David Foster Wallace: „Unendlicher Spaß“ (iii: Resümee)

Unendlicher Spaß
Redlich schreibend bemüht, aber …

Die vorangegangenen Teile besprachen i:Inhalt und ii:Form von David Foster Wallaces Unendlicher Spaß. Es zeigte sich, dass sein Roman keinen geschlossenen Erzählrahmen besitzt, dieser statt dessen ausufert, ausfranst, sich mathematisch wie ein narratives Fraktal verhält. Diese Form legt ein konzentriertes, aufs äußerste fokussiertes Lesen nahe, das nach Foster Wallace gegen den Zeitgeist des Einlullens und Berieselns agiert und wieder lebensnahe, wirklichkeitsgesättigte Wahrnehmen einübt. Er lässt hierzu in Unendlicher Spaß einen von seiner Rauschgiftsucht genesenden Biker einen Witz erzählen:

Kommt ein weiser alter rauschebärtiger Fisch bei drei Jungfischen vorbeigeschwommen und fragt »Moin, Jungs, wie ist das Wasser?« und schwimmt weiter; die drei Jungfische glotzen ihm nach, sehen sich an und fragen: »Was zum Teufel ist Wasser?«, und schwimmen weiter.

David Foster Wallace aus: “Unendlicher Spaß”

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Was an Unendlicher Spaß sofort auffällt: Es liest sich schwerfällig, umständlich und extrem langsam. Absätze, Kapitel lassen sich nicht überfliegen. Mehrere Zeilen lassen sich nicht auf einmal lesen. Die Stimmung und Atmosphäre wechseln in einem fort. Lesefluss entsteht nicht, und besitzt daher keine oft kolportierten Ähnlichkeit zu gleichermaßen anspruchsvoll angelegten Klassikern der Moderne wie Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder William Faulkners Schall und Wahn, die sich allesamt durch einen dezidiert durchgehaltenen Stil und Methode und Beobachterposition auszeichnen. 

Zu Hause sind manche Tage Ende August genau so, die Luft genau so leicht und begierig, mit etwas Traurigem, Wehmütigem und Vertrautem darin. Der Mensch als Summe seiner klimatischen Erfahrungen sagte Vater. Der Mensch als Summe seiner Wasnichtalles. Ein Problem, wenn unreine Eigenschaften zäh bis zum unweigerlichen Nullstand weitergetragen werden: Patt aus Staub und Schmachten. … aber jetzt weiß ich dass ich tot bin ich sags dir
Warum musst du denn dann hör zu wir können doch fortgehen du und Benjy und ich wo uns niemand kennt wo … Die Kutsche wurde von einem Schimmel gezogen, dessen Hufe durch den feinen Staub trappelten, spinnengleiche Räder klapperten fein und trocken, unterwegs bergauf unter einem gewellten Schal aus Laub. Ulme. Nein: Ollme. Ollme.

William Faulkner aus: “Schall und Wahn”

Faulkners Szenerien, die sich zwar durchmischen, verschiedene Perspektiven im Fließtext und in der Reflexionsebene überlagern, vermischen ihre Erzählfäden jedoch nicht. Sie bleiben voneinander getrennt und bewegen sich wie Parallaxe in unterschiedlichen Tempi gegeneinander. Ein aufmerksames Lesen bleibt in den Szenen, hält die Stimmen im Gedächtnis, deren Sehnsüchte, Ängste, deren Erfahrungen, die sich auf diese Weise langsam zu einem Gesamtbild ergänzen, und lässt ein kohärentes, immer deutlicher werdendes Verständnis zu. Foster Wallaces Schreibstil verwehrt sich einem solchen. Es werden verschiedene Perspektiven durcheinander komponiert und sogar die Sprachebene, die Darstellung selbst, durchbrochen:

Es war für Don G. eine Zeit der moralischen Verwirrung, und seine Hälfte der postmortalen $ kam seiner Vorstellung quasi einer Geste am nächsten. Er packte nicht aus, dass Kite die andere Hälfte bekommen hatte, die er für Grateful-Dead-Raubpressungen ausgab und für eine transportable Halbleiterkühleinheit für seine D.E.C. 2100-Festplatte, die die RAM-Kapazität von deren Prozessor auf 32 mb² steigerte, was in etwa einer InterLace-Disseminator-Substation entsprach oder einem NNE-Bell-Handy-SWITCHnet; es dauerte allerdings keine zwei Monate, bis er die D.E.C. verpfändet und sich in den Arm gejubelt hatte und ein Dilaudid-Süchtiger geworden war […]

Don Gatelys Reise in den Drogenabgrund wird nicht nur, über das ganze Buch verteilt, komplex nacherzählt, so komplex und nichtlinear, dass die vollständige Geschichte sich wahrscheinlich erst nach vielfachem Lesen und Nachschlagen ergibt. Die Art der Nacherzählung selbst, wie erzählt wird, verflüchtigt den Zusammenhang durch hineinmontierte fremde Symbole, erfundene technologische Geräte, durch allesamt Dinge, die der Anschauung völlig entzogen sind (Bell-Handy-SWITCHnet? InterLace-Disseminator-Substation?). Ein Bild kann sich daher nicht ergeben. Foster Wallace legt es nicht auf Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit an. Die Irritation manifestiert sich sogar semantisch, wenn Druck- und Schreibstil wichtig wird (Groß- und Kleinschreibung, Dollar=$) oder völlig aus dem Rahmen fallende Bezeichnungen wie „mb²“ auftauchen, was möglicherweise einfach nur Gigabyte bedeutet.

