Olga Tokarczuk: „Empusion“

Gegen Grenzen und jenseits von Differenzen … Literaturnobelpreis 2018

In Olga Tokarczuks Empusion überlagern sich viele Romane und Querbezüge. Von den meisten Rezensionen bemerkt wurde die zu Thomas Manns Der Zauberberg, die äußerlich sofort naheliegen. Stofflich jedoch verarbeitet Empusion viel stärker Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten, Franz Kafkas Der Prozeß, Hermann Brochs Bergroman und Sophokles Antigone. Ihr gelingt auf diese Weise eine Form von Sinnsedimentschichtung, die ein unheimliches Wechselspiel zwischen den Sinnebenen zulässt und nahelegt. Ein Schillern durchzieht den Text, ein Wabern, flüsternde Stimmen eines untergründigen, hintergründigen Rauschens:

Hier sind wir, ein wenig verändert, doch immer noch die Gleichen. Warm und kalt, sehend und blind. Hier sind wir, mit unseren Händen aus morschen Zweigen. Mit unseren Bäuchen, den Brustwarzen aus Bovisten, dem Schoß, der in den Fuchsbau übergeht, in die Tiefe der Erde reicht, wo er den Wurf der Welpen hütet. Siehst du uns endlich, Mieczysław Wojnicz, du wackerer Ingenieur aus den flachen, waldlosen Steppen? Siehst du uns, du schwankendes Menschenwesen, das Blätter trocknet, um sie einzukleben und solcherart vor Tod und Zerfall zu bewahren?

Olga Tokarczuk aus: „Empusion“

Inhalt/Plot:

Der Bezug zu Manns Der Zauberberg liegt inhaltlich auf der Hand. Der Ingenieur, Mieczysław Wojnicz, 24 Jahre alt besucht aus Bronchiengesundheitsgründen ein Sanatorium in den Bergen, und zwar im Jahre 1913. Alter, äußerer Handlungsrahmen und Zeit gleichen sich. Der Unterschied zu Manns Roman liegt vordergründig nur darin, dass Hans Castorp Davos in der Schweiz und nicht Görbersdorf in Schlesien besucht. Beide finden Mentoren dort: Wojnicz August August und Longinus Lukas, Hans Castorp Settembrini und Naphta. Gespräche über Kultur, Kunst, Demokratie finden statt und weisen beide Texte als Konversationsromane aus. Anders aber als bei Thomas Mann fängt Tokarczuk die Stimmen und Meinungen über die Frau im besonderen und allgemeinen ein, die bei den mehrheitlich männlichen Gästen vorherrschen:

»Nun, zuweilen, wenn wir uns mit Frauen unterhalten«, fuhr der bis unters Kinn zugeknöpfte Frommer fort, »können wir den Eindruck gewinnen, als gäben sie vernünftige Antworten, als dächten sie so wie wir. Doch ist das eine Illusion. Sie imitieren« – diesem Wort verlieh er besonderen Nachdruck – »sie imitieren unsere Art des Gesprächs, und manche von ihnen, das muss man zugestehen, haben es recht weit darin gebracht.«
»Sie imitieren also …«, Opitz hielt inne, als hätte er etwas ganz Bestimmtes im Sinn.
»Und sie wissen nicht einmal, dass sie es tun, sie handeln reflexartig, folgen ihrem Instinkt.«

Tokarczuks Herrengäste trinken den ganzen Tag und räsonieren. Sie rauchen und husten und versuchen sich gegenseitig in den tollsten Meinungen zu übertrumpfen. Aus Langeweile bilden sie Thesen zu allem, was ihnen in den Sinn kommt: Demokratie, Dämonologie, Religion, Alkohol, Musik, die Jagd, der Krieg, die Antike, Literatur oder Malerei. Am Ende jedoch, bemerkt Wojnicz, läuft jedes Gespräch auf ihre Haltung zu den Frauen hinaus. In Thomas Manns Roman spielt die Haltung der Gäste zur Frauenfrage explizit weniger eine Rolle, aber hier und da werden die Figuren ebenfalls sehr deutlich, bspw. in einem Gespräch zwischen Mynheer Peeperkorn und Naphta:

