Jenifer Becker: „Zeiten der Langeweile“ (Das Debüt 2023)

Zeiten der Langeweile …   Shortlist von Das Debüt-Bloggerpreis 2023.

Zurückweisung in romantischen Angelegenheiten wird in der Literatur auf verschiedenste Weise verarbeitet. In Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774) erschießt sich der gleichnamige Protagonist; wie auch die Protagonistin Marie aus Maria Borrélys Mistral (1930) die Heirat ihres Angebeteten nicht anders ertragen kann, als sich in einem See zu ertränken. Heinrich Bölls Hans aus Ansichten eines Clowns (1963) entschließt sich zu einem Leben als Landstreicher und Straßenmusiker, wohingegen der Ich-Erzähler aus Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts (1822) lieber das Weite sucht und so zurück zu seiner Herzensdame findet. In Jenifer Beckers Romandebüt Zeiten der Langeweile verarbeitet die Ich-Erzählerin Mila die Trennung von ihrem Freund Nicki auf radikale Weise. Sie zieht sich aus allen sozialen Beziehungen mehr und mehr zurück:

Zuerst digitaler Detox und dann der Anfang eines analogen, eintönigen Lebens, wo ich in einem unaufgeregten Büro ohne Social-Media-Auftritt arbeiten würde, dem Druck enthoben, ständig irgendjemanden beeindrucken zu müssen. Als mich mein Bruder nach meinen Beweggründen fragte, sagte ich, ich wolle online nicht mehr gesehen werden, Leute nicht mehr online sehen, mich nicht mehr darüber abfucken, warum Nicki mein Selfie nicht geliked hatte, jemand ein Buch publizierte, heiratete, ein Kind bekam, auf die Malediven flog oder darüber, dass ich meine Skin-Care-Routine nie einhielt.

Jenifer Becker aus: „Zeiten der Langeweile“

Inhalt/Plot:

Die Motivation, sich aus ihrem, hauptsächlich digitalen, sozialen Leben zurückzuziehen, bleiben bei Mila Meyring vielfältig. Sie hat gerade ihr Studium mit der Promotion abgeschlossen und festgestellt, dass das akademische Leben nicht viel für sie bereithält. Sie versteht ihren soziophoben Bruder nicht mehr und hat keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter, nachdem der Selbstmord ihres Vaters tiefe Klüfte in das Familienleben gerissen hat, und die Trennung von Nicki hat ihre persönliche Zukunftsplanung völlig über den Haufen geworfen:

An unserem letzten gemeinsamen Weihnachten rief mich eine Freundin an und sagte, dass sie schwanger war. Das stürzte mich in eine Krise, weil Nicki und ich eigentlich geplant hatten, bald schwanger zu werden, uns gerade aber jeden Tag anschrien und in getrennten Betten schliefen. Kurz nach den Feiertagen packte er seine Taschen und meinte, ich würde jemanden finden, der mit meiner schwierigen Art umgehen könnte. Was bedeutete es, schwierig zu sein? Hieß das, dass man nicht in der Lage war, seine Emotionen zu kontrollieren? Vielleicht galt es auch als schwierig, Menschen daran zu erinnern, dass sie aus dem Bett aufstehen und Tabletten nehmen sollten, daran, ihre Wäsche wegzuräumen, sich nicht umzubringen.

Nicki und Mila führten keine harmonische Beziehung, dennoch verwindet Mila die Zurückweisung nicht und trauert der Beziehung nach. Immer wieder taucht Nicki im Text auf, und das digitale Detoxing, das langsame Herauslösen aus sämtlichen virtuellen kommunikativen Plattformen, liest sich vordergründig als Distanzierungsmodus gegenüber der Hoffnung, dass aus Nicki und ihr vielleicht doch noch ein glückliches Paar wird:

Es war jetzt vier Monate her, dass ich [Nicki] geblockt hatte. Keine Texts mehr, in denen er mich fragte, ob er bei mir schlafen kann, weil er einen Transport nach Berlin macht. Kein cooli, oki, oder thanky mehr. Keine Selfies mit gletscherblauen Augen unter schwarzen Ponys. Nicht mehr das Gefühl, ein Clown zu sein, wenn ich geduscht, gepeelt, rasiert, gezupft, geföhnt, balsamiert, geölt, lackiert, pedikürt, parfumiert, deodorisiert an der Wohnungstür stand, und nach zweieinhalb Jahren immer noch mit einer Geste rechnete. Ein alberner Blumenstrauß, eine Karte auf der stand, sry, hab mich geirrt, lass wieder zusammensein, lol. Ich wäre auch mit einem Grinsen und einer uneindeutigen Entschuldigung zufrieden gewesen.