Foster Wallace gestaltet seinen Text nicht als eine Passage hin zu einer Welt, von der er erzählen möchte, wie klassische Werke es tun. Er behandelt den Text als eine Art Bildschirm, auf dem er Verzerrungen einbaut, so dass der Blick auf das Darstellende statt auf das Dargestellte fällt, auf Störungen im Text, auf Textversatzstücke, die die Illusion zerstören, den unvermittelten Konsum unterbinden sollen. Als Analogie dient hier ein Fernsehbildschirm, der zersprungen ist. Die absurde Menge an nicht-erklärten, einfach so ins Auge springenden Abkürzungen tragen dazu hervorragend bei:

Otis P. Lord informiert SOWWAR und AMNAT, dass die topographische Flachheit von Peoria, Illinois, den effektiven Vernichtungsradius von SOWWARs 5-Megatonnentreffer auf 10,1km erhöht, womit die Hälfte der MAMA-BEV in den evakuierungsbedingten Verkehrsstaus auf dem Interstate 74 verbrennt. Eine AMNAT-Minuteman-Rakete kann maximal acht MIRVs transportieren, ungeachtet der Tatsache, dass der titanische Genitalschützer, den der kleine La-Mont Chu am Freitagabend aus der Sporttasche des sedierten Teddy Schacht abgestaubt hat, dreizehn tote Tennisbälle aufnehmen kann.

Nach klassischen Maßstäben liest sich David Foster Wallaces Roman verkrampft, gewollt und sprachzersetzend. Die Textebene schiebt sich so sehr in den Vordergrund, dass die Seiten teilweise zu einem Rebusrätsel geraten. Wie die in der Literaturkritik oft herbeigeführte Parallele zu Der Mann ohne Eigenschaften textlich begründet werden kann, bleibt ein eben solches Rätsel, sobald Musils Stil mit dem von Foster Wallace direkt verglichen wird:

[Ulrich] hatte versucht, das [von der Unlust an der Liebe] möglichst unfeierlich zu sagen; er zündete sich zur Regelung des Gesichtsausdrucks sogar eine neue Zigarette an, und auch Diotima nahm aus Verlegenheit eine, die er ihr anbot. Sie machte eine spaßhaft trotzige Miene und blies den Rauch in die Luft, um ihre Unabhängigkeit zu zeigen, denn sie hatte ihn nicht ganz verstanden. Aber in seiner Gänze als Geschehnis wirkte es doch lebhaft auf sie, daß ihr Vetter alles das mit einemmal gerade in dieser Kammer, wo sie allein waren, zu ihr sagte und sich dabei nicht die kleinste gewöhnliche Mühe gab, ihre Hand zu fassen oder ihr Haar zu berühren, obgleich sie die Anziehung, die die Körper auf einander in dieser Enge ausübten, wie einen magnetischen Strom spürten.

Robert Musil aus: “Der Mann ohne Eigenschaften”

Die Sätze Musils sind ähnlich lang wie die von Foster Wallace, aber sie führen geschlossen auf ein Ziel zu, und sie besitzen einen durchgängigen Rhythmus und eine Form, die ein ausgewogenes und gleichsam ruhig vor sich gehendes Lesen ermöglichen. Ein zerklüftetes, textlich zerstörtes und verzerrtes Buchstaben-Weichbild gibt es bei Musil nicht. Foster Wallace setzt jedoch alles daran, die Selbstverständlichkeit der geschriebenen Sprache auszuhebeln, und zwar mittels Fachjargon, unbekannten Abkürzungen, gewollten Neologismen, überfordernden Appositionen, Einschüben und seitenweisen Exkursen über beispielsweise Chemikalien, Drogensorten und Filmserienproduktionen. Selbst wo er narrativ wird, verwendet er zur Beschreibung technisch-akkurate, aber ästhetisch provozierende, eher lähmende und die Illusion zersetzende Begriffe:

Wo das Bett gestanden hatte, befand sich jetzt nur noch das dubiose Gestell. Es wirkte wie ein zerbrechliches Exoskelett, ein planes tiefliegendes schwarzes Stahlrechteck. Alle vier Ecken des Rechtecks verfügten über Lenkrollen. Die Rädchen der Lenkrollen waren unter dem Gewicht des Betts und meiner Eltern in den Veloursteppich eingesunken und in den Teppichfasern kaum mehr zu sehen. An jeder Innenseite des Gestells war in einem Winkel von 90° eine schmale Stahlleiste angeschweißt, sodass ein einziges Leistenrechteck rechtwinklig an der Gestellinnenseite verlief. Das Leistenrechteck hatte offenbar die Funktion, die Bettinsassen, den King-Size-Sprungfederrahmen sowie die Matratze selber zu tragen.

