Moritz Baßler: „Populärer Realismus“

Populärer Realismus
Pop gegen Populismus …

Interpretationsmodelle (4): Alle wissen, dass sich über Geschmack trefflich streiten lässt, ob als stehende Wendung in Latein oder als Lied „Jede Jeck is anders“, was dem einen seine Eul‘ ist dem anderen seine Nachtigall. Literaturkritik leistet ihren eigenen Beitrag und verteilt gerne Prädikate und Preise in der kaum zu übersehbaren Flut von Neuerscheinungen. Wie interesseleitend und hilfreich bei der Lektüreauswahl diese dann auch sind, lässt sich schwerlich abschätzen und nur im Einzelfalle überprüfen. Literaturwissenschaft geht auch hier und da einen anderen Weg. Sie versucht dann zusammenfassende Oberbegriffe für Literaturfelder zu finden, um dem Chaos der Neuerscheinungen ein wenig Einhalt gebieten zu können. Moritz Baßler schlägt in Populärer Realismus seinem neuen und gleichnamigen Buch einen solchen vor:

Der Populäre Realismus ist ein Erzählen nach den audiovisuellen und heute auch nach den digitalen und sozialen Medien.

Moritz Baßler aus: “Populärer Realismus”

Um also Baßlers Begriff zu verstehen, müssen „Erzählen“ und „Realismus“ verstanden werden, denn populärer Realismus ist eben einer, der nach den Medien erzählt. Erzählt er gegen die Medien, gegen vorherrschende Meinungswelten, wäre er noch ein Realismus, aber kein populärer mehr. Mit anderen Worten das realistische Erzählen steht im Zentrum von Baßlers Untersuchung, nicht die Popularität, die ihm kontingent erscheint, als zufällig, abhängig von momentanen Stimmungsschwankungen einer ausdifferenzierten Öffentlichkeit. Wer also nach einer Definition von Populären Realismus sucht, wird sie in Baßlers Text nicht finden. Wie auch:

Das Populäre ist nicht produzierbar. Man sollte ja zunächst das Gegenteil annehmen – was sollte berechenbarer produziert werden können als Massenware, das Populäre eben? Aber gerade weil der Markt ein inhalts- und formblinder Mechanismus ist und sich das Populäre folglich erst in komplexen Rückkopplungsprozessen mit den Rezipientinnen ausbildet und eben nicht direkt aus irgendwelchen Produkteigenschaften folgt, bleibt für die produzierende Seite immer eine gewisse Unsicherheit bestehen.

Was populär ist, lässt sich also nur im Nachhinein an seinem Erfolg ablesen und nie mit Sicherheit vorhersagen. Als Begriff taugt Populärer Realismus dann nicht mehr viel, zumal er die Produkteigenschaften nicht beschreibt, sondern definitorisch (als erfolgreich) die Wechselwirkung mit dem Publikum impliziert. Das Publikum wird aber (leider) in Baßlers Text nicht selbst beschrieben. Auf diese Weise verstanden, handelt es sich bei seinem Populären Realismus um den Realismus von lediglich und genau den Romanen, die in letzter Zeit auf dem deutschen Buchmarkt erfolgreich gewesen sind. Das mindert den Begriff nicht. Es lenkt das Augenmerk lediglich auf das realistische Verfahren der in der Gegenwart erfolgreich gewordener Literatur. Sie zeichnet sich vor allem durch einfache, leicht konsumierbare Sprachformen in Häppchengröße aus oder in Baßlers Worten:

Realismus in diesem Sinne ermöglicht also eine leichte und schnelle Lektüre und ist damit eine Grundbedingung für populäre Literatur. Realistische Romane sind sozusagen liegestuhltauglich.

Abgesehen von Baßlers Beispielen, die da wären Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, Sebastian Fitzeks Der Heimweg, Sharon Dodua Otoos Adas Raum oder Annie Ernaux’ Die Jahre, um nur ein paar zu nennen, an denen Baßler seinen Begriff vom Realismus erprobt, gebe ich einige eigene Beispiele aus zuletzt gelesenen Romanen, um diese allgegenwärtige Sprachform zu veranschaulichen. Die Beispiele zeigen, dass die von Baßler behandelte Literatur häufig nicht mehr Wirklichkeit vor Augen zu führen sucht, sondern gerade und einfach von einer solchen ausgeht, als hätte das Publikum dieselbe bereits vor Augen:

Ihre Haare waren wunderschön, ich bewunderte ihre hochhackigen Schuhe und durfte mir ihre schicke Handtasche anschauen, und die ganze Zeit lächelte sie ihr warmes weiches Lächeln.

