
Umberto Eco, Verfasser von dem Roman Der Name der Rose, aber auch von kulturkritischen Schriften wie Apokalyptiker und Integrierte, besitzt eine ganz eigene Vorstellung vom Genre des Unterhaltungsromans. Seine Bücher spielen mit dem enzyklopädischen Wissen. Sie setzen nicht Wissen voraus, aber kulturell-historisches Orientierungsvermögen – so scheint es. Wer aber den Wissenschaftler der Semiotik zu sehr in den Gaukler des Erzählens übergehen lässt, verpasst, was den Romanen von Eco, auch in Die Insel des vorigen Tages, vorrangig bleibt, nämlich ungetrübte, sich selbst überlassene, über sich hinausgreifende Sprachfreude:
Jede Woge glitzert in schimmernder Rastlosigkeit, hier windet eine Dampfsäule sich empor, dort gurgelt ein Strudel und reißt eine Quelle auf. Bündel ekstatischer Meteore bilden den Gegengesang zur aufrührerischen und in Donnergetöse zerborstenen Luft, der Himmel ist ein Flimmern von fernsten Lichtern im Wechsel mit tiefster Finsternis, und Roberto schreibt, er habe schäumende Alpen gesehen in schlüpfrigen Furchen, die den Schaum zu Garben verwandelt hätten, und der Ceres Früchte seien in Blüte gestanden zwischen funkelnden Saphiren, und von Zeit zu Zeit seien rotglühende Opale hervorgebrochen, als habe die tellurische Tochter Proserpina das Kommando übernommen und ihre fruchttragende Mutter vertrieben.
Umberto Eco aus: “Die Insel des vorigen Tages”
Inhalt/Plot:
Der Roman Die Insel des vorigen Tages wird von einem unbekannten Herausgeber erzählt, der die Aufzeichnungen eines gewissen Roberto de La Grive zusammenfasst und sich in diesen zeitweise auch hineinversetzt. Eine auktoriale Erzählweise, die über den Dingen schwebt und Bescheid weiß, wird vermieden, jedoch das personale Erzählen von Robertos Lebensweg reflektorisch fortgewebt und mit Zusätzen versehen, wie es dem Herausgeber beliebt. Die Handlung beginnt und endet im 17. Jahrhundert. Roberto schreibt als Schiffsbrüchiger, auf einem verlassenen Segelschiff namens Daphne, das in unmittelbarer Nähe zu einer Insel vor Anker liegt, die für Roberto aber wegen der Strömung und seines Unvermögens, das Wasser mittels Schwimmen zu überwinden, unerreichbar bleibt:
Vor der Nordspitze der Insel, wo sich eine fast glatte und senkrechte Wand erhob, entdeckte er aufsprühende Gischtfontänen, die an den Felsen schlugen und in der Luft zerstoben wie ebenso viele weiße Nönnchen. Sicher waren sie das Ergebnis von Wellen, die auf eine Reihe kleiner Felszacken schlugen, die er nicht sehen konnte, aber vom Schiff aus schien es, als bliese eine Seeschlange jene kristallenen Flammen aus der Tiefe empor.
Es ist die Insel des vorigen Tages, zumindest in der Vorstellung Robertos und des Pater Caspar Wanderdrossels, der sich ebenfalls, wie sich herausstellt, auf der Daphne befindet, sich aber einige Tage vor Roberto versteckt gehalten hat. Neben der Thematik des Überlebens und wie die zwei, die nicht schwimmen können, die Insel möglicherweise doch erreichen können, beherrschen Reflexionen über Zeit und Raum die Gespräche zwischen ihnen. Der Roman spielt nämlich zu einer Zeit, als ein Preis für die Bestimmung der Längengrade ausgelobt wurde, für die statt der lokalen absoluten Zeit, die dem Sonnenstand entspricht, eine Relativzeit nötig ist.