„Exoskelett“, die wiederholte Verwendung von „Rechteck“ in verschiedenen Spielarten, das „90°“ und sowieso überflüssige Details, die nur dazu verleiten, sich über die Beschaffenheit eines Bettgestells belehrt zu fühlen, ohne dabei etwas zu lernen, lassen Unendlicher Spaß teilweise zur Tortur werden, ohne jedoch eine gleichbleibende Intensität und zwingende Konsequenz zu kreieren wie bspw. ein gleichermaßen destruktives Werk wie Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten.

Desillusionierende Prosa

David Foster Wallace hat mit Unendlicher Spaß keinen modernen Klassiker geschrieben. Er besitzt weder die Geschlossenheit noch das Sprachvertrauen dieser Sorte Buch. Er stellt sich nicht neben John Dos Passos‘ Manhattan Transfer, James Joyces Ulysses, Virginia Woolfs Die Wellen, Fernando Pessoas Das Buch der Unruhe, Ingeborg Bachmanns Malina oder Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand. Er gehört vielmehr in die Kategorie der sprachzersetzenden Werke wie Ernesto Sabatos Abbadon, Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten oder Julio Cortázars Rayuela – Himmel und Hölle:

Die Invention der Seele durch den Menschen, ein Gedanke, der jedesmal auftaucht, wenn man den Körper als Parasiten empfindet, als Wurm, der am Ich klebt. Sobald man sich leben fühlt (und Leben nicht als etwas bloß Hingenommenes, als gut-dass-es-das-gibt), wird mit einemmal der nächste und liebste Teil des Körpers, wie zum Beispiel die rechte Hand, zu einem Gegenstand, der auf abstoßende Weise seine zweifache Beschaffenheit verrät – nicht ich zu sein und mir dennoch anzuhängen.

Julio Cortázars aus: “Rayuela – Himmel und Hölle

Die Wirkung von Rayuela ähnelt der von Unendlicher Spaß. Das Leseerlebnis desavouiert sich selbst und hinterlässt Desillusion und Dissoziation, ohne die Selbstsicherheit in der Fugung und Verfügung von Sprache wie Jelinek sie erzeugt, die mit der Sprache wie mit Natur spielt und als Untote wieder auferstehen lässt. Jelineks Romane besitzen einen durchgehaltenen Klang, einen festgehaltenen Beobachtungsstandpunkt, eine innere, düstere, aber aufrechterhaltene Zwangsläufigkeit, die ihren Gegenstand festhält und nicht loslässt. Bei Cortázar hingegen verkommt das Erzählen und Nacherzählen zur Spiegelfechterei. Gegen Cortázar behauptet Foster Wallace jedoch intensive, mitreißende Passagen, in denen das durch das Nehmen von Drogen erzeugte Leid und Elend klar vor Augen gestellt wird:

[…] und sie nahm das tote Baby überallhin mit, auch wenn sie auf schmutzige Weise anschaffen musste, denn alleinerziehende Mutterschaft hin oder her, sie musste trotzdem high werden und musste trotzdem tun, was sie tun musste, um high werden zu können, also hielt sie das in Decken gewickelte Baby in den Armen, wenn sie in ihren fuchsienfarbenen Samt-Minipants und dem passenden rückenfreien Oberteil sowie grünen Pfennigabsätzen auf den Strich ging, bis sich die Beweise nicht mehr wegdiskutieren ließen, wenn sie um ihren Block spazierte – es war August –, sagen wir einfach, es gab zwingende Beweise, dass das Baby in dem fleckigen Deckenkokon in ihren Armen kein biologisch lebensfähiges Baby war, und Passanten auf South Bostons Straßen prallten kreidebleich zurück, wenn sie vorbeikam, mit Schwangerschaftsstreifen, braunen Zähnen und ohne Wimpern […]

Foster Wallaces literarischer Stil ähnelt stark dem von Alexander Kluge, der ebenfalls vom Fernsehen beeinflusst, mit und über dieses schreibt und eine selbige meta-biographische, fast-dokumentarische Erzählweise pflegt. Seine Bücher stellen einen fließenden Übergang zwischen Essayistik, Philosophie, Soziologie, Medientagebuch, Journalismus und Literatur dar. Sie enthalten Fotos, Montage, und störende Schriftsätze und Stilbrüche, sowie abstrahierende Adjektive und hinzugefügte Theorieversätze. Zudem lebt Kluges Erzählweise von hintergründig Angedeuteten und findet dort mit David Foster Wallaces Schreibweise zusammen wie Kluges Neue Lebensläufe. 402 Geschichten zeigt:

So war, bei aller Differenz zur Gleichgeschlechtlichkeit, die unbedingt zu vermeiden war, eine virtuelle erotische Berührung zu verzeichnen, befremdlich und befriedigend für Bachmüller, besser als jeder ihm bekannte ausgeführte Geschlechtsverkehr, der in diesem Falle, wie er sich sagte, seinerzeit von strengen Strafen bedroht gewesen wäre. Es war kein körperlicher, es lag ein geistiger Genuß in jenem Einfall (und Augeneindruck der blauen Augen des Verhafteten); das war etwas Bleibendes, weil spirituell. Und ich kann versichern, so Bachmüller, es war ein spontaner Entschluß, kein moralischer.