Daniela Dröscher aus: “Lügen über meine Mutter” [Besprechung]

Er sah sie von unten an, seine schönen, für einen Mann zu langen Wimpern, seine hellblauen Augen. Er war unsicher, das sah sie jetzt, seine Augen waren feucht, sein Mund war ein wenig geöffnet. Sie hatte noch nie einen so schönen Ring gesehen, ein in Weißgold gefasster Saphir in der Farbe ihrer Augen. Sie hatte gewonnen, es war der Höhepunkt ihres bisherigen Lebens.

Ferdinand von Schirach aus: “Nachmittage” [Besprechung]

Als der Tag gekommen ist und ich im Zug Richtung Ederfingen sitze, zweifle ich an meinem Geisteszustand. Warum sollte sich jemand freiwillig dem Schrecken der Deutschen Bahn aussetzen, um in dieses Suizidloch zu tuckern? Ich weiß nicht, ob ich es erwähnt habe, aber: Als ich auf dem Brecht-Gymnasium war, erhängte sich eine 13-jährige Mitschülerin in der Dusche und ein 17-jähriger schoss sich mit der Knarre seines Vaters in den Kopf. Für einen Moment war ich neidisch.

Claudia Schumacher aus: “Liebe ist gewaltig” [Besprechung]

Die Sprachform dieser Romane setzt eine von allen miteinander geteilte Welt voraus. Die Schreibakte finden quasi auf einer Bühne statt, die dem Publikum vor Augen steht und auf der stehend die Schreibenden eine von vielen möglichen Erzählung kundgeben. Sie zeigen auf die Welt. Sie wird nicht kreiert, mit sprachlichen Mittel re-imaginiert.

Im ersten Beispiel weiß ich von der Handtasche der Frau nur, dass diese „schick“ ist, und von den Haaren bloß, dass sie „wunderschön“ sind. Der Saphir im zweiten Beispiel hat die Farbe der Augen der Beschenkten, was mir auch nichts sagt, ohne dass die Augen näher beschrieben werden, stattdessen weiß ich nur die Farbe der Augen, „hellblau“,  des Schenkenden. Der Gegenstand des Textes ist bereits da, als Material. Es wird auf ihn nur in abkürzender Zeichenform verwiesen.

Auf diese Weise spart sich der Schreibakt im dritten Beispiel die Mühe, die Bahnfahrt nachzuvollziehen, die Enge, das Scheppern, die gummiartigen Bezügen der Sitze, der beißende Geruch vom Teppich, die unzuverlässigen Böen Frischluft, die eher zum Krankwerden als zur Belebung gereichen, das Beengt-Sein und die konstante Angst, den Anschlusszug zu verpassen, um nur einige Aspekte des „Schrecken der Deutschen Bahn“ zu benennen, die der Autorin vielleicht vor Augen gestanden haben mögen. Die Zeichenform der populär-gewordenen Bücher sind laut Baßler allzu transparent:

Weil sich im Populären Realismus auf der Textebene nichts abspielt, sondern erst die Ebene der dargestellten Welt (die Diegese) die relevante Zeichensprache ist, arbeitet er nicht, wie die historischen Avantgarden, an einer sprachlichen Schöpfung oder auch nur Erfassung der Welt, sondern bedient sich einer bereits bekannten, formulierten und verdauten Welt. Sprachlich, und nicht etwa graphisch oder filmisch, ist diese Welt einfach nur deshalb verfasst, weil es sich nun mal um einen Roman handelt. Alles Relevante findet sich erst auf der diegetischen Ebene, und die realistische Textur dient nur dazu, diese möglichst barrierefrei herzustellen.