Das digitale Löschen begann textimmanent mit dem Blockieren von Nickis Nachrichten, und dieses Löschen nimmt nun über die Länge des Romans hin drastische, regressive Züge an. Sie blockiert nach und nach alle, bis nur noch sehr wenige und analoge Kontaktmöglichkeiten übrigbleiben. Anlass für diese Maßnahme stellt jedoch nicht Nickis Trennung von ihr dar. Mila befürchtet, dass eine Erzählung von ihr entdeckt wird, in der sie sich nicht klar genug auf die politisch-korrekte Seite verortet. Der fragwürdige Textausschnitt bleibt konsequenterweise auch im realen vorliegenden Roman unerwähnt und wird nur vage von Jenifer Becker umschrieben:

Bis mir [eine Kommilitonin] vor einem Monat den Link zum Re-launch der HfG Website geschickt hatte, hatte ich die Existenz von [der Erzählung] Frau Yokoshima und das Edison Prinzip Band 1 komplett vergessen. Auf einmal war der Text wieder da, zusammen mit all seinen peinlichen und politisch-inkorrekten Formulierungen, die wir den drei Anti-Heldinnen eingepflanzt hatten, weil wir damals polemische Feministinnen sein wollten. 2015 mochte der Text einen Nerv getroffen haben, 2022 wirkten die sexuellen Eskapaden der drei Weißen, studentischen Protagonistinnen wie Prosa aus einem Lesekreis von jungen Liberalen.

Am Ende besteht ihr soziales Umfeld nur noch aus ihrem Bruder, der Oma A., der besten Freundin Senta und Ida, die sie nur sporadisch sieht. Sie fährt ihre Oma besuchen, pflegt sie und sucht die Beziehung zu ihrem Bruder zu stabilisieren, und verwendet die ALG1-Zeit, die ihr gewährt wird, um einen neuen Job zu finden, dafür, sich weiter aus allen digitalen Zusammenhängen herauszulöschen, um alles andere, als Verschiebung und Reattribuierungsmaßnahme, in den Hintergrund treten zu lassen:

Im Hinblick darauf, dass ich nichts davon mehr online preisgeben müsste, fühlten sich die meisten Sachen gar nicht mehr so fatal an – die Tatsache, dass ich keine künstlerischen Ambitionen mehr hatte, zum Beispiel.
Dass ich vierunddreißig war und mir den falschen Job ausgesucht hatte.
Dass meine Akne immer schlimmer wurde.
Dass ich nicht wusste, ob ich Kinder kriegen sollte – wenn ja, mit wem? Und wie sollte ich das finanzieren?

Alles Lebensentscheidende muss der scheinbar brennenden Frage weichen, wie sie weiterhin sämtliche digitale Spuren verwischen kann. Schließlich sucht sie ein Refugium in Norwegen, im Ferienhaus der Verwandten von Senta, nur um dort, trotz aller Abgeschiedenheit, zu erfahren, dass niemand in ihrem Freundeskreis Verständnis für ihre Löschversuche besitzt und nun die Überwachung und digitale Aufzeichnung durch Drohnen unausweichbar geworden ist.

Stil/Sprache/Form:

In Stil, Sprache und literarischem Auftreten gleicht Zeiten der Langeweile sehr genau Prana Extrem von Joshua Groß. Im Vordergrund steht ein zaghaftes, sich selbst relativierendes, sich von außen betrachtendes, vorsichtiges Erzählen, das niemandem an den Karren fahren will und sich deshalb mit äußerster Behutsamkeit der Wirklichkeit nähert. Vor allem jedoch stehen die neuen Medien im Vordergrund des Geschehens die alle Emotionen filtert und ausdrückt und selegiert:

Ein Besucher stand mit den Händen in den Taschen vor einer Skulptur und runzelte die Stirn. Ich schrieb: Klingt gut aber hab grad keine lust auf instagramterror durch Ausstellungsfotografen. Danach setzte ich das Emojicon, das zwei Hände darstellen sollte, die mit den Fingern ein Herz formten. Die Finger waren wurstig und die Hände wirkten irgendwie grotesk. Ich rechnete damit, dass Senta meine Antwort mit einem Ausrufezeichen oder einem XD kommentieren würde, aber sie reagierte nicht.