Alexander Kluge aus: “Neue Lebensläufe. 402 Geschichten”

Kluge streift mit seiner Erzählweise nur geradeso die Handlungsebene. Sie bleibt impressionistisch, intellektualisiert, in der Distanz gehalten, denn die „virtuelle erotische Berührung“ wird nicht literarisch gestaltet, nur als solche benannt, wie „ein geistiger Genuss“ attestiert, aber nicht inszeniert wird. Die Mischung aus Theorie, Literatur und Journalistik voller Verweise, Versatzstücke und Referenzen an andere Medien, Kunstwerke und Epochen konvergieren zwischen Foster Wallace und Kluge. Selbst der Ton gleicht sich:

PRÄSIDENTENBÜRO LAUT FRISCHPENSIONIERTEM HAUSMEISTER VOM WEISSEN HAUS »EIN ZWANGSNEUROTISCHER HORRORTRIP« – Boulevardblattschlagzeile nebst Foto eines alten Mannes, der praktisch nur eine, quer über die ganze Stirn verlaufende Augenbraue hat und einen riesigen Plastikeimer hochhält, der die Ausbeute eines einzigen Tages an Dentalstimulatoren, alkoholgetränkten Wattebäuschen, Fläschchen Darmreiniger in Militär-Röntgenstärke, Epidermalasche, OP–Masken und –Handschuhe, Q-Tips, Kleenex und Döschen homöopathischer Pruritiscreme enthalten soll.

Eine Passage, die aus Unendlicher Spaß stammt, aber genauso gut in Alexander Kluges und Oskar Negts Geschichte und Eigensinn oder in Kluges Lernprozesse mit tödlichem Ausgang stehen könnte. In einem Interview, das zum ersten Mal 2004 erschien, spricht Kluge über die Rolle und die Möglichkeiten des Romanes im Zeitalter der neuen Medien, insbesondere des Internets. Nach ihm können klassische Erzählweisen, also herkömmliche Romane, den Möglichkeiten der Assoziationsräumen nicht mehr gerecht werden:

Wir brauchen Kommentar. Grundlage. Zusammenhang. Kontext. Dann ist die Literatur fähig, mit dem Internet, das einen Riesenkontext enthält, allerdings einen etwas wirren, zu korrespondieren. Ein einzelner Roman kann diese Kontexte nur dann herstellen, wenn er jetzt die Methode James Joyce noch einmal strapaziert. Und das führt an irgendeiner Stelle zu der Unmöglichkeit, die Haupthandlung überhaupt noch zu erkennen.

Alexander Kluge aus: “Die zwei Paar Ohren der Fledermaus

Exakt diese Form, sowohl Kommentar wie Kontext, sowohl Erzählung wie Interpretation, Text wie Subtext zugleich zu liefern, wählt Foster Wallace. Es geht ihm darum, eingefahrene Denkbahnen zu verlassen, neue Imaginationsräume zu erschließen und ein ästhetisches Widerstandspotential zu entfachen, ganz wie er es 2005 in seiner Rede vor dem Abschlussjahrgang des Kenyon College als Ziel und Projekt seines literarischen Bemühens formuliert hat:

Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit, und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag. Das ist wahre Freiheit. Das heißt es, Denken zu lernen. Die Alternative ist die Gedankenlosigkeit, die Standardeinstellung, die Tretmühle – das ständige Nagen, etwas Unendliches gehabt und verloren zu haben.

David Foster Wallace aus: “Das hier ist Wasser”

Dass hierbei weniger Literatur, weniger ein Roman als ein Exerzitium hervorgebracht wird, das didaktisch und propädeutisch die Form des Romans nur zum Anlass nimmt, eine Aufmerksamkeitsschulung durchzuführen, hat auch Alexander Kluge nicht vor dem Veröffentlichen abgeschreckt. Nur hat dieser niemals von einem Roman oder einer Fabel gesprochen, wohingegen David Foster Wallaces Unendlicher Spaß fälschlicherweise im Deckmantel eines Romans daherkommt, tatsächlich aber eine beliebig erweiterbare Materialsammlung von unterschiedlicher Güte und Intensität über das postmoderne Leben von Jugendlichen und ihr Drogen-Nehmen darstellt. Zusammengeführt wird nichts. Angerissen fast alles. Wer es liest, wird belohnt und enttäuscht in einem.

Vor diesem Hintergrund erscheint Unendlicher Spaß wie eine ideenlose Fleißarbeit, wie ein Schreiben, das um seiner selbst willen schreibt, das schreibt und schreibt, um mit Komplexität, Artistik und aufwendiger Montagetechnik vergessen zu machen, dass es im Grunde nichts zum Erzählen hat.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Außerplanmäßig werde ich ab und zu Besprechungen zu Klassikern posten. In diesem Zuge soll nach und nach mein Ein Kanon an Leben und Inhalt gewinnen.
Andere aktuelle und Klassiker-Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier.