Exkurs: Längen- und Breitengradbestimmung
Die Bewegung der Erde um sich selbst und die Sonne findet näherungsweise in einer Ebene statt, so dass die Ebene die Kugelsymmetrie der Erde bricht. Dies hat zur Folge, dass die Breitengrade unterscheidbar, die Längengrade aber ununterscheidbar sind. Unterscheidbar heißt, dass die Sonne je nach dem auf welchem Breitengrad gemessen wird, unterschiedlich hoch über dem Horizont steht (maximale Höhe wird am Äquator erreicht). Wird die Höhe über dem Horizont im jeweiligen Zenit gemessen, ergibt sich ein natürliches Raster für den Planeten. Der Längengrad aber, da er sich in der Drehebene befindet, bleibt ununterscheidbar. Ein Nullpunkt oder Maximalpunkt wie bei den Breitengraden gibt es nicht. Längengrade, im Unterschied zu Breitengraden, müssen festgelegt werden. Dies geschieht durch eine Referenzzeit, die aber lokal nicht bestimmt werden. Mit anderen Worten, das Schiff benötigt eine Uhr, die mit dem Sonnenzenit am Längengrad Null (Greenwich) synchronisiert ist (zwölf Uhr), und liest die Uhrzeit auf derselben Uhr ab, wenn an diesem Ort die Sonne den Zenit erreicht. Aus der Differenz lässt sich der Längengrad bestimmen (für jede Stunde 15°).
Aus dem begrifflichen Spiel zwischen der lokalen absoluten Bedeutung von Gestern und Heute und der relativen Aufweichung derselben im globalen Sinne (ein europäisches Heute mag für Japan bereits ein Gestern sein) entsteht die Vorstellung von einer Insel des vorigen Tages:
Mithin, sagte sich Roberto, sollte ich vielleicht aufhören, die astronomischen Ansichten meines neuen Lehrers in Frage zu stellen, und mich lieber anstrengen, endlich schwimmen zu lernen, um eines Tages das zu erreichen, was mich wirklich interessiert, und das ist nicht die Frage, ob nun Kopernikus und Galilei recht hatten oder dieser Tycho von Uranienborg, sondern die Flammenfarbene Taube zu sehen und den Fuß in den vorigen Tag zu setzen – was sich weder Galilei noch Kopernikus, weder Tycho noch meine Lehrer und Freunde in Paris je hätten träumen lassen.
Die Insel des vorigen Tages nimmt in Robertos Phantasie eine bedeutende Stellung ein. Sie wird zum Ort der Verheißung schlechthin. In der Verwirrung und Verwechslung zwischen absoluter und relativer Zeit stellen sich nämlich Roberto und Caspar vor, dass ein Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit möglich sei:
Dann plötzlich hatte Roberto eine strahlende Intuition. Was zermarterte er sich das Hirn? Natürlich, Pater Caspar hatte es ihm doch gesagt, die Insel, die er da vor sich liegen sah, war nicht die Insel von heute, sondern die von gestern. Jenseits des Meridians war noch der vorige Tag! Konnte man erwarten, auf jenem Strand dort, der ja noch gestern war, jemanden auftauchen zu sehen, der heute ins Wasser gestiegen war? Natürlich nicht!
Selbstredend schreitet die Zeit überall auf dem Planeten gleichsam voran, ganz gleich wie sie an den einzelnen Orten benamst wird. Roberto und Caspar glauben jedoch an die Magie der Benennung, an den Zauber der Namen, und wo die Datumsgrenze liegt, da liegt für sie auch die Grenze zwischen den Zeiten, da lässt sich ein Weg in die Vergangenheit bahnen. Eco thematisiert hier in Die Insel des vorigen Tages seine Variante des Nominalismusstreites, der im Herzen und Zentrum seiner eigenen Wissenschaft, der Semiotik, fortschwelt. In seinem Roman gerät er zum Anlass von Utopie, Verheißung, von Erzählung, Geschichtlichkeit und Liebe zu spekulieren.
