Der stille Freund von Ferdinand von Schirach setzt sein Erfolgskonzept aus Kaffee und Zigaretten und Nachmittage fort, in Miniaturen und Aperçus die Gegenwart zu bereisen und literarisch zu beforschen, und zwar aus einem etwas unbeteiligten, distanzierten Blick heraus. Schirach schreibt klar in der Traditionslinie eines Hermann Graf Keyserling, der mit seinem Das Reisetagebuch eines Philosophen in den 1920ern Jahren einen großen Erfolg erzielte und nahezu das deutsche Paradigma des weltoffenen, geist-aristokratischen Feuilletonisten darstellt, und in Botho Strauß, Martin Mosebach und Martin Suter ähnlich gelagerte Nachfolger gefunden hat. Ferdinand von Schirach gehört zu diesen. Seine Anekdoten spielen durchweg im wohlhabenden, wohlsituierten Milieu:
Vor acht Jahren wollte Massimo von seiner Farm in Namibia mit der Propellermaschine in die Hauptstadt fliegen. Es war eine alte Cessna 172. Wir sind oft mit dieser Maschine geflogen, das sind gutmütige kleine Flugzeuge, solide und robust, sie brauchen nur kurze Landebahnen, und mit ein bisschen Pflege tun sie Jahrzehnte ihren Dienst. Massimo flog damit alle zwei Wochen nach Windhuk, um Einkäufe zu erledigen und Freunde zu besuchen. Das war angenehmer, als sechs Stunden in dem furchtbar unbequemen Toyota zu sitzen.
Als das Flugzeug abhob, stieg ein Schwarm Webervögel auf. Dagegen ist auch der beste Pilot machtlos.
Ferdinand von Schirach aus: „Ein stiller Freund“
Inhalt/Plot:
Von einem Plot lässt sich bei den Texten von Schirach in Ein stiller Freund nicht sprechen. Weder beziehen sich die einzelnen Texte aufeinander, noch werden sie durch irgendeinen Rahmen zusammengehalten. Immerhin gibt es ein erzählendes Ich, das in fast jedem Abschnitt mehr oder weniger deutlich vorkommt. Nur in einem von den vierzehn taucht es gar nicht auf und in einem weiteren nur äußerst peripher. Beide Abschnitte behandeln die Judenverfolgung, einmal dort, wo das Ich über die Gefahr der sozialen Medien und ihren Einfluss auf den Israel-Palästina-Konflikt reflektiert; das andere Mal, als auf Egon Friedells Freitod die Sprache kommt.
Am 16. März 1938 klingelten zwei SA-Leute an seiner Wohnungstür. Sie fragten, ob »der Jud Friedell« dort wohne. Egon Friedell ging ruhig in sein Eckzimmer, zog die Jalousien hoch, öffnete die Fenster und kletterte auf die Fensterbank. Er sprang aus dem dritten Stock. Als er auf dem Trottoir aufschlug, war er sofort tot. Augenzeugen berichteten, Friedell habe die Passanten noch gewarnt. »Bitt schön, gehn’s zur Seite«, habe er gerufen. Der Vermögensschätzmeister in Wien bezifferte den Wert der Verlags- und Tantiemenverträge sowie überhaupt aller literarischer Arbeiten von Egon Friedell mit null.
Eine unangenehm andere Version dieses Vorfalls hat Nelio Biedermann in seinem Roman Lázár präsentiert:
Kurz stellte er sich auch den Kaplan mit zerschlagenem Schädel vor, im Garten liegend, nach einem Sprung aus dem Fenster. Egon Friedell hatte sich ja so das Leben genommen. Ganz zu Beginn war das gewesen, als Österreich gerade an das Deutsche Reich angeschlossen wurde. Sich ihm an den Hals warf. Dabei hatten ihn die beiden SA-Männer, die seine Haushälterin nach ihm gefragt hatten, wohl gar nicht verhaften sollen.
Nelio Biedermann aus: „Lázár“
Von den Umständen erscheint gesichert, dass die SA tatsächlich um 22:00 Uhr nachts die Haushälterin nach Friedell fragte. Die Uhrzeit erwähnen weder Schirach noch Biedermann, aber Biedermanns Variante verliert durch die Uhrzeit jedwede Glaubwürdigkeit, und die Vermutung, er habe sich voreilig das Leben genommen, erscheint so in einem üblen Licht. Leider, obgleich nicht auf Basis der Faktenlage, besticht Schirach auch nicht durch Empathie, fügt er nach Friedells Sprung in den Tod doch hinzu, dass der Wert seiner Hinterlassenschaften auf Null geschätzt worden ist, und überlässt so dem dubiosen Vermögensschatzmeister das letzte Wort. Das Bonmot-Verfahren hinsichtlich eines Freitodes aus Verzweiflung wirft ein Licht auf die Erzählweise in Der stille Freund, die als distanziert, unbeteiligt, über den Dingen schwebend bezeichnet werden muss. In dem Abschnitt Spiegelstrafe legt er diese Weise der Großmutter einer Freundin in den Mund:
»Ich weiß. Aber [dass mit der Arroganz] stimmt nicht. Für meine Großmutter gibt es nur richtiges und falsches Verhalten, alles andere ist entweder ›unerzogen‹ oder ›verrückt‹. Wenn ein Gast ›Guten Appetit‹ vor dem Essen wünscht oder das ›Klo‹ ›Toilette‹ nennt, findet sie das merkwürdig, aber sie verachtet denjenigen nicht. Einer, der ›lecker‹ sagt oder einen Ärmelknopf an seiner Jacke offen lässt, um zu zeigen, dass sie maßgemacht ist, gehört einfach nicht zu ihrer Welt. Das ist dann eben ein Mensch, der ›seine Möbel selbst kaufen muss‹, würde mein Großvater sagen. Das ist keine Arroganz. Das ist Distanz ohne Hochmut. Sie können gar nicht anders denken. Und meine Großeltern haben eine Sicherheit, die es heute gar nicht mehr gibt.«
»Parkettsicherheit«, sagte ich.