23 Antworten auf „David Foster Wallace: „Unendlicher Spaß“ (iii: Resümee)“

    1. Herzlichen Dank. Ich konnte mich beim besten Willen nicht kürzer fassen, ohne dass Gefühl zu haben, meinen Eindruck unbegründet zu lassen. Es war ein Auf-und-Ab im wahrsten Sinne des Wortes, eine ziemliche Gemischlage, das Buch zu lesen. Es freut mich, dass diese Unendliche Spaß-Reihe nicht als Spam rüberkommt 🙂 Mir lag das Buch stets im Magen, und selbst beim Lesen wusste ich oft nicht, was das da vor mir liegt. Ich denke, es steht maßgeblich für eine gewisse, sehr kalte Literaturentwicklung, die für viele zum Vorbild geworden ist, aber nicht ganz meinen Nerv trifft, denn ich mag Erzählungen, Kohärenz, eine gewisse Verlässlichkeit in Aufbau, Struktur und Umfang, aber vor allem in Stimmung und Perspektive. Vielleicht helfen meine Beobachtungen, sich ein Bild über dieses Ungeheuer an Buch zu machen 😀 insbesondere meine Inhaltsangabe (puh!). Viele Grüße und nochmals Danke für die netten Worte!!

      1. Mir hätte es auch im Magen gelegen 😉. Stimmt, Stimmung und Perspektive sind wichtig. Da klappe ich manches Buch schon mal zu 🫢
        Viele Grüße!

      2. Bücher zuklappen zu können ist eine wichtige Fähigkeit 🙂 Ich hätte so manches Buch eher zuklappen sollen, “Unendlicher Spaß” gehört überraschenderweise nicht dazu, es war dennoch nicht schön. Ich habe meine Besprechung so verfasst, dass ich, hätte ich es noch nicht gelesen, mir mit der Besprechung im Rücken nun das Lesen sparen könnte. Ich denke, das war mein heimliches Ziel 😀

      3. Danke, schreibundsprich, Alexander Carmele, Gerda, Ule Rolff, Myriade u.a. für’s nicht kürzer Fassen (wollen), denn es benötigt den längeren Atem, um mit dem mäandrierenden Satzperioden, diesem Schreibstil von Wallaces und seinen Stilprinzipien oder Maxime umzugehen »Schreib nie einen kurz Satz, wenn’s auch ein langer tut«. Trotzdem ist dies Buch kompromisslos klug geschrieben, gefühlvoll, ergreifend, nie langatmig geschwätzig, umständlich oder langweilig. Das Dilemma wird sofort erkennbar, wegen der sich eröffnen Komplexität von mikroskopisch bis teleskopisch unverständlich zu werden oder den Text zu vereinfachen, wie es Alexander in seinem Resümee andeutet. Zum ersten Mal 2010 gelesen, doch irgendwie beschäftigt mich dies Buch sowie der Autor nach wie vor: ‘Mir lag das Buch stets im Magen’, schreibst du, Alexander. Ja, es ist schwer zu “verdauen”, wenn sogar gar nicht oder kaum zu verdauen?! Deshalb ein Zitat zur nächsten Kostprobe: “Das ferne Gebrüll des gewaltigen ATHSCME-Gebläse weit im Norden an der Mauer und Grenze, die Stimmen draussen und das pock der kalten Bälle weben einen Geräuschteppich unter die Verdauungsgeräusche des Luftbefeuchters und das Quietschen der Sprungfedern in Troeltschs Bett, wenn er sich in klammen Halbschlaf hin und her wälzt. Er hat (…). Er fällt in diesen unschönen, opioiden, fiebrigen Halbschalf, eher eine Fugue als Schlaf, weniger ein Schweben als ein Dahintreiben, ausgesetzt auf stürmischer See, das ihn immer wieder unsanft von einem Halbschlaf in den nächsten schleudert, wo der Verstand noch arbeitet und man sich im Traum noch fragen kann, ob man eigentlich schläft. Und alle Träume sind an den Rändern ausgefranst, angeknabbert, unvollständig” (S.89). Ich fragte mich bereits nach den ersten Seiten, wie jemand gewillt sein konnte diesen monströsen Gesellschaftsroman zu übersetzen? Somit näherte ich mich über Ulrich Blumenbach Basel an. Nach seiner 6 jährigen Übersetzungsarbeit, sagte er einiges wirklich erhellendes dazu. Somit nahm ich diese Herausforderung an, es nur zu lesen. Wofür ihm Preise zugesprochen wurden, dem Leser oder Lesenden nicht ;-). Ich versuche (mich vermutlich immer noch) anzunähern an die zahlreichen Perspektiven sowie diese Gabe des Autors, in die HAUT anderer zu schlüpfen. Während des Lesens legte ich zahlreiche “Zettel” an, welches nahezu in kompletter “Verzettelung” hätte enden können, die jede:r vermutlich aus eigener Erfahrung kennt, der Struktur und Aufbau eines Romans analysieren möchte. // In der amerikanischen Literatur bezieht sich die Bezeichnung «postmodernism» auf die Gruppe von Autoren, die in Geduldsspielen durch akribische Recherchen, Belesenheit und Kenntnis der Literatur die Realität mit Phantasie und Science Fiction verwischen, indem sie das formale und motivische Inventar zur Hinwendung der “Perspektiven” verwenden. Perspektiven, die das Subjekt dekonstruieren, die Biografie, Handlungslogik und gewohnte Zeitrechnung ablösen sowie die negierende Kulturauffassung vollziehen. Gesellschaftskritisch löst Wallace einiges ab oder lässt es raffiniert zum Möbiusband oder liegenden ACHT der Abhängigkeit und Wiederholung werden. Wie der Film, der den Betrachtenden solche Lust bereitet, so dass sie sich Endlosschleifen einrichten und darüber vieles vergessen, wie Trinken, Körperhygiene und zu schlafen. Und am Ende jämmerlich krepieren. Die julianische/gregorianische Zeitrechnung, Datierungen und Daten werden durch die Sponsorenzeit abgelöst, der politische Staatenbund Onanie löst die USA, Kanada und Mexiko etc. ab und die Beschäftigung mit sich selbst wird zu dem Thema des Romans. Sowie dieser Unterhaltungskram der SPASSGESELLSCHAFT, die der entfesselte Kapitalismus anbietet mit seiner Konsumierbarkeit von Gesundheit, Kosmetik bis hin zu Drogen, Alkohol, Spiel, Sport usw. Vieles ist haarklein, penibel und präzise durch die Mühle der Ironie gedreht oder auch in Passagen unterschiedlichster sprachlicher Dialekte verpackt. Der Universitätscampus zur Architektur eines pumpenden Herzens gemacht, InterLace-Netzwerk & System zur Kommunikation, Terroristen usw. und es scheint kaum ein Bereich der Gesellschaft und Kultur ausgelassen worden zu sein. Die Vertreter der Postmoderne und des postmodernen Denkens bewerten den derzeitigen Pluralismus “anything goes“. Und sie verweisen gleichzeitig auf den Verlust der Wertigkeit und dass das vielfältige Neue seine Verbindlichkeit verloren hat. (Und vermutlich nur Abhängigkeiten (durch Unwissen) schafft?!) Doch, im Einzelfall macht Fremdheit oder Befremdliches auch frei, so wie dieser Roman auch zeigt, denn es werden Worte und Begriffe benutzt, die mir ziemlich fremd und unbekannt waren // Du, Alexander denkst, es steht maßgeblich für eine gewisse, sehr kalte Literaturentwicklung, die für viele zum Vorbild geworden ist, aber nicht ganz deinen Nerv trifft, denn du magst Erzählungen, Kohärenz, eine gewisse Verlässlichkeit in Aufbau, Struktur und Umfang, aber vor allem in Stimmung und Perspektive. Und du erinnerst an Marcel Proust, der die gleiche unerhörte Genauigkeit, Konzentration und Obsession sowie das gleiche Gefühl, dass der Autor das Bewusstsein eines Zeitalters erfassen wollte, was Wallace wohl gelang. Und ich meine, dass es ihm mit der Idealvorstellung nicht cool zu sein und einer gewissen Authentizität und Integrität gelungen ist, die in vielen seiner Erfindungen nachzuspüren ist

