23. Dezember 2025 auf Kommunikatives Lesen: Rachel Kushners See der Schöpfung, der erste Spiegel-Buch-Preisträger.

Andere aktuelle Kurzrezensionen befinden sich hier

2 Antworten auf „Salman Rushdie: „Die elfte Stunde““

  1. Rushdie hat mich abseits von „The Enchantress of Florence“ und „Fury“ eigentlich seit „Die satanischen Verse“ nie wieder wirklich überzeugt (Ausnahme vll „Harun“ – Kinderbuch). Das wirkte immer wieder wie ein schwächeres Wiederholen des ursprünglich einmal etablierten Stils und der Themen. Entsprechend vielleicht gar nicht so schlecht, wenn er das hier zugunsten einer ja sehr nachvollziehbaren Ernüchterung herunterfährt. Mal sehen, falls die Bibliothek das Buch bekommt, schaue ich es mir vielleicht an.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ach, also empfiehlst du „Die Satanischen Verse“ – oder hat dich anderes mehr überzeugt? Würde dann Rushdie nochmal eine Chance geben. Dieses Buch ist geschlossener, als es den Anschein hat – die Desillusion, was Kunst vermag, wird interessant durchgespielt. Freue mich auf deine Rezension dann irgendwann. Alldieweil warte ich auf die Leseempfehlung. Viele Grüße!!

Kommentar verfassenAntwort abbrechen

Entdecke mehr von Kommunikatives Lesen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen

Die mobile Version verlassen
%%footer%%