Auf eine gewisse Weise macht sich der Erzähler die Finger nicht schmutzig. Er bleibt außen vor, beobachtet gnädig und blickt interessiert in die verschiedensten, grausamsten, teilweise furchterregendsten Szenerien, ohne mit der Wimper zu zucken. Die vierzehn Kapitel aus Der stille Freund umfassen Tod durch ein Flugzeugabsturz, Blutrache durch Amputation, eheliche Mordandrohungen, in Rechnungsstellung von Kosten, die bei der Vollstreckung einer Todesstrafe auflaufen, das Zermatschen eines Kopfes unter einem Lkw-Reifen, plötzlicher Tod durch Sepsis oder besagter Sprung aus dem Fenster, um den Nazischergen zu entkommen. Ein gewisser Eindruck von Voyeurismus stellt sich in dem Stoffbereich Brutalität von alleine ein.
Stil/Sprache/Form:
Ferdinand von Schirach schreibt in einer mehr oder weniger wohlgelittenen Schreibtradition, die nicht immer freundlich aufgenommen wird. Vielen behagt der gönnerhafte Ton und das etwas überhebliche Sich-Herausnehmen aus der Sache nicht, die den Text als solchen aber gerade auszeichnen. Bewusst oder unbewusst steht für diese Form des reisenden Nobelmannes von Weltformat in Darmstadt lebende Hermann Keyserling Pate, der durch seine selbstsichere und selbstzufriedene Schreibweise Zeitgenossen wie Kurt Tucholsky auf die Palme brachte:
Im Ernst repräsentiert Hermann Keyserling nichts als eine gewisse schlechte und gleichgültige, wertlose und ephemere Schicht Deutschlands. Er ist ein gefährlicher Exportartikel, ein Kerl, der auf den verbogenen Stelzen seines Stils durch die Welt stakt, ganze Porzellanläden umwirft und bestimmt überall da aneckt, wo es den Inhabern der fremden Wohnung weh tut. Immerhin gibt es in Deutschland rechts und links wertvolle, vernünftige Menschen . . . Unsere Aushängeschilder aber heißen: Graf Luckner, Reichskanzler a. D. (außer das) Michaelis; Altreichskanzler Fürst Luther; Reichswehroffiziere aller Schattierungen, von so grün bis zum tiefsten Schwarz, Schnellschwimmer, Schnelläufer, Schnellboxer und ein Schnellredner: der darmstädter Armleuchter.
Kurt Tucholsky aus: „Der darmstädter Armleuchter“
Im Gegensatz zu Keyserling bezeichnet sich Schirach nicht als Philosoph und er gründet wie dieser auch keine Schule der Weisheit, jedoch wirft er gerne mit Bonmots von Philosophen um sich, erwähnt gerne die Kantischen drei großen Fragen oder bemüht sich, Kennerschaft in heißdiskutierten Themen wie die Trennung von Autor und Werk zu beweisen. All dies wirkt leider allzu einstudiert, um zu überzeugen. Schirach hat einfach die Bühne verwechselt, denn ein wortlautgetreues Zitat von Proust aus dem Stegreif im Salongespräch eingestreut, könnte beeindrucken, aber ein seitenlanges Copy-Paste-Pastiche in einem Fließtext wohl kaum. Auch die unzähligen Referenzen, Bezugnahmen, impliziten Nennungen von Gemeinschaft verbürgenden Anspielungen mögen zum feinen Spiel des Innen und Außen eines Salons beitragen, wirken aber in einem universell verfügbaren Rahmen wie in einem Buch fehl am Platze.
Irgendwann zog sie ihre Schuhe aus und stützte ihr Kinn auf die angezogenen Knie. Ich verstand jetzt, warum Truman Capote gesagt hatte, Babe Paley sei einer seiner »Schwäne« gewesen. Ich fragte, ob sie wisse, dass sie heute beim Empfang wie die Paley ausgesehen habe. Sie lachte und nickte. In ihrem Internat in England hätten sie oft die Fotos von Cecil Beaton, Horst P. Horst und den anderen Fotografen aus den 50er und 60er Jahren nachgestellt. Sie hätte immer Babe Paley auf diesen Bildern gespielt und ihre beste Freundin Wallis Simpson – die Frau, wegen der König Edward VIII. abgedankt und auf die englische Krone verzichtet hatte.