      4. Ich denke, dass dein Kommentar sehr wichtig ist und eine andere Seite von diesem Buch betont, das sehr sozialkritisch ist und sozialkritisch wirken und sein will. Ich habe dieser Seite nicht viel Aufmerksamkeit gegeben, obwohl doch die Intention, die Aussagen des Autors klar in diese Richtung weisen – als Alternative habe ich ihm selbst das Wort mit seinem Essay E Pluribus Unum gelassen und versucht über seine eigene Sprache und Absätze diesen Aspekt von selbst erscheinen zu lassen. Diese zu betonen, macht Sinn für mich.

        Was mir jedoch bei dem Roman gefehlt hat, und das finde ich schade, kompositorisch, denn ich habe wie du sehr aufmerksam gelesen, jeden Satz anerkannt, mir Notizen, Diagramme angefertigt und eine Übersicht über die Handlungsvorläufe aufgeschrieben, aber nur mit dem Ergebnis: Ja, Genaues weiß keiner, es kann endlos weitergehen. Viele einzelne Szenen werden mir im Gedächtnis bleiben, im Guten wie im Schlechten, aber dass der Roman nicht eine einzelne Handlungsverfugung auflöst, nun, das ist schon ein harter Brocken. Mag aber sein, dass das eben zu unserem Zeitgeist passt, und dann muss ich leider gestehen, habe ich noch keinen Weg gefunden, daraus einen größeren Mehrwert zu ziehen. Es ist, als ästhetische Position, verständlich, die Komposition aufzugeben, die Form allein sprechen lassen zu wollen, und mit meiner ausführlichen Beschreibung wollte ich dies betonen: Wer das offene Kunstwerk will, wird mit David Foster Wallace, wie du ganz zu recht bemerkst, bestens bedient. Die Übersetzungsarbeit von Blumenbach ist phantastisch. Ich habe nur einige Passagen auf Englisch gelesen. Es war schlicht nicht notwendig, ins Original zu schauen 🙂

        Danke für deine Bemerkungen und deine Betonung der sozialkritischen Seite, und auch die Betonung, und Verständlichmachung, weshalb dieser Romane so große Wellen geschlagen hat!

        Viele Grüße!!