Die Frauen, so möchte ich mich ausdrücken, sind reaktive Geschöpfe, ohne selbständige Initiative, lässig im Sinne von passiv. . . Lassen Sie mich das, bitte, wenn auch mühsam, etwas weiter auszuführen versuchen. Die Frau, soweit ich feststellen konnte, betrachtet sich in Liebesangelegenheiten primär durchaus als Objekt, sie läßt es an sich herankommen, sie wählt nicht frei, sie wird zum wählenden Subjekt der Liebe erst auf Grund der Wahl des Mannes […]

Thomas Mann aus: „Der Zauberberg“

Die Atmosphäre in den Bergen gereicht nicht allein zur Unterhaltung. Die schöne Berglandschaft, die klare Luft, der Wald, der freie Himmel, sie amüsieren die Gäste nicht genug. Bei Tokarczuk müssen sie in einem fort Genussmittel zu sich nehmen, exquisite Mahlzeiten, wie die Herzen von Kaninchen, die vor Schreck gestorben sind, sogenannte Angsteln. Sie fabulieren über Dämonen, Hexenverbrennung, über die bösartige Natur. Kapitel um Kapitel wird klarer, dass die Bergbewohner und Sanatoriumsinsassen den gleichförmigen Alltag nur mittels Gehässigkeiten, kleinen Gewaltanwendungen und Gewaltphantasien ertragen können, die sich alljährlich im November schließlich entladen.

Wojnicz warf einen letzten Blick zurück zu den Grabsteinen.
Rudolf Opitz
21. Sept. 1889–11. Nov. 1908
Weh mir, o weh!
Erst jetzt nahm [Wojnicz] wahr, was er dort gesehen hatte, ohne es zu begreifen. Nov. – November –, diese drei Buchstaben waren in jeden der Grabsteine in diesem Bereich des Friedhofs eingemeißelt. All diese Männer waren im November gestorben.

Empusion spielt genau zwischen zwei Novembern. Mehr und mehr spitzt sich die Atmosphäre in Görbersdorf zu, angekündigt durch den unerklärlichen Selbstmord von Klara Opitz, der Ehefrau des Gasthausbesitzers, in welchem die Gäste und Hauptfiguren des Romans logieren. Wojnicz lässt dies keine Ruhe, findet im Doktor Semperweiß, dem hiesigen Arzt, einen Vertrauten, dem er sich mehr und mehr über die Länge des Romans öffnet, und in Thilo von Hahn, einem Kunsthistoriker, einen Freund, dessen Lieblingsgemälde von Herri met de Bles, Landschaft mit der Opferung Isaaks, im Zentrum vieler Beobachtungen und Gesprächen zwischen ihnen ist. Nach eingehender Untersuchung eröffnet sich Wojnicz eine ganz neue Dimension im Bild:

Das Gemälde wurde zu dem, was es in Wirklichkeit war – Flecken und Streifen, Pinselstriche, Pinseltupfer, die sich zu unbestimmten Formen häuften. Und war die Aufmerksamkeit des Betrachters genügend eingelullt, trat eine gänzlich neue Ansicht hervor, die alten Konturen ließen etwas völlig anderes entstehen, etwas, das scheinbar zuvor dort nicht enthalten gewesen war, aber dennoch präsent gewesen sein musste, wenn es jetzt zum Vorschein kam. Wojnicz stieß erschrocken einen Schrei aus, wandte sich zu Thilo.

Um diese ungeahnte Dimension geht es in Empusion, die ungeahnte Dimension im Einzelnen, in der Landschaft, im Kulturellen, im Gesellschaftlichen, der nackte, Laokoonsche Moment, in welchem sich das Wesen zeigt. Konkret auf den Text bezogen handelt es sich um das Dorf und den alljährlichen Gewaltexzess, um Wojnicz‘ Weigerung eine Ganzkörperuntersuchung zuzulassen, oder die kulturellen Diskussionen, die als geheimes Zentrum stets die Frau besitzen:

Worüber die Herren zunächst auch sprachen – früher oder später lief es stets auf das Gleiche hinaus: die Frauen. Einmal angestoßen durch den sonderbaren Tod von Opitzens Gattin, kehrte das Thema immer wieder zurück; ihre leblos daliegende Gestalt hatte die Gemüter aufgewühlt. Ja, Wojnicz war bereits aufgefallen, dass jede Debatte – ob sie sich um Demokratie drehte, um die fünfte Dimension, um die Rolle der Religion, um Sozialismus, Europa, endlich um moderne Kunst – unweigerlich bei den Frauen endete.