Eigenartigerweise lässt in Der stille Freund gerade Schirach es an der von ihm selbst herbeizitierten Parkettsicherheit fehlen.
Kommunikativ-literarisches Resümee:
Schirachs Texte zeichnen eine gewisse Nostalgie aus, die Sehnsucht nach einem gehobenen, noblen Stil, nach einer kulturellen Behausung der Sicherheit und Aufgehobenheit. Den teilweise elitären Habitus beiseite gelassen, besitzt Der stille Freund eine bemerkenswerte, ja, auch erschreckende Ruhe und Abgeklärtheit, die in den überzeugendsten Momenten an Theodor W. Adornos Reflexionen in Minima Moralia erinnern.
‚Asyl für Obdachlose.‘ – Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. […] Das beste Verhalten all dem gegenüber scheint noch ein unverbindliches, suspendiertes: das Privatleben führen, solange die Gesellschaftsordnung und die eigenen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nicht so belasten, als wäre es noch gesellschaftlich substantiell und individuell angemessen. »Es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein«, schrieb Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft. Dem müßte man heute hinzufügen: es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.
Theodor W. Adorno aus: „Minima Moralia“
Schirach wohlgesonnen, lässt sich Der stille Freund als Versuch bezeichnen, ein solches Asyl für Obdachlose zu gewähren, ein Versuch, doch noch eine Spur vom richtigen Leben im falschen zu retten, ganz gemäß Adornos Diktum:
Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.
Theodor W. Adorno aus: „Minima Moralia“
Exakt mit dieser Verve setzt sich Schirach schlimmen Ereignissen, Themen und Lebensberichten aus, und zwar mit einem Stil, der sich, zumindest im Gestus, über den Dingen schwebend wähnt, und hierbei zumindest die Stimmung rettet, dass eine Blickweise möglich bleibt, die sich nicht vollends elektrifiziert im kleinteiligen Chaos aufzulösen beginnt.
Wir setzten uns auf eine Bank auf dem Kurfürstendamm. Auf den breiten Trottoirs und den Straßenlaternen lag Schnee. In den Bäumen hingen gelbe Lichterketten, die Schaufenster waren mit Tannenzweigen und roten Sternen geschmückt. […] Dr. Lehmann lehnte sich zurück und sah in den Abendhimmel. Auf sein Gesicht fiel Schnee, und auf seine Brille fiel Schnee. Ich dachte wieder an die todkranke Freundin, die ich in Tokyo besucht hatte. »Aufgeben gilt nicht«, hatte sie gesagt.
In diesem Sinne, trotz vieler Entgleisungen, trägt Schirach etwas Kosmopolitisches in die Welt, wie schon Hermann Keyserling mit seiner Wollust, sich neuen Kulturen zu öffnen, wie unbedarft auch immer. Schirach trifft in Der stille Freund nicht immer den Ton, greift aber auch nicht so richtig daneben, und so nimmt er schließlich wieder auf Adorno aus Minima Moralia Bezug, wo steht: „Bangemachen gilt nicht.“ Bei Schirach hat sich leider die Uhr weitergedreht und hat bereits das mögliche Aufgeben erreicht, dennoch sucht er weiterhin, ästhetisch ungebrochen, nach einer Heimat zwischen Zitat und Kopie und kulturellen Bezügen.
tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.
+geschliffene Sprache
+teilweise interessante Anekdoten
-zu sensationalistisch, voyeuristisch
-etwas abgegriffene Zitate
-schnöselig
Nächste Woche am 02. Dezember 2025 auf Kommunikatives Lesen:
wieder eine Klassiker-Runde, einen Dreiteiler zu Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre oder das neue Buch von Thomas Pynchon Schattennummer.
Andere aktuelle Kurzrezensionen befinden sich hier.

Das Buch habe ich gerade begonnen. Bei der ersten Geschichte zog ich Parallelen zum Schreibstil von Michael Klonovsky in seinem Buch „Lebenswerte“, bei dem ich ähnlich wie Du es in Deinem Resümee sagst empfunden habe: „…eine gewisse Nostalgie, die Sehnsucht nach einem gehobenen, noblen Stil, …“
Nach der zweiten Geschichte musste ich erstmal durchatmen und habe eine Pause eingelegt.
Interessant, Deine Buchbesprechung. Mal sehen, wann ich weiterlesen werde.
Viele Grüße, Bettina
Liebe Bettina, das Buch besitzt viele Monstrositäten, mit denen es sein Publikum lockt – ich mochte das teilweise gar nicht lesen. Die Stimmung, dieses nostalgisches Stallsuchen bleibt aber bestehen, und macht in der Weise, wie du es sagst sich breit „Lebenswerte“ – nun hier ist es ein „Enthobener“ und Freude am „Perversen“, fürchte ich, bin gespannt auf deinen Leseeindruck! Viele Grüße!