Bei Joshua Groß klingt das wie folgt:

Vor dem Einschlafen entdeckte ich auf Instagram ein Bild, das Ignar Drugh in Prag zeigte, wo er bei der tschechischen Premiere des Dokumentarfilms zugegen sein würde. Er war abgereist, ohne sich bei mir zu melden. Ich schrieb ihm eine kurze Privatnachricht, die so lautete: Denke an unseren Deal. Dazu schickte ich einige Clowngesicht-Emojis. Ignar Drugh likte meine Nachricht, antwortete aber nicht darauf.

Joshua Groß aus: „Prana Extrem“

Der Stil ist sehr parataktisch, sehr abgehackt und auf eine seltsame Weise genau, bestimmt und ausdrücklich differenziert. Die Erzählweise von Prana Extrem und Zeiten der Langeweile stimmen in der Färbung und im Verlauf überein, indem sie eine Protokollierung bis in die kleinsten Details des Alltags vornehmen:

An Neujahr schlief ich bis zum späten Nachmittag. Ich schob die Vorhänge zur Seite, öffnete das Fenster und zog einen Fleecepullover über. Die Luft, die ins Zimmer strömte, war eiskalt, es fing schon wieder an, dunkel zu werden. Auf dem Weg in die Küche drehte ich überall die Heizung hoch. Ich hatte keinen Kater, reagierte aber empfindlich auf die Lautstärke des Wasserkochers und hatte irgendwie das Gefühl, als sei etwas marginal Unangenehmes passiert. So fühlte ich mich eigentlich nur, wenn ich Alkohol getrunken hatte.

Die in Zeiten der Langeweile besprochene Angst vor Totalüberwachung findet bereits ihren Niederschlag in der haargenauen und völlig festgezurrten Imaginationstätigkeit des Erzählens, das sich kaum noch Sprünge erlaubt und in Echtzeit assoziiert, als würde ein Versprachlichungsticker mitlaufen und die neuronalen Ströme in Text umwandeln:

Ich bewegte mich durch verschiedene Gruppen von Leuten, die Videos drehten, Fotos schossen, ihre Lebensmittel dokumentierten. Ein junges Mädchen posierte vor einer Anzeigetafel von O2, auf dem für eine lückenlose 5G-Verbindung geworben wurde. Als ich in meiner Wohnung ankam, zog ich mich aus, stellte mich unter die Dusche und bestellte telefonisch Samosas bei dem nepalesischen Imbiss zwei Straßen weiter. Die frittierten Teigtaschen aß ich mit nassen Haaren auf meiner Yogamatte. Es war halb fünf.

Wie bei Joshua Groß werden intimste Details verschriftlicht, begonnen mit Hautreizungen, Fisteln, über Sexualpraktiken, Höhepunkte und Strategien berichtet, wie sich soziale unangenehme Situation durchstehen lassen. Ähnelt sich der Stil bis fast aufs Wort, scheint jedoch bei Groß eine sich weitende Welt hindurch, eine Art Kosmos jenseits aller Unterschiede und Differenzen, die Mila zum Anlass nimmt, nur noch verschwinden zu wollen:

Sämtliche Kombinationen von Suchbegriffen gingen ins Leere: Mila Meyring Mitsubishi, Mitsubishi und Meyring, Mila Mitsubishi HfG Offenbach, Mila Meyring Frau Mitsubishi. Nichts führte zu mir. Nichts führte von mir weg. Ich sah verschiedene Lichtreflexe zu einem Knäuel zusammenschmelzen. Es fühlte sich an, als wäre ich in einen schwerelosen Raum eingetreten.