»Ebendeswegen habe ich die Kraft der Liebe auf dasselbe Prinzip zurückgeführt, nach welchem auch das sympathetische Pulver funktioniert, nämlich dass gleichartige Atome von gleicher Form einander anziehen! Würde ich dieses Pulver auf die Waffe streuen, die den Pylades verwundet hat, so würde ich des Orestes Wunde nicht heilen. Daher vereint die Liebe nur zwei Wesen, die bereits in gewisser Weise von gleicher Natur sind, einen edlen Geist mit einem ebenso edlen Geist und einen rohen Geist mit einem ebenso rohen Geist – denn auch die Bauern lieben, genau wie die Schäferinnen, und das lehrt uns gerade die wunderbare Geschichte des Herrn d’Urfé. Die Liebe offenbart einen Gleichklang zwischen zwei Geschöpfen, der schon seit Anbeginn der Zeiten vorgesehen war, so wie das Schicksal seit jeher beschlossen hatte, dass Pyramus und Thisbe vereint sein sollten in einem einzigen Maulbeerbaum.«
Neben der Verliebtheit Robertos bleibt in Die Insel des vorigen Tages das Ziel der Längengradbestimmung zentral. Um die exakte Relativzeit zum Heimathafen zu bestimmen, wird eben jenes sympathetische Pulver bemüht, dass zwei Körper, ähnlich wie die Liebe, miteinander verschränkt. Verletzt ein Schwert ein Lebewesen und wird auf das Schwert jenes Pulver gestreut, so merkt das Lebewesen das Pulver und zuckt vor Schmerz zusammen. Diese Wechselwirkung, so die Vorstellung der Okkultisten und Alchimisten, besitzt keine Raumbeschränkung (wie moderne Spekulationen über die Quantenverschränkung). Aus all dem ergibt sich nun ein wildes Schwadronieren, Spekulieren und barockes Unterfangen, die Welt um Roberto herum zu beschreiben:
Da warf Roberto, nach dem schönen Wurf des Maltesers, nun seinerseits die Würfel: »Das sind doch Ammenmärchen! Wie die Geschichte von der schwangeren Frau, die ihren Geliebten geköpft sah und daraufhin ein Kind mit abgetrenntem Kopf gebar. Oder die von den Bäuerinnen, die, um den Hund zu bestrafen, der in die Küche gekackt hat, ein brennendes Holzscheit nehmen und es in die Kacke stoßen, damit der Hund es an seinem Hinterteil brennen fühlt! Lieber Herr Ritter, ich bitte Euch, welcher vernünftige Mensch glaubt denn an solche Histörchen?«
Zusammenfassend handelt es sich bei Die Insel des vorigen Tages um die Lebensgeschichte Robertos, der vom Vater in den Mantuanischen Erbfolgekrieg geschleppt, sich in Paris verliebt, belehrt wird, in das Milieu von Freimaurern gerät, zu Tode verurteilt wird und, um sein Leben zu retten, schließlich in See sticht, einen britischen Ingenieur nachspioniert, der das Längenproblem mittels des sympathetischen Pulvers gelöst zu haben vermeint. Letztlich strandet Roberto vor der Insel des vorigen Tages, wo er schreibend, dichtend, imaginierend auf seine Geliebte wartet und auf die Flammenfarbene Taube hofft.
Stil/Sprache/Form:
Umberto Ecos Die Insel des vorigen Tages spielt mit dem Medium der Geschichtsschreibung, mischt Wissenschaftsberichte und Diskusanalyse ab, garniert sie mit Sprachanachronizitäten und spekuliert über Phrasendreschmaschinen, Astrolabien und einem von Galileo Galilei inspirierten Instrumentum Arcetricum, das die Längengraden bestimmen soll. Vor allem jedoch geht es um die Einsamkeit Robertos auf dem Schiff, um sein Schreiben, seine Phantasie, um die Möglichkeit, um sich herum einen Kosmos zu erschaffen, an welchem er teilnimmt, dessen Teil er bleibt trotz Isolation und Gefangenschaft auf dem Schiff. Bierernst geht es jedenfalls in Ecos Roman nicht zu:
Der erste Himmelskörper, auf dem sie landeten, war der weiße Mond in einer vom Mittag der Erde erhellten Nacht. Und die Erde stand über dem Horizont wie eine riesige, drohende, grenzenlose Polenta, die am Himmel brutzelte und ihm fast auf den Kopf zu fallen schien, sprühend vor fieberhaft fiebernder Febrilität, fiebrig fiebrierend in siedendem sabberndem Sud, blasentreibend in blubbernder blabbernder blobbernder Brühe, pluppete plappete plop. Denn wenn du Fieber hast, wirst du selber zu einer Polenta, und die Lichter, die du siehst, kommen alle aus dem Gebrutzel in deinem Kopf. Und dort auf dem Mond mit der Taube …
Eco lässt den Herausgeber wild herumspekulieren. Robertos Geschichte dient hierbei zum Anlass, über alles Mögliche zu berichten. Teilweise verliert sich der Erzählfaden völlig. Doppelgänger tauchen auf. Erbfolgekriege werden en Detail rekonstruiert, Gefechte beschrieben, Salongespräche aufgezeichnet, nautische Instrumente geplant und kosmische Analogien gefunden. Ecos Die Insel des vorigen Tages ergibt kein geordnetes Ganzes. Es wirkt wildwüchsig, ornamental, florierend, überbordend reich und fröhlich ganz wie ein Rokoko Deckengemälde oder ein Biedermeier-Speckmantel-Devotionalien-Buch.