Detaillierte Inhaltsgabe

  1. Das Gästehaus für Herren. Mieczysław Wojnicz (MW) kommt an im Gasthaus von Wilhelm Opitz (WO). 13.09.1913. Die Frau von Opitz taucht, Klara (KO), auf und bringt etwas, MW sieht sie nicht. Trifft Walter Frommer (WF) aus Breslau.
  2. Schwärmerei. MW geht spazieren, trifft zwei ältere Damen, fängt eine Bohne auf. Tod von KO. Ihre Leiche. Raimund übernimmt die Küche. Erinnerung an Gliceria. Abendmahlzeit der Herren: August August (AA), Thilo von Hahn (TH), WF, Longinus Lukas (LL). Diskussion über Frauen. Das Getränk Schwärmerei wird eingeführt.
  3. Fasanen-Spanne. MW hört Kratzen auf dem Dachboden, erstes Gespräch mit TH, TH spricht von Toten, Doktor Semperweiß (DS) hat ein Gewehr, MW schießt Fasanen nur mit der Fasanen-Spanne, also daneben, ein Moment des Widerstands.
  4. Brust- und Halskrankheiten. Gespräch mit AA über Wahrheit, treffen Frau Weber, Frau Brecht, Gottesdienst für KO, MW trifft Frau mit Hut, Weib und Kröte, Beerdigung.
  5. Löcher in der Erde. MW geht auf Dachboden ins Zimmer von KO, MW bekommt neue Stiefel, Wanderung, Köhlersiedlung, Gespräch über Kunst, Mona Lisa, über Hexenverbrennung, auf dem Gipfel Windlöcher, AA skandiert Metamorphosen, Erinnerungen MWs an Schule.
  6. Patienten. Abstieg der Wanderung, Diskussion über Nationalstaaten, Kommunismus.
  7. Weh mir, o weh. Sanatoriumsbibliothek. MWs Erinnerung an Vater und Onkel, Besuch der orthodoxen Kirche, Ikone der Emerentia, lux perpetua, Diskussion über die Frau, Fahrt zum Friedhof in Langwaltersdorf, Grabinschrift Rudolf Opitz.
  8. Husten-Symphonie. Zeitsprung (Mitte des Buches). Diskussion übers Fliegen. Husten der Mitbewohner. Schachspiel. Besuche bei TH, MW will sich nicht nackt ausziehen, schützt religiöse Gründe vor. TH hat nicht mehr lange zu leben.
  9. Tuntschi. Gehen auf Pilzsuche. Sexpuppe im Wald. MW geht polnischen Mitbürgern aus dem Weg. Erinnerung daran wie Gliceria MW badet. MW trifft wieder auf Tuntschi.
  10. Eine Kulmination der Geometrie. MW sagt TH nicht, dass DS denkt, TH hat nicht mehr lange zu leben. TH zeigt Gemälde mit Abraham und Isaak. MW sieht ein zweites Bild, ein geheimes, weiteres Augenpaar, das von Herri met de Bles, dem Maler. Mitternachtsumtrunk. Diskussion über Rationalismus. AA baggert MW an, befriedigt sich.
  11. Weiße Bänder, dunkle Nacht. Diskussion über Demokratie, Frauen und Literatur. LL gibt MW Tipps zur Triebabfuhr. Ausflug zum Wirtshaus am Teich. WF erweist sich als Polizist, der die Tode untersucht.
  12. Herr Hüpf. MW besucht das Zimmer von KO nun regelmäßig. Gespräch mit DS über die Todesfälle im November, über WO. MW verweigert die Ganzkörperuntersuchung. MWs Erinnerung an Zugfahrt mit dem Vater.
  13. Geister. TH vermacht das de Bles Gemälde an MW. Sie küssen sich. Diskussion über Dämonologie. AA durchschaut MW als Zwitter. Angstel-Speise, Ausflug in die Bergbaude. MW übergibt sich. MW findet Pilze auf dem Dachboden.
  14. Die Fieberkurve. MW beschließt keinen Likör mehr zu trinken. MW zieht die Kleidung von KO an. TH bekommt Besuch von seinem Freund. TH stirbt. MW nimmt sich das Gemälde, lügt über dessen Verbleib THs Freund an.
  15. Die schwächste Stelle in der Seele. MW lässt Ganzkörperuntersuchung zu. DS spricht MW gut zu, Körperbejahung und baldige Gesundung. WF warnt MW. TH, das erkorene Novemberopfer, ist zu früh gestorben.
  16. Ein Mensch mit nur einem Schuh. Raimund führt MW in die Falle. Köhler ergreifen und fesseln ihn. Ein Rumoren im Wald erklingt. Die Köhler fliehen. MW kann sich befreien, hinkt mit einem Schuh zurück. MW trifft auf gefesselten WO. WO stirbt auf einer Lichtung. MW zieht am nächsten Morgen die Kleidung von KO an. Er will nicht die Nachfolge von WO antreten. Er nimmt die Identität von KO an und reist, die Bohne essend und die Dritte Frau im Bunde, die Autorin, sehend, ab.