Bei Joshua Groß erhält der Auflösungswunsch keinen passiv-aggressiven Charakter. Die Auflösung will Einheit, Verschmelzung zu etwas Größerem, nicht Kleinerem. Er will aufgehen, nicht verschwinden:

Ich starrte vom Rücksitz aus nach draußen, aber in mir regte sich nichts, ich betrachtete nur … Straßenzüge, deren Lichter in meinem Hirn aufquollen, ineinandersickerten, zu Brei wurden. Okay, dachte ich und ließ meinen Kopf gegen das Kunstleder sinken. Ich könne mich in die Umwelt auflösen, meinte ich, in die Dämmerung hineindiffundieren. So fühlte ich mich, nicht mal mehr porös, sondern gerade noch so ein Gravitationszentrum, das die Zellen, aus denen ich bestand, zusammenhielt.

Joshua Groß aus: „Prana Extrem“

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Zeiten der Langeweile besticht durch eine erbarmungslose Diktion, die das eigene Gedächtnis mittels Sprachunterwanderung zu löschen versucht. Mila entflieht der Sprache als Vernetzungs- und Erinnerungsschema mit dem Erfolg, dass sie nach und nach Kontakt zur Gegenwart verliert:

Wie sehr ich geistig fest hing, erschreckte mich. Die Gegenwart hatte für mich beinah komplett aufgehört zu existieren. Das kam mir auf einmal grauenvoll vor: körperlich zu altern, aber geistig in einer spezifischen Zeit festzustecken […]

In diesem Sinne, als destruktiver imaginärer Akt, als eine Verkleinerung statt einer Vergrößerung entspricht die Weltflucht, die Jenifer Becker in Zeiten der Langeweile beschreibt, einer antiromantischen Schreibtätigkeit, die das Schreiben verwendete, um das Leben interessanter, vielfältiger, unwahrscheinlicher werden zu lassen. Novalis fasst es in Bezug auf die Romantik wie folgt:

Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.

Novalis aus: „Aphorismen“

Der Versuch, statt die Sinne zu entriegeln, sie zu verriegeln, geschieht durch Diffusionstaktiken, die paranoide Züge annehmen und Mila mehr und mehr einen pathologischen Anstrich verleihen. Die radikale Parataxis vereitelt Synergie und Harmoniebögen. Das Staccato der Referenzen prasselt auf einen nieder und führt zur ahistorischen Versimplifizierung des Psychischen. Jenifer Becker kennt hier kein Erbarmen für ihre Hauptfigur, die sich hilflos gegen eine Übermacht zu wehren versucht, ohne zu wissen warum. Sie hat keine Ziele. Sie besitzt keine Interessen, keine Vorlieben. Am Ende liest sie alles, was ihr in die Finger kommt und erfriert beinahe auf einer norwegischen Insel:

Ich schaute durch die lichten Bäume hinweg auf die flachen Wellen, die weiter draußen auf einer Sandbank brachen. Wenn ich Glück hatte, würde ich ins offene Meer gespült werden, und niemand würde jemals meine sterblichen Überreste finden. Wenn ich Pech hatte, wäre das letzte Foto, was von mir zurückbleiben würde eins von meinem aufgequollenen Körper auf einem norwegischen Strand, wahrscheinlich wäre ich nackt und durch die spitzen Felsen vor der Küste übel zugerichtet.

Die mentale Selbstverstümmelung als Projekt erinnert an Knut Hamsuns Hunger, auch durch seine einfache Sprache und Selbst-Märtyrisierung; und die Weltflucht, aus unerwiderter Liebe heraus an Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts. Der Protagonist bei Hamsun entkommt aber, und der Ich-Erzähler von Eichendorff geht in die weite Welt mit offenen Armen hinaus. Mila von Jenifer Becker zerbricht an einer nicht näher erläuterten Psychose. Auf erschreckend unempathische Weise führt die implizite Erzählerin sie vor, indem sie die Vergangenheit, die Verletzlichkeit, die Konstitution von Mila unberücksichtigt lässt. So erscheint Mila am Ende nur pathologisch, verrückt und autoaggressiv und von allem und jedem entfremdet. Zeiten der Langeweile erzeugt also dort, wo Betroffenheit und Einverständnis zu erwarten gewesen wären, lediglich eine klaffende, obgleich sehr schmerzhafte Ratlosigkeit.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Carl Hanser Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Hiermit ist die Lektüre der Shortlist des diesjährigen Das Debüt-Bloggerpreises vollständig. Nach Bekanntgabe des Siegertitels am Sonntag, den 03.03.2024 poste ich meine Punkteabgabe und meine Begründung. Die teilnehmenden Literaturblogs finden sich hier.