Es kann uns gleichgültig sein, welche Ewigkeit nach uns kommt, aber wir können uns nicht der bangen Frage entziehen, welche Ewigkeit vor uns war: die Ewigkeit der Materie oder die Ewigkeit Gottes? Das war’s, warum es ihn auf die Daphne verschlagen hatte, sagte sich Roberto. Denn nur in dieser geruhsamen Einsiedelei würde er Zeit genug haben, über die einzige Frage nachzudenken, die uns von jeder Angst vor dem Nichtsein befreit, indem sie uns dem Staunen über das Sein ausliefert.
Ecos Schreibstil erschließt neue Bedeutungsräume, gerade durch die Verspieltheit, die jedes inhaltlich geprägte Formbewusstsein außer Kraft setzt, um dafür umso mehr dem Wort-, Klang-, und Symbolmaterial nachspüren zu können. Die Insel des vorigen Tages unterhält dadurch sprachlich, nicht inhaltlich. Der Roman gleicht eher einer Blume, einem blühenden Busch, einer Oase, die aus sich heraus ein organisches Ganzes bildet, weniger exakten, extrinsischen Kategorien genügend. Der minimale Plot speist als Lebensfaser ein riesiges, buntes Assoziationsgeflecht, das Wort- und Klangmaterial entfesselt und zu einem erweiterten dynamischen Materiebegriff führt.
Kommunikativ-literarisches Resümee:
Umberto Eco betreibt eine eigene Form von Sprach- und Gedächtnisforschung. Wer einen klassischen Roman erwartet, wird enttäuscht. Die Handlung, die Bedeutungsverfugungen geraten zu unübersichtlich. Der Erbefolgekrieg lässt sich aus dem Beschriebenen genauso wenig verstehen, wie die Funktionsweise eines Astrolabiums oder die chemische Wirkung des sympathetischen Pulvers. Er fühlt den Begriffen nicht auf den Zahn. Er behandelt sie wie Spielmarken und erschafft auf diese Weise eine ganz eigene Form des Hermann Hessischen Glasperlenspiels aus dem gleichnamigen Roman. Verwandt bleibt Ecos Die Insel des vorigen Tages mit jedweden Schelmenromanen, sei es Albert Vigoleis Thelens Die Insel des zweiten Gesichts, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Der abenteuerliche Simplicissimus oder auch Miguel de Cervantes Saavedras Don Quijote. Die Reihe lässt sich fortführen. Ecos zeichnet, im Gegensatz zu vielen anderen Schelmenromanen, aus, dass ein ungewöhnlicher Materiebegriff eingeführt wird, quasi eine Ernst Blochsche Materie-Utopie aus Experimentum mundi, die die Dialektik und Spekulation von Sigmund Freuds Lebens- und Todestrieben aufnimmt. In Robertos Worten:
Und somit ist meine Seele nicht, wie Epikur wollte, eine Materie, die aus besonders feinen Teilchen besteht, oder ein Hauch, der sich mit Wärme vermischt, sondern sie ist die Art und Weise, in der sich diese Beziehungen als solche wahrnehmen.
Was für eine zarte Verdichtung, was für eine verdichtete Ungreifbarkeit! Ich bin nichts als eine Beziehung zwischen meinen Teilen, die einander wahrnehmen, während sie in Relation zueinander stehen. Aber da diese Teile ihrerseits in weitere Relationen teilbar sind (und so weiter), müsste jedes System von Beziehungen, da es ein Bewusstsein seiner selbst hat, ja das Bewusstsein seiner selbst ist, ein denkender Kern sein.