Tatsächlich verlieren viele Romane aus diesem Grund ihre innere Konsistenz. Oft bleibt fraglich, weshalb eine Frau bei einem Mann bleibt, weshalb ein Arbeitnehmer nicht seinen Job kündigt, eine Freundin sich weiterhin Gehässigkeiten gefallen lässt, die andere längst in die Flucht geschlagen hätten. Das Konstatieren ruft einen Gemeinplatz auf, der nicht immer gesichert ist. Plausibilität gelingt nicht immer, aber bei einer Verlobungsringübergabe vielleicht schon. Auf eine seltsame Weise muss das Publikum beim Lesen stets mitarbeiten und mitkonstruieren und verliert so die Erzählposition mehr und mehr aus den Augen. Baßler fasst es wie folgt:

Denn die Sinnstiftung, die man eigentlich vom Kunstwerk erwarten sollte (die Poiesis), wurde hier bereits vor dem Text geleistet, dieser zehrt nur mehr von den bestehenden kulturellen Wissensbeständen, ohne selbst an ihnen zu arbeiten. Hier kommt auch ein ideologiekritischer Aspekt mit hinein: Ein Text, der sich gut lesen lässt, weil wir in der Lektüre mit unseren alltäglichen und stereotypen Vorstellungen von den Dingen arbeiten können, damit gut durchkommen und kaum je irritiert werden, bestätigt eben auch die kulturellen Allgemeinplätze, die wir von einem Rendezvous, von Wahnsinnssex oder einer Ermordung so haben.

Mit der Sicherheit und Konsistenz der Wissensbestände bin ich mir im Gegensatz zu Baßlers Populärer Realismus nicht so sicher. Mir scheinen Gemeinplätze mehr und mehr zu verschwimmen, so dass Referenzen auf diese oft ins Neblige und Diffuse verschwinden. Da, so Baßler, die Sinnstiftung nicht mehr Teil des Lektürevorganges ist, die sprachlichen Zeichen wenig widerständig und die Welt offensichtlich in Wertung und Bedeutung erscheint und eine fixierte Freund-Feind-Stellung akzeptiert, müssen die Romane den Lektürevorgang auf andere Weise interessant gestalten. Baßler nennt Geniekult, Serialität und das Short-Cuts-Prinzip sowie Autofiktionalität durch Authentizität als Mittel. Insbesondere das Short-Cuts-Prinzip findet sich oft:

Romane verfolgen nicht eine Perspektive, eine Handlung, eine Figur. Sie mischen viele Vorgänge ineinander und überkomplizieren, was inhaltlich überschaubar wäre, ohne formal-inhaltliche Rückbezüglichkeit, d.h. der Episodencharakter entwickelt sich nicht aus dem Darstellungsmaterial wie bei John Dos Passos in seiner U.S.A-Trilogie (42. Breitengrad, Auf den Trümmern, Der große Schatten), sondern gleichsam von außen, als nachträglich hineinmontiertes Strukturprinzip. Beispiele aus meinen Leseberichten wären u.a. Robert Menasses Die Erweiterung, Sibylle Bergs RCE, Ursula Knolls Lektionen in dunkler Materie oder Hervé Le Telliers Die Anomalie. Baßler konstatiert:

Mit etwas schlechtem Willen könnte man also auch im Short-Cuts-Prinzip eine Midcult-Strategie erkennen:  Der nach-moderne Realismus, der ob seiner Unterkomplexität so häufig von einem schlechten Gewissen geplagt wird, verkompliziert hier seine traditionellen Syntagmen ein wenig und gibt sich dadurch den Anstrich formaler Raffinesse.

Baßler analysiert überzeugend die Gegenwartsliteratur auf dem deutschen Buchmarkt. Es kommen Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt, Sebastian Fitzek Der Heimweg, Bernhard Schlink Der Vorleser, wobei auch sein Roman Die Enkelin gewählt werden hätte können. Er bespricht Hengameh Yaghoobifarahs Das Ministerium der Träume, Adas Raum von Sharon Dodua Otoo, Tschick von Wolfgang Herrndorf, Eurotrash von Christian Kracht, 153 Formen des Nichtsein von Slata Roschal und Gentzen oder: Betrunken aufräumen oder Dirac von Dietmar Dath, um nur einige zu nennen. Er unterscheidet trennscharf zwischen zwei Ausformungen der Gegenwartsliteratur:

Populärer Realismus und Pop-Literatur, deren beider Merkmale sich in „Tschick“ [von Wolfgang Herrndorf] finden, sind also, so betrachtet, Alternativen auf dem Feld einer neuen realistischen Erzählliteratur. Leitkunst des Populären Realismus ist der Spielfilm: Plotting, dominante Story, Linearität, Schließung und Naturalisierung. Er macht dabei tendenziell unsichtbar, was die Pop-Literatur ausdrücklich betont: die Äquivalenz, die Nebenordnung von Möglichkeiten: Dominanz der Diegese, des Archivs, Markenparadigmen, Parallelwelten, auch Serialität, verbunden mit einer Schwächung der Handlung, oft des Narrativs selbst.