Nächste Woche am 27. Februar 2024 auf Kommunikatives Lesen:
bespreche ich den Klassiker von Heinrich Mann Der Untertan.

Eine Kurzversion der Besprechung und noch andere aktuelle Kurzrezensionen findet sich demnächst hier.

11 Antworten auf „Jenifer Becker: „Zeiten der Langeweile“ (Das Debüt 2023)“

  1. gkazakou – Griechenland – Humanwissenschaftlerin (Dr. phil). Schwerpunkte Bildende Kunst und Kreative Therapien. In diesem Blog stelle ich meine "Legearbeiten" (seit Dezember 2015) vor und erläutere, hoffentlich kurzweilig, die Bezüge zum laufenden griechischen Drama und zur Mythologie.
    gkazakou sagt:

    Wieder so eine großartige Besprechng., die ich mit angehaltenem Atem gelesen habe. Zuvor las ich deine Besprechung von „Kaspar“. Ich spüre, wie in beiden (und anderen von dir vorgestellten Romanen) dieselben Entleerungen stattfinden, ein Zerfall dessen, was man „Persönlichkeit“ nannte, und der verzweifelte und hoffnungslose Versuch , irgendwie gegen diesen Verfall, der wie eine Krankheit über die Menschen kommt, anzusteuern. Und dann, wie eine Antwort aus einer verhallten Zeit, Novalis: Romantisiere! „So findet man den ursprünglichen Sinn wieder.“ Potenziere nicht quantitativ, sondern qualitativ! Ist das vielleicht das Übel unserer Zeit, dass wir angehalten werden, ja nicht unser niederes Selbst mit einem höheren – sei es auch versuchsweise, sei es auch illusorisch – in Einklang zu bringen, sondern streng gehalten sind, unsere je eigene Lächerlichkeit, unsere Verworfenheit und Überflüssigkeit anzuerkennen, mit dem einzigen Trost der quantitativen Potenzierung möglichst vieler LIKES von genauso lächerlichen Figuren wie wir selbst? Die Romantik im Sinne von Novalis ist verpönt, als Kitsch oder esoterische Schwurbelei führt sie ein Schattenleben. Zurück bleiben Menschen, die „vom Affen abstammen“, nichts als ihr Körper sind und mit ihm sterben, und moralisch nicht mal das Niveau der Tiere erreicht haben, laute Nichtse und Überflüssige, die mit Nonsense zu füttern sind oder besser gleich ganz verschwinden.
    Sich so zu sehen, das sei ehrlich. Das neue Mandra. Ein Volk von Insekten.
    Wie anders die Menschen noch bei Dostojewski, die in all ihrer Verworfenheit niemals den Lichtschein ihres höheren Ich verloren haben, den es zu entdecken und zu stärken gilt, und zwar durch Liebe.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Schön, deine Verve, Gerda!! Das freut mich. Mich freut es auch, dass du die Dopplung dieser beiden Besprechung in einen Schwung mitgenommen und auf die Novalis-Emphase kaprizierst! Genau. Das war so gewollt (mehr oder weniger vielleicht bewusst-unbewusst). Die Schwingen weiten lassen, der Phantasie erlauben, Horizonte zu übersteigen, sich in diesem Wunder wiederfinden, dass es Mond, Sonne, Sterne und Maikäfer und Raben und Pilze und Quallen und Steine gibt, noch viel mehr. Alles atmet, alles singt, alles kommuniziert auf je seine Zeitskalen. Du sprichst mir aus dem Herzen, und es freut mich, dass du die Besprechung zum Anstoß genommen hast, dich weit über die besprochenen Texte zu erheben! Danke und viele liebe Grüße!!

  2. Grossartig. Ich schliesse mich Gerda an.
    Hab es auch mit angehaltenem Atem gelesen.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ich fand auch, die Bücher passen zusammen und der Novalis hebt sie mit sich auf weiten Schwingen hinweg. Danke, Xeniana.