In dieser zarten Verdichtung gibt es keine Binnendifferenzierung zwischen Lebewesen mehr. Mensch und Tier beginnen sich zu verständigen, aber nicht nur Lebewesen, Korallen, Wolken, nein selbst anorganische Materie fühlt in dieser Anschauung, nimmt wahr und erkennt und erfährt das kosmische Zusammenspiel auf je seine Weise. Auf dem Schiff isoliert, Wind und Wetter preisgegeben, fühlt sich Roberto in einen Stein ein:
[…] dieser Stein hier denkt vielleicht nur: ich Stein, ich Stein, ich Stein. Oder vielleicht kann er nicht einmal ich sagen. Er denkt: Stein, Stein, Stein. Müsste recht langweilig sein. Oder nein, ich bin es, der Langeweile empfindet, weil ich mehr denken kann, während der Stein ganz zufrieden ist mit seinem Steinsein, ja, er ist sogar ebenso glücklich wie Gott – denn Gott erfreut sich am Alles-Sein und dieser Stein am Beinahe-nichts-Sein, aber da er keine andere Seinsweise kennt, ist er mit der seinen glücklich und für alle Zeiten zufrieden …
Eco bricht eine Lanze für einen neuen, ganzheitlichen Materiebegriff. Alles fühlt. Alles nimmt wahr: Das Schiff, die Sterne, Roberto, die Worte, der Klang, die Wellen. In Die Insel des vorigen Tages werden raumzeitliche Begriffe zum Anlass genommen, ein anderes Welt-Sein zu denken, das seine Inspiration aus Lukrez Die Welt aus Atomen bezieht und auch aus der mystischen Philosophie eines Ernst Blochs in Das Materialismusproblem:
Gerade die kosmische Natur, dieser ungeheure Schauplatz, dem noch das Stück fehlt, das auf ihm gespielt würde, ist voll unüberhörbarer Bedeutungen weiterweisender Art, das nicht nur ästhetisch faßbar in Naturschönheit, Naturerhabenheit; auch naturphilosophisch gesehen ist die ganze Welt voller Figuren, die realallegorisch, realsymbolisch über sich hinausbedeuten können, in jenem Sinn, der sich erst bildet. Dergleichen spricht die Natur also keineswegs, wie der rückwärts gewandte Tiefsinn Schellings notierte in »ausgestorbener Rede«, Natur ist kein »uralter Autor«, und ihre Figuren, Kristalle sind kein philologisch-hermeneutisches Problem aus Gewesenheit, erstarrter Vergangenheit, vielmehr manifestiert sich hier gerade auch ein utopischer Umriß, Gesichtszug mit nicht nur rosenfingriger Eos in solch unleugbaren Natur-Emblemen.
Ernst Bloch aus: “Das Materialismusproblem – seine Geschichte und Substanz”
Umberto Ecos Roman liest sich als belebte Rede, als verwirklichte Hoffnung, als fabuliertes Narratum, der Welt mit neuen, offenen Augen und Sinnen zu begegnen, in jedem Moment, mit jedem Wort, denn in allem, auch im Kleinsten, so zeigt Die Insel des vorigen Tages mit jeder Zeile, liegt eine eigene Art von Zauber und Möglichkeit und Utopie, das Leben und die Lebendigkeit immer wieder neu zu entdecken.
tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.
Außerplanmäßig werde ich ab und zu Besprechungen zu Klassikern posten. In diesem Zuge soll nach und nach mein ein Kanon an Leben und Inhalt gewinnen.
Andere aktuelle und Klassiker-Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier.
Endlich ein Buch, das ich kenne – dachte ich hocherfreut, als ich den Titel deiner heutigen Besprechung las. Ich habe es gelesen, genossen, weiterempfohlen (übrigens ohne positive Resonanz) – aber kenne ich es? Kann man diese barocke, tiefe Wurzeln ins Geistesleben des Abendlandes treibende, schwülstige Blüten und Luftwurzeln ausbildende, in sich verschlungene Erzählung überhaupt “kennen”? Ich bewundere dich, dass du dich getraut hast, und es dir auch durchaus gelungen ist, einen Pfad in das Buch hinein zu schlagen, auf dem man sich staunend bewegen kann.
Ich gebe dir völlig recht. Bis Seite 400 oder so wusste ich nicht einmal, was da vor sich geht. Ich war zwar hingerissen von den Beschreibungen, den Assoziationen, den Gedankensprüngen, fühlte mich wie auf einem Gauklermarkt mit herumschwebenden Banderolen, Fahnen, Montgolfieren dahin und dorthin getrieben, aber es war eher ein Spektakel denn eine Erzählung, bis ich begriff, als Fokus, für mich, dass eben das Bunte das Einsame vertreibt, dass das Buch ein Buch fürwahr für eine einsame Insel geschrieben ist, immer und immer wieder konsultiert werden kann. Als ich es so las, verstand ich, dass die Worte, Geschichten, Allegorien Freunde und Freundinnen sind, die ich einlade, mit mir die Welt zu beschauen, und so begann ich das Buch wirklich gern zu haben. Eine Erzählung? Vielleicht nicht. Aber eine Welt, eine Welt ist es doch 😀 … ich hätte das Buch gerne von dir empfohlen bekommen!! Danke, Gerda, für den wirklich schön Kommentar!