  1. Ich habe jetzt nur dieses Resümee gelesen und werde mir das Nachlesen der anderen beiden Teile ersparen, lieber Alexander, obgleich ich deine Besprechungen ganz großartig finde. Ich mag mich aber nicht weiter mit diesem Buch befassen. Mir fiel auf, dass das, was du über diesen “Roman” sagst, sich schön im Titelbild ausdrückt : Unsere tradierte Ideen- und Gedankenwelt, die sich in Sprache manifestiert, zerfetzt und kunstvoll neu zusammengesetzt zu “interessanten” banalen, flachen Mustern.
    Das Wort “jest” kenne ich nicht, der google translater sagt: “Scherz”, vielleicht in der Bedeutung: mit der Erschaffung des Menschen hat Gott sich einen Scherz erlaubt.

    1. Liebe Gerda, ich denke auch, dass mit “Unendlicher Spaß” sich das Universum einen gewissen perfiden Scherz erlaubt. Meine Besprechung gleicht etwas einem Exorzismus, denn ich habe so viel über dieses “bahnbrechende” Buch gehört, und es lag so lange in meinem Regal (und bog schon das Holz U-förmig herab), dass ich dachte, es wird Zeit. Mich freut es, wenn du bereits durch Teil 3 einen Eindruck erhalten hast. Teil 1 und Teil 2 sind auch eher für die, die es vielleicht angefangen oder schon gelesen haben, oder einen selbigen Daimon wie ich im Nacken sitzen zu haben vermeinen. Du hast ihn nicht (hätte ich auch nicht gedacht). Ich bin da ganz deiner Meinung. Ich sende dir fröhliche und befreite Grüße!!

  2. Eine sehr ehrenwerte Schreibintention, sich dem bequemen Konsum zu entziehen und den Leserinnen was zu kauen zu geben. Aber 1500 Seiten literarische Erziehung zur Frustrationstoleranz möchte ich nicht über mich ergehen lassen, dazu ist das Leben einfach zu kurz. Insofern hat Foster Wallace ein Ziel erreicht: “ästhetisches Widerstandspotential zu entfachen”, bei mir gegen sein Buch.
    Dir, lieber Alexander, gilt meine ganze Bewunderung, allein für das Lesen und Wiederlesen, ohne die so eine brillante Buchbesprechung nicht möglich wäre. Außerdem für das Schreiben dieser drei Texte – da kann niemand behaupten, du habest nicht versucht, Foster Wallace gerecht zu werden. Und ich fühle mich fundiert entschuldigt, diese Bildungslücke so leer stehen zu lassen. Meinen ganz großen Dank an dich. Den “Unendlichen Spaß” habe ich bei dir gefunden.

    1. Ach, da freue ich mich! Und Danke fürs Durchhalten 🙂 Selbst die Besprechung hat ja Textmassen verursacht. Nein, dein Widerstandspotential erwacht ganz zu recht. Es hat nicht sollen sein – die Didaktik eines Foster Wallaces in allen Ehren. Im Grunde habe ich es genau das mit meinen ausführlichen Besprechungen gewollt, ein gutes Gewissen fürs Nicht-Lesen als kleiner Service, denn ich habe mir große Mühe gegeben, einen repräsentativen Ausschnitt vorzustellen (und eine Inhaltsangabe mit Chronologie). Am Ende komm ich zu dem eigenartigen und etwas wunderlichen Ergebnis, das bestmögliche schlechte Buch. Dein Nagen kann ein Ende haben, liebe Ule!! Danke für deine lieben Worte. Einen schönen Wochenausklang wünsche ich! Hier in Berlin scheint sogar die Sonne, vielleicht bei euch auch!

      1. Hier hat’s gerade geregnet, aber was kann mir das anhaben? Schließlich sind mir gerade durch dich viele Stunden Lebenszeit geschenkt worden 🙂.
        Hab auch du noch Freude am restlichen Sonntag!

  3. Ich kann mich nur anschließen bei der Bewunderung deiner Lese Leistung! Dass die Riesenrezension gut ist und einen aufschlussreichen Eindruck vermittelt muss ich nicht wiederholen. 😃Eine gute Woche mit neuer Lektüre wünsche ich 🌹

    1. Danke vielmals! Es war viel Arbeit, es ist schön, dass die Besprechung etwas Klarheit schafft. Ich habe das bei diesem Buch gebraucht 🙂 Ich wünsche auch einen schönen Wochenstart!! Viel Sonne und auch gute Lektüren!

  4. Möchte auch danken! Habe “Infinite Jest” auf Englisch gelesen, puh, ganz recht: ne Aufgabe! Sprachzersetzend ist das Buch wohl, aber noch nie habe ich so viele Worte neu gelernt und genossen! Geh mir mit Cortazar….(Bin gerade an ‘Rayuela”). Was ich mit Dir vllt gemeinsam habe: Mir sind auch geordnete Strukturen lieber. Aber Deinen Fleiss und Deine Gründlichkeit möchte ich haben!

    1. Auf Englisch! Das habe ich nur in Auszügen getan. Die Übersetzung von Blumenbach finde ich sehr gelungen. “Rayuela” muss ich mir vielleicht mal wieder zu Gemüte führen. Zum Fleiß – ich merke, dass ich erst einmal das Buch Revue passieren lassen muss, um es auch wirklich zu beenden. Es wabert einfach sonst weiter in mir herum 😀 Es gleicht also mehr einem Aufatmen und Ausatmen, und die Freude, etwas, zumindest fürs Erste, beenden zu können. Bin gespannt auf deine Leseerfahrung mit Rayuele!! Danke für den Kommentar!