Stil/Sprache/Form:

Kennzeichnend für Empusion von Tokarczuk ist die hintergründige Erzählinstanz. Im Personal des Romans taucht die geheimnisvolle Instanz: „Namenlose Bewohnerinnen der Wände, Böden und Zimmerdecken“ auf. Aus ihrer Sicht werden die Ereignisse rund um die Selbstbewusstwerdung Wojnicz‘ beschrieben. Hier und da reißt sie sich von den Gesprächen, von den Wörtern, den Behauptungen los und konzentriert sich auf die Wurzeln, die Materie, die stumme Seite der Dinge:

An dieser Stelle möchten wir sie verlassen, wie sie sich in ihren Erwägungen ergehen, an dem Tisch, auf dem das Tischtuch liegt mit dem unheilvollen Muster, wir verlassen sie, verlassen das Haus, durch den Kamin, durch eine Ritze zwischen den Schindeln – um aus der Entfernung, aus der Höhe herabzuschauen. Es hat zu regnen begonnen, in kleinen Tropfen, sie rinnen vom Dach, lassen an dessen Rand eine schimmernde Spitzenborte entstehen. Dann fallen die Tropfen zur Erde, berühren, necken, kitzeln sie, waschen kleine Vertiefungen aus […]

Hier wird die Nähe zu Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten besonders deutlich. Beide Autorinnen geben dem Verschwiegenen eine Stimme, lassen Tote auferstehen, richten ihren Blick auf die Hinterlassenschaften, die Kleidung, die Schuhe. Es ist eine Welt, die da spricht und zu Wort kommt. Bei Jelinek liest sich das so:

Aber die, mit denen Schluß ist, werden nicht gefragt. Was bewegt mich, an ein Ende, das so weit schon zurückliegt, immer noch etwas anstückeln zu wollen, damit ich es, wenigstens mit den Fingerspitzen erreichen kann? Wer will sich dieses Kleid noch anziehn? Viele wollen es, aber dann paßt es ihnen nicht. Ich habe den Saum vielleicht wirklich etwas zu lang gemacht. Keiner ist so groß, daß er in dieses Kleid hineinpassen würde. Diesen Schuh, der da, blutig liegt, soll sich dann auch gefälligst ein andrer anziehen!

Elfriede Jelinek aus: „Die Kinder der Toten“

Auf die Schuhe hat es Tokarczuks Erzählerin besonders abgesehen. Sie richtet immer wieder das Augenmerk auf diese. Von Wojnicz treten als erstes die Schuhe in Erscheinung. Vom Boden aufwärts wird er am Bahnsteig beschrieben, als er aussteigt. Diese Bewegungsrichtung des Blickes wird beibehalten. Die Schuhe bleiben problematisch. Er hat das falsche Schuhwerk an. Er hat keine Winterschuhe und auch keine Wanderschuhe. Schließlich bekommt er welche von Opitz geschenkt, aber auch diese passen nicht wirklich. Das letzte Kapitel heißt „Ein Mensch mit einem Schuh“. In diesem rettet sich Wojnicz vor einem Mob, läuft blutend, halbbeschuht zurück und rettet sich nun in die Schuhe von Karla Opitz, der verstorbenen Frau des Gasthausbesitzers, Schuhe, wie es scheint, die zum ersten Mal wirklich passen:

Dass Mieczysław Wojnicz auf den Dachboden ging, hatte mehr mit der Suche nach Schuhen zu tun als mit anderen Gründen. Im Zimmer der Frau Opitz öffnete er ohne Umschweife den Schrank, betrachtete die Kleider auf den Bügeln. […] Er griff nach den Schnürstiefeln, die im untersten Fach standen. Sie passten. Nur einen Moment lang war es unbequem, eng umschlossen die Stiefel seine Füße, drückten ein wenig am Spann, doch nach einer Weile passten sie sich an.