Appetitanregend, sehr gut geschrieben, danke. Viele Grüße, Bettina
Ein außergewöhnliches Spektakel – besonders gut, wenn ein paar freie Tage zur Hand sind. Das Buch lenkt nicht ab, aber unterhält famos 🙂 Es erfordert aber etwas Durchhaltevermögen, denn es wimmelt nur so von Motiven, Anekdoten und Nuancen. Es ist eigentlich ein Wimmelbild, wenn ich es mir recht überlege, ein tolles und spannendes. Schön, dass meine Besprechung den Charakter des Buches, nämlich sehr genussvoll zu sein, ein wenig entsprochen hat 🙂 Viele Grüße!
Tolle Beschreibung eines für mich bislang zugleich faszinierendes wie rätselhaftes Werk.
Es ist sehr rätselhaft. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass es ihm um das Spiel der Semantik geht, um das Ineinander-Kreuzen von Sinnbezügen, um ein Wieder- und Wieder-Lesen zu ermöglichen. Ich werde es nochmals lesen. Nicht sofort, aber bestimmt irgendwann.
Umberto Eco ist überhaupt faszinierend. Komischerweise habe ich “Die Insel…” nicht gelesen, komischerweise sage ich, weil mich die Datumsgrenze schon immer fasziniert hat. Ich glaube, irgendwo bei den Aleuten gibt es ein Inselchen, das von dieser (na klar von Wissenschaftlern gezogenen) Grenze durchschnitten wird. Ich stellte mir nun vor, man könnte einfach “zurück” gehen, wenn man z.B. die Hausaufgaben nicht gemacht haette, und sie “gestern” nachholen, etc.
Habe von Eco dafür anderes gelesen, etwa “Das Foucault’sche Pendel” (waermstens empfohlen!), bin aber ursprünglich durch seine “Streichholzbriefchen” (in der “Zeit”) auf ihn gekommen, meine Vorliebe für Semantik und auch Phaenomenologie verdanke ich unter anderem ihm. Nun lese ich seine eher wissenschaftlichen Werke (etwa “Opera Aperta” (Das offene Werk))
Diese Rezension ist aber – wie andere auch – sehr gut und ausführlich komponiert, vielen Dank dafür!
Ich mag die Sprache Ecos (sollte ich lieber sagen: seiner Übersetzer?) sehr. Vor allem aber seine wuchernden Assoziationen, für die du so passende Worte findest. “Die Insel des vorigen Tages” kenne ich (noch) nicht, es scheint ein Werk zu sein, das sich als unerschöpflicher Lesevorrat eignet, wenn nur ein einziges Buch mitzunehmen erlaubt ist – auf die einsame Insel, in den Knast, auf eine lange Wanderung … Für solche Fälle werde ich es mir jedenfalls vormerken, und für den Fall, dass sich im Stapel ungelesener Bücher gerade nichts findet, das meine spontane Leselust weckt.
Das Buch entfaltet einen irren Reichtum, je weiter die Lektüre zurückliegt. Es spinnt weitere Fäden in der Erinnerung und deshalb werde ich es bestimmt wieder lesen. Es ist tatsächlich ein Buch für eine Situation, in der Bewegungsfreiheiten eingeschränkt sind. Ich hoffe jedoch, dass uns beiden der Knast fernbleibt 😀 … das Buch kann ich wirklich nur empfehlen. Mit viel Ausdauer, Entspannung, mit viel Freude fürs ornamentale Detail, wunderbar, lebendig, unübersichtlich toll! Ich denke, dass die Übersetzung genauso einen Teil an der Lektürefreude hat wie der Schriftsteller selbst – auch gelingt innerhalb europäischer Sprachen die Prosaübersetzung meist sehr gut. Lyrik, da sieht es ganz anders aus, meiner Erfahrung nach. Benjamin hat einen schönen Aufsatz über das Übersetzen verfertigt. Vielleicht schreibe ich mal darüber. Viele Grüße und Danke für den Kommentar!