  5. Hallo lieber Alexander,

    auch ich möchte mich bedanken für deine tolle Rezension dieses widerständigen und durch seinen depressiven Grundton schwer erträglichen Textes! Jedenfalls hat er mich richtig beklommen gemacht, weshalb ich die Lektüre abbrechen musste. Dennoch ist er natürlich ein großartiges Kunstwerk, das ich nun durch dich besser kennelernen konnte, ohne noch mal heruntergezogen zu werden.

    Den Vergleich mit Rayuela finde ich allerdings nur eingeschränkt zutreffend. Natürlich hatte auch Cortázar das Anliegen den/die Leser:in aufzuwecken (u.a.), aber das wachmachende Verstörende spielt sich doch wirklich nur auf der Inhaltsebene ab und im Spiel mit den Kapitelanordnungen. Es gibt eigentlich nichts in Rayuela, das man nicht zügig lesen kann. Natürlich haben einige Kapitel strange Inhalte, für die man offen sein muss, aber wenn man diese Offenheit besitzt, ist alles gut zu verstehen. Und dann enthält ja der erste Lesepfad (normale Kapitelreihenfolge) sogar einen traditionellen Roman, eine Liebesgeschichte im Bohème-Ambiente, und Cortázar wollte das exakt so. Er nannte diese Geschichte die Version für den Lector Hembra, das Leserweibchen(er war halt auch ein alter Macho). Jedenfalls wollte er diesem/r Leser:in eine einfach zugängliche, im Grunde traditionelle Geschichte bieten, während hinter der Fassade dieser Version die interessantere versteckt ist, die auf den Lector Cómplice abzielt, und die man entdeckt, wenn man nach der alternativen Kapitelreihenfolge (s. Wegweiser vorne im Buch) liest.
    Cortázar hatte im übrigen eine romantische Sehnsucht nach einem Kontakt zu seinen Leser:innen. Diese Sehsucht wird in Rayuela intensiv thematisiert und ist für mich ebenfalls das krasse Gegenteil zur z.T. paranoiden Einsamkeit in Infinite Jest (natürlich gibt es auch in Rayuela paranoide Einsamkeit, aber eben auch ein intensives Sehnen da raus)

    1. Liebe Smilla,

      Danke für deine Anmerkungen und Verweise. Ich habe damals Rayuela auf eine gewisse Weise verstanden, die vielleicht heute anders ausfällt. Viele Sequenzen, viele Passagen fand ich damals gestelzt, aber nicht ungekonnt, und ich wusste, dass er mich provozieren, herausfordern und aus der Reserve locken will – nur unter diesem Aspekt verglich ich das Buch mit David Foster Wallaces. Tatsächlich stimme ich völlig zu, dass die Grundstimmung eine völlig andere ist, und ich eher Rayuela nochmals lesen würde als “Infinite Jest”. Das stimmt in jedem Fall. Danke, dass du mich motivierst, das Buch nochmals zu lesen. Ich habe es mir vorgemerkt!!

      Viele Grüße!

  6. Ich liebe die Auftragsarbeiten von D.F.W., wie “Consider the Lobster” (über das Lobster Festival in Maine) oder “Schrecklich amüsant, aber in Zukunft lieber ohne mich” (über eine Luxus-Kreuzfahrt, quasi Heilmittel gegen alle Traumschiff -Sehnsüchte unserer Zeit) Ich hatte beide Reportagen kürzlich in der Hand (für Unterm Maulbeerbaum) und ich kann sie beide nicht genug empfehlen. Wieso fokussiert sich alle Welt auf Romane? Liebe Grüße

    1. Ich habe gerade sein Cantor-Buch gelesen, die Aufsätze waren mir noch kein Begriff! Danke fürs Aufmerksam-Machen. Ich werde sie lesen 🙂 Ich denke, dass DFW ein Händchen für Glossen hat, für Interventionen in die journalistischen Wissensbezüge, das sicherlich. Vor allem in Bezug auf Film und Fernsehen war er sehr aktiv.

      Ich finde im übrigen gar nicht so sehr, dass sich alle Welt auf Romane fokussieren. Kurzessays, Glossen, Feuilletons erfreuen sich größter Beliebtheit, Twitter etc … Romane, vor allem längere, kommen völlig außer Mode. Ich mag bei Romanen den Zeitaspekt, das Erleben einer Sprache, die sich entwickelt, hierfür benötigt es für mich Dauer. Lyrik besitzt etwas Blitzlichthaftes und hat einen eigenen Erhellungshorizont. Ich mag beides, finde es aber schwierig über Lyrik in Prosa zu schreiben.

      Danke für den Tipp, viele Grüße!!

  7. gute Frage: keine Ahnung. Dies Genre steht meistens auf dem Buchcover. Weshalb viele oder alle Welt sich darauf fokussiert: keine Ahnung? Ich hatte irgendwo und beizeiten gelesen, dass das Genre “Roman” – insbesondere für Frauen als Leserinnen – entwickelt worden sei ….

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