Erzähltechnisch wird die Spannung gehalten durch Landschaftsbeschreibungen, die die Stimmung der jeweiligen Gespräche einfangen, Andeutungen, Schemen, die rhythmisch, ja, kafkaesk auf ein Geheimnis verweisen, auf ein Poltern im Dachboden, ein Gurren auf dem Fensterbrett, auf die untergründigen, doch allgegenwärtigen Spuren von Gewalt.

»Sehen Sie, die Wahrheit, die Große Wahrheit, ist immer verbunden mit der Gefahr abzuschneiden, was über ihre Grenzen reicht, keine Fransen, keine! Hinter der Wahrheit verbirgt sich Gewalt«, sagte August, als sie die Bank erreicht hatten, und er sah Wojnicz aufmerksam, ja vielsagend an. »Verlangen Sie nicht die Wahrheit. Es wäre schade um Ihre jungen Jahre.«

Tokarczuk schneidet sehr wenig ab. Sie lässt die vielen Meinungen zur Sprache kommen. Sie lässt den Wald wispern, die Wolken rauschen, die Blätter rascheln, den Morast schmatzen. Sie lässt den Männern ihren Pilzabsinth, der sich ‚Schwärmerei‘ nennt, der sie im Rausch hält, sie vergiftet. Vor allem lässt sie verständlich werden, wo die Unterdrückung, die Frustrationen herstammen, die die Männer im Gasthaus bewegen. Sie folgt aus dem beständig scheiternden Versuch, ihren Gedankenluftschlössern und Hirngespinsten Leben allein durch Worte, durch Argumente, durch aneinandergereihte Behauptungen einzuhauchen. Sie hängen aber allesamt gleichermaßen in der Bergluft und können keine Verankerung finden. Die Verankerung findet am Boden statt. Dort, bei den Schuhen, wo die Stimmen, der Chor der Bewohnerinnen flüstert, die Erdgeister wohnen. Hier wird das Assoziative von Tokarczuks Schreiben, ihr Erzählstil, durch das aus der Antike bekannte Stilmittel des Chors gerahmt und stellt einen formalen Bezug zu Sophokles Antigone her.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Olga Tokarczuks Empusion hat als Untertitel Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte und wird mit dem Zusatz auf dem Buchcover beworben, dass es sich um eine hintersinnige Replik auf Thomas Manns Der Zauberberg handelt. Die Lektüre zeigt jedoch, dass die Replik sehr vordergründing ist. Hintergründig, formal und stofflich antwortet Tokarczuk auf Jelineks Die Kinder der Toten, und zwar aus Gründen der Erzählinstanzkonzeption. Tokarczuks Erzählerinnen schweben über den Dingen, ohne allwissend zu sein. Im Gegensatz zu Manns Erzählinstanz reflektiert sie sich:

Das gelbliche Licht fällt auf den Tisch, den ein besticktes Leinentischtuch bedeckt. Trauben von reifen Holunderbeeren – die Farben des Garns sind schon verblichen. Im Schein der Glühbirne schimmern die weißen Teller, blitzen die Messer und Gabeln.
Wir aber glauben, dass das Interessanteste stets im Schatten verbleibt, im Unsichtbaren. Fünf Paar Füße unter dem Tisch, und gleich erscheint das sechste. Jedes Paar beschuht. Das erste erkennen wir wieder, es sind die abgewetzten Schuhe, die wir gestern auf dem Bahnhof sahen, Lederschuhe mit dünnen Sohlen, nun stehen sie brav einer neben dem anderen und bewegen sich nicht.