  3. hibouh – Grand Turc – read me! Und weiterhin.... Die Labyrinthe von Hibouh: Orte der Sehnsucht. Oasen für alle Umtriebigen und Nachtschönheiten. Inseln im opaken Licht der Phantasie unter einem fleischig dahinziehenden Mond. Leise Dämmerung auf den Höhen. Neugierig geworden? Wir bringen Sie hin, wo Erleben und Erkennen eins werden. Nur Mut - lüften Sie dieses Geheimnis!
    hibouh sagt:

    Auch ich bedanke mich herzlich für die Besprechung! Mir war Novalis als „Gegenmittel“ natürlich ebenfalls aufgefallen. Wir „leben“ ja mehr und mehr in und durch die sogenannten „Neuen Medien“. („Selbst der Piratenkapitaen arbeitet nun im Home-Office, drückt nur noch die ‚Enter‘-Taste“). Der Witz ist, dass wir alle ja zum grossen Teil „online“ sind: was waeren Alexander, ich und viele andere ohne Blogs, ohne e-mails und „likes“?
    Schön das Beispiel mit der Suchmaschine, die als Resultat auf „Mira“ nur ne blenden weisse Explosion produziert. Ist es bekannt, dass es auch im „wirklichen“ Leben so was gibt? Die Astronauten werden zum Training mit verbundenen Augen ins Wasser gelegt: Keine Schwere, kenie Töne, kein Licht, keinerlei Sinnesempfindungen. Das Resultat: „die Sinne schwinden“, Ohnmacht.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Und das Gute, wir können die Sinne immer entriegeln, poetisieren, mit ihnen bewusst umgehen und uns dem Neuen zuwenden. Schön, wenn Texte es einem leichtmachen, wenigstens wird in „Zeiten der Langeweile“ der erste Versuch dazu unternommen. War das Zitat von Stanisic? Den lese ich bald 🙂

      1. hibouh – Grand Turc – read me! Und weiterhin.... Die Labyrinthe von Hibouh: Orte der Sehnsucht. Oasen für alle Umtriebigen und Nachtschönheiten. Inseln im opaken Licht der Phantasie unter einem fleischig dahinziehenden Mond. Leise Dämmerung auf den Höhen. Neugierig geworden? Wir bringen Sie hin, wo Erleben und Erkennen eins werden. Nur Mut - lüften Sie dieses Geheimnis!
        hibouh sagt:

        Piratenkapitaen von mir 🙂 Aber nach Stanisic-Lektüre 🙂

  4. Ein so mitreißender Lesebericht wieder, Alexander! Obwohl der Roman von Becker unter anderem eine extreme Reaktion des Ausbruchs aus sozialen Verknüpfungen zeigt, ruft das bei mir ganz starke Resonanz und Anteilnahme hervor, auch weil ich selbst immer wieder über das ausgewogene Verhältnis zwischen Social Media-Leben und dem natürlichen Leben nachdenke und mit den Übergriffen des einen in das andere hadere.
    Die Parallelführung mit dem Roman von Groß finde ich gerade deshalb so gelungen, weil sie so augenfällig stimmig ist, sie zeigt vor allem die sanfte Alternative zu einem radikalen Bruch – wie ein Antidot dagegen, in Beckers Sog mitgerissen zu werden.
    Und dann Novalis dazu, was für eine Volte! Morgengymnastik für das Leserinnenhirn. Danke!

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Mich freut es, dass die Texte sich lesen lassen und die Grauen Zellen in Bewegung bringen. Ich gebe mir ja auch stets Mühe, dass meine oszillieren und sich neuen Horizonten öffnen. Nicht so leicht, aber zum Glück gibt es einen großen und schönen Bestand an Texte, die einem die Lust am Lesen stets wiedergeben, ich muss mich nur wieder und wieder und tiefer an sie erinnern! Die sozialen Medien sind und bleiben Neuland – wer weiß, wohin die Reise geht. Sie eröffnen viele gute Sachen, wir unser Kommentieren und Parallellesen. Sie sind aber auch eine irgendwie derealisierende Sache, die viel zu viel Monitor ins Leben bringt 🙂 Viele herzliche Abendgrüße!!

      1. Diese mediale Doppelwirkung der Medien empfinde ich ebenfalls. Aber ein kompletter Ausstieg ist keine Option mehr, schon lange.

Kommentar verfassenAntwort abbrechen

Entdecke mehr von Kommunikatives Lesen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen

Die mobile Version verlassen
%%footer%%