Baßler sieht Kehlmann, Fitzek, Schlink und Martin Mosebach auf der Seite des Populären Realismus, dessen Sprachform „born translated“, also in einer Weise dargestellt ist, dass die Vermarktung und Internationalisierung sowie die Verfilmung leicht fällt, also barrierefrei vollzogen werden kann. Hier wird das Medium verwischt und bedient bereits bestehende Vorurteile. Gegen diese Form des Realismus steht die Pop-Literatur, die mit den Medien ideologiekritisch spielt und eben mittels Verwirrtaktiken und Selbstbezüglichkeit die inhaltliche (nicht formale!) Seite des Mediums Literatur selbst thematisiert. Mit anderen Worten, die Pop-Literatur zieht ihre Energie aus dem Zitat und den Formen bestehender, älterer Literatur- und Musikbestände, der Populäre Realismus aus den zeitabhängigen Vorurteilen und inhaltlichen zeitgeschichtlichen Debatten. Beide Ausformungen jedoch brechen mit der althergebrachten Literatur:

Wenn Fantasy der Inbegriff des Populären Realismus ist, jener Literatur also, die unter den demokratischen, ökonomischen und medialen Bedingungen der westlich geprägten Überflussgesellschaften, in denen wir leben, zum International Style gegenwärtigen Erzählens geworden ist, dann gilt womöglich für unsere Literatur generell, dass sie nicht mehr von derselben Art ist wie die traditionelle Romanliteratur des Abendlandes.

Mit anderen Worten, die traditionelle Erzählform, Baßler nennt als Beispiele Christa Wolfs Der geteilte Himmel, James Joyce’ Ulysses oder Johann Wolfgang von Goethes Wahlverwandtschaften, steht windschief auf der Gegenwartsliteratur. Sie haben keine Schnittmenge. Es gibt keine Ähnlichkeit, denn die traditionelle Erzählform thematisiert die Form, das Medium, das Zeichensystem selbst. Baßler führt hier explizit Roman Ossipowitsch Jakobsons Linguistik und Poetik an:

Die poetische Funktion bricht nun mit diesem Prinzip [des Verweisens], indem sie äquivalente Ausdrücke gleichzeitig und nebeneinander in ein und demselben Text unterbringt, sie also kombiniert, in ein Nachbarschaftsverhältnis rückt. Durch ihre Äquivalenzstrukturen – und das ist Jakobsons Pointe – können poetische Texte uns dazu bringen, Dinge miteinander zu vergleichen, die wir und unsere Kultur bislang noch nicht als äquivalent gesehen hatten. Poetische Texte können also Sinn schaffen (wörtlich: herstellen, Poiesis!), wo vorher keiner war. Und sie tun das gerade nicht, indem sie, wie alle anderen Texte, Aussagen machen, sondern indem sie unsere Aufmerksamkeit auf die Spürbarkeit der Zeichen richten.

Die Gegenwartsliteratur besitzt nach der Analyse Moritz Baßlers schlichtweg keine poietische Dimension mehr. Sie strebt diese auch gar nicht an. Die Sprache wird hingenommen, benutzt, variiert, aber als Bestandsgröße akzeptiert. Maßstäbe für Wolf, Joyce und Goethe verfehlen insofern den Gestus, den Sinn und Zweck der „realistischen Erzählliteratur“ der Gegenwart. Baßler schließt deshalb:

»Es wandelt sich nicht nur Äußerlichkeiten; diese vielleicht sogar am wenigsten. Es wandelt sich«, mit Hanno Rauterberg gesprochen, »die Idee der Kunst«, in unserem Falle der Status der Literatur insgesamt. Entsprechend brauchen wir, um diese Literatur adäquat zu beurteilen, denn wohl auch neue Kategorien, »new standards of beauty and taste.«

Vor diesem Hintergrund nun bewertet und beurteilt Moritz Baßler die Gegenwartsliteratur und unterteilt in schlechte und gute Werke (Kehlmann gegen Kracht, Schlink gegen Dath, Otoo gegen Roschal), wie die herkömmliche Literaturkritik seit anno dazumal. Eigenartig ist nun, dass Baßler zwar die althergebrachte Literatur in die ferne und holde Vergangenheit schiebt, nicht aber die althergebrachte Literaturkritik, die wie eh und je urteilt und bewertet und von einem altmodischen Kommunikationsbegriff, also von Sender-und-Empfänger-Schemata ausgeht, als hätte es die selbstreflexive Medientheorie (u.a. Niklas Luhmann, Gotthard Günther, Heinz von Förster, Alfred Habdank Skarbek Korzybski) nie gegeben.