Bei Thomas Mann wird die Rechenschaft auf das Publikum selbst abgewälzt, d.h. die Erzählinstanz bleibt souverän, stets gleich weit entfernt und scheinbar unbeteiligt:

Denn, da wir immer gleich weit entfernt bleiben, diesen besser oder schlechter machen zu wollen, als er war, so sei mitgeteilt, daß, als der arme [Ferdinand] Wehsal eines Abends unter vier Augen mit bleichen Worten in ihn drang, ihm von den Erlebnissen und Erfahrungen der nachgesellschaftlichen Fastnacht doch um Gottes willen Näheres zu vertrauen, Hans Castorp ihm mit ruhiger Güte willfahrte, ohne daß, wie der Leser glauben mag, dieser gedämpften Szene irgend etwas niedrig Leichtfertiges angehaftet hätte.

Thomas Mann aus: „Der Zauberberg“

Tokarczuks Empusion, ein Neologismus aus ‚Empusa‘, die Bezeichnung für die Gespenster, die Hekate auf die Welt schickt, ihres Zeichens die Göttin der Totenbeschwörung und Wächterin der Tore zwischen den Welten, nimmt klar Bezug auf Jelineks Hauptwerk und vorletztem Roman. Dieser beginnt mit einer erfundenen Totenbeschwörungsgrafik und den Worten „Die Geister der Toten, die solange verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder grüßen.“ Die Selbstreflexion, bei Jelinek im erzählerischen Ich, bei Tokarczuk im Wir der Namenlosen Bewohnerinnen, die Rückkehr Karla Opitz in der Persona Wojnicz, all dies führt die Romane zusammen in Form und Thema:

Es ist so, daß man dem Leid des Menschen heute schon seine Gefäße zeigen kann, damit er weiß, wo er, folgt er nur seinen Tränen, einmal aufgefangen werden wird oder auch nicht. Ich schütte einen Menschen jetzt aus vor lachen und wickle dann rasend schnell seine Leitfadenrolle auf, die ich zu dem Zweck an ihm festgebunden habe, damit er von oben seine Möglichkeiten mit einem Blick in den Griff bekommen kann, die er dann Die Wahrheit nennen wird.

Elfriede Jelinek aus: „Die Kinder der Toten“

Von eben dieser Wahrheit spricht Doktor Semperweiß zu Wojnicz. Es ist die Wahrheit einer Antigone bei Sophokles, die sich von Kreon nicht das Recht nehmen lassen will, ihren Bruder zu begraben. Es ist auch die Wahrheit, die besagter Doktor, seines Zeichens Psychoanalytiker, an entscheidender Stelle in Olga Tokarczuks Roman der Hauptfigur sagt:

»Die Menschen haben ihre Fiktionen und glauben an das, was sie miteinander vereinbart haben. Wissen Sie, es muss nicht die Wahrheit sein, dass es nur entweder so sein kann oder so. Das hilft nur bei der Navigation, in der Praxis, Tuberkulose oder Syphilis, entweder das eine oder das andere – doch Sie wissen wohl selbst am besten, dass der größte Teil unseres Erlebens sich nicht in solch simple Kategorien fassen lässt.« Hier blickte er Wojnicz durchdringend an. »Ich möchte Ihnen zuraten, sich Ihre eigene Fiktion zu schaffen, zum Beispiel die, dass Sie vollkommen sind, so wie Sie sind.«

Von einem solchen Wahrheitsbegriff weiß ein Thomas Mann‘scher Erzähler nichts, der nach Belieben selbstsicher aus Lexika zitiert und nur zu gerne sein Publikum vorführt. Tokarczuk geht einen sanfteren Weg. Ihr Entweder-Oder löst sich in einem Surren und in einem Mitgefühl, in einem Miteinander auf. Ihre Position befindet sich windschief zu den geäußerten. Sie nimmt sich nicht aus. Die namenlosen Bewohnerinnen bezeugen dies. Sie gehen in den Schuhen des jeweilig anderen. Olga Tokarczuk grenzt sich von anderen Literaturen ab, indem sie sich nicht abgrenzt. Empusion ist so die helle Schwester von Jelineks finsteren Die Kinder der Toten, mit Humor, Empathie und einem außerordentlichen diskursiven Selbstbewusstseins.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Nächste Woche am 23. Mai 2023 auf Kommunikatives Lesen:
Benjamin von Stuckrad-Barres aktueller Roman Noch wach?.
Eine Kurzversion der Besprechung und noch andere aktuelle Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier

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