Neuere, kybernetische, selbstreflexive Theorien gehen nicht mehr vom Sender-Empfänger-Modell aus, von einem geschriebenen Text, der Sinnhorizonte erzwingt, anbietet und eingrenzt. Vielmehr wird von doppelter Kontingenz und loser struktureller Kopplung ausgegangen, so dass sich gelungene Kommunikation in Sinnanschlüsse und in ein ausufernden, Horizont verschiebenen Inspirationsbegriffen erkennen lässt. Baßler reduziert in seinem Populären Realismus jedoch das Ziel der wissenschaftlichen Behandlung von Texten auf Wertung und Urteil. Aus diesem Grunde gibt es einen 1. Teil, der analytisch gründlich die Begriffe entwickelt und 150 Seiten umfasst, und einen 2. Teil, der auf über 200 Seiten mittels dieser Begriffe Prädikate ausspricht und schlechte Romane gegen gute „realistische Romane“ ausspielt, ideologische (Mosebach, Kehlmann) gegen ideologiekritische (Kracht, Dath).

Mit anderen Worten, die Literaturwissenschaft ändert ihr Paradigma nicht. Sie verändert nur die Kategorien, nach denen sie urteilt, während die Literatur ihr Paradigma geändert zu haben scheint und nichts mehr mit den Erzählversuchen und -künsten der Vergangenheit zu tun hat. Welche Kategorien aber für die Kritik und als maßgeblich herangezogen werden, war schon immer eine Standpunktfrage. Baßlers Kategorien gelten hier so viel wie Marcel Reich-Ranickis, Dennis Schecks, Elke Heidenreichs oder Hans-Georg Gadamers, um nur einige zu nennen. Die Auswahl ist vielfältig.

Warum aber Baßler nicht neue Varianten der Wissenschaft aufgreift, Texte im Sinne von Kommunikationswelten begreift, diese erschließt, weiter entwickelt, mit Lektüre-Ideen fürs Publikum leichter zugänglich werden lässt, und in die andere Richtung inspirierende Zusammenhänge für die Produzenten erschließt, bleibt offen.

Die Alternative wäre dann gewesen mit neuen Methoden und Verfahrensweisen neuerer Literatur zu begegnen, sie zu erschließen, sie produktiv werden zu lassen, statt sie abzuurteilen. Seine Analyse im ersten Teil seines Textes Populärer Realismus bietet für ein solches Unterfangen viele Ansatzpunkte. Der zweite Teil verhallt dann als ironisch-performative Aufnahme von Bertolt Brechts Der gute Mensch von Sezuan:

Verehrtes Publikum, jetzt kein Verdruß:
Wir wissen wohl, das ist kein rechter Schluss.
Vorschwebte uns: die goldene Legende.
Unter der Hand nahm sie ein bitteres Ende.
Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.

Bertolt Brecht aus: “Der gute Mensch von Sezuan”

Literatur reflektiert sich stets selbst, ob sie will oder nicht, und nimmt stets teil an einer kommunikativen Sphäre des allgemeinen Austauschs. Vor diesem Hintergrund findet immer ein Sinnanschluss, eine Poesie statt, die nicht, wie Baßlers Populärer Realismus meint, auf die traditionelle Romankultur beschränkt bleibt. Ein Text fordert also stets sein Publikum heraus, ihn produktiv, poetisch, literarisch werden zu lassen. Der Fantasie sind hierbei keine Grenzen gesetzt. Es kann ja nur das Ziel sein, stets ein gutes Buch zu lesen.

Aus der Reihe Interpretationsmodelle bereits gepostet:
Theodor W. Adorno: “Skoteinos – Wie zu lesen sei”
Jacques Derrida: “Gesetzeskraft”
Franz Kafka: “Der Prozess”

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