Nelio Biedermann: „Lázár“

Lázár von Nelio Biedermann. Schweizer Buchpreis 2025 (nominiert).

Als Chronik eines Niedergangs bearbeitet Nelio Biedermanns Roman Lázár den Stoff von Thomas Manns Die Buddenbrooks oder Gabriel Marcia Marquez‘ Hundert Jahre Einsamkeit. Spielt das eine in Norddeutschland, in Lübeck, verfolgt das andere in einem fiktiven südamerikanischen Land das langsame Dahinscheiden der Familie Buendía. Biedermann siedelt seinen Roman im frühen zwanzigsten Jahrhundert in Ungarn an und beschreibt chronologisch, wie die Familie Lázár in Krieg und Inflation um ihren Besitz und Adelsstatus kämpft und beides unweigerlich im Zuge der Sowjetisierung nach 1945 verliert. Als Familienchronik setzt Biedermann in seiner rhapsodischen Erzählform trotz Verwandtschaft mit Mann und Marquez dennoch eher Romane wie Christoph Heins Das Narrenschiff fort, die große Zeitspannen nur stichwort- und blitzlichtartig aufsummieren:

Die Jahre kamen und gingen, zogen wie die Roma mit ihren Pferden und Zirkuswagen durch das Habsburgerreich, durch die im Donausumpf versinkende Monarchie. Und auf ihrem Weg durch dieses alte Reich, das von einem ebenso alten Kaiser regiert wurde, auf ihrer spiralförmigen Reise durch die Felder und Wälder und Städte, hinab zu den zukünftigen Knochen, hinein in die blutroten Tiefen dieses jungen Jahrhunderts, mieden die umherstreifenden Jahre auch das Schloss der Familie von Lázár nicht. Die Kinder wurden älter, Mária einsamer und Sándor distanzierter. 
Nelio Biedermann aus: „Lázár“

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László Krasznahorkai: „Der Gefangene von Urga“

Der Gefangene von Urga by László Krasznahorkai. Literaturnobelpreis 2025.

Die alte Redewendung – wer eine Reise tut, der hat was zu erzählen – stammt von Matthias Claudius aus seinem 1786 erschienenen Gedicht Urians Reise um die Welt. In diesem Gedicht wird der Globetrotter Urian beschrieben, der über Grönland hin zum amerikanischen Kontinent nach Asien und Afrika reist. László Krasznahorkai, der Literaturnobelpreisträger 2025, beschränkt seinen Ich-Erzähler auf den eurasischen Raum, genauer auf die weite Spanne zwischen Ungarn, der Mongolei und China. Der Gefangene von Urga (1993) setzt sich in die Tradition der Reiseromane mit Ich-Betrachtungen zwischen erfahrener Fremdheit und ersehnter Nähe. Durch seinen Stoff kommuniziert Krasznahorkai hier intensiv mit Cees Nootebooms Reisebüchern wie Im Frühling der Tau, in welchem der Niederländer seine östlichen Reisen beschreibt. Kraznahorkai jedoch webt seine Berichte fiktionalisierter zusammen, weniger tagebuchartig:

Denn durch die Gobi zu reisen, denn die Wüste in russischen Waggons Richtung Beijing zu durchqueren, denn an einem Herbsttag mit der Durchschnittsgeschwindigkeit der russischen Züge sich aus dem Bogd-Gebirge bis zur mongolisch-chinesischen Grenze in die leblose Leere der Wüste Gobi zu wagen, das bedeutete, in sie einzugehen, es bedeutete, spurlos zu werden, sich für verschwunden zu erklären, sich vorübergehend aus dem irdischen Dasein zu verflüchtigen; unter solchen Umständen nämlich behauptete diese Wüste – eine mehrtausendjährige, paradiesische Metapher des märchenhaften Entkommens zerstörend –, dass die Ewigkeit zwar Wirklichkeit ist, für uns aber eine albtraumhaft abschreckende Wirklichkeit, dass die Ewigkeit zwar die Provinz der Götter ist, diese Götter aber starr, unnahbar, kalt und höllisch sind, dass die Ewigkeit nichts anderes ist als bis zum Wahnsinn erhitzte vollkommene und schicksalhafte Symmetrie, dass die Ewigkeit nichts anderes ist als die ideale, unzerrüttbare Perfektion der Wiederholung.
László Krasznahorkai aus: „Der Gefangene von Urga“

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Fiona Sironic: „Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft“

Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft von Fiona Sironic. Shortlist Deutscher Buchpreis 2025.

Sironic‘ Debütroman mit dem langen Titel Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft erinnert nicht nur durch diesen an Julia Josts Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht. Beide Romane lassen sich als Coming-of-Age Texte betrachten. Beide behandeln eine gleichgeschlechtliche Liebe und verhandeln zudem heißdebattierte politische Konfliktfelder. Tendiert Jost aber mehr zum Humor, zur verspielten, sich über die Dinge erhebenden Wortakrobatik, lässt sich Sironic tief in den Ernst ihrer eigenen Romanwelt fallen und nimmt hierdurch kommunikativ-parabelhafte Züge von Romanen wie bspw. Die Welle von Todd Strasser oder Die grüne Wolke von A.S. Neill an. Wie in Neills Jugendbuch spielt auch Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft  in einem apokalyptischen Weltszenario. Bei Sironic herrschen durch den Klimawandel Artensterben, Waldbrände und Hitzetode:

Ich höre im Stream von der erhöhten Sterberate. Von den Hitzetoden, die schon lange mehr geworden sind, aber inzwischen ein absurdes Hoch erreichen. Man käme nicht mehr hinterher. Eine Verringerung der allgemeinen Lebenserwartung. Ich denke an Opa, der einfach eines Tages umgefallen ist. Damals war das noch jung, 65. Wir schauen weniger auf die Endgeräte in diesen Tagen. Eine Art Alltag schleicht sich ein. Anfangs logge ich mich hin und wieder bei dem Account unserer Schule ein, überprüfe ausstehende Abgaben, bis ich es vergesse. Es hat nichts mehr mit mir zu tun.
Fiona Sironic aus: „Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft“

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Thomas Melle: „Haus zur Sonne“

Haus zur Sonne von Thomas Melle. Shortlist Deutscher Buchpreis 2025.

Sanatorien üben scheinbar ob der Exklusivität und Zurückgezogenheit, der Ähnlichkeit zu einer Klausur, auf die Literaturwelt eine besondere Faszination aus. Immer wieder kehrt dieser Topos von Thomas Manns Der Zauberberg zurück: in der US-amerikanischen Literatur bspw. in Sylvia Plaths Die Glasglocke oder in Ken Keseys Einer flog übers Kuckucksnest; in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dagegen in Dieter Fortes Auf der anderen Seite der Welt oder ganz neu in Rhea Krčmářovás Monstrosa oder Heinz Strunks Zauberberg 2. International hat die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk mit Empusion kürzlich das Thema bearbeitet. Nach seinem Erfolgsroman Die Welt im Rücken (2016), der bereits auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, kehrt Melle zu dem Thema bipolare Erkrankung in Haus zur Sonne zurück. In dem neuen Roman will der von seiner Bipolarität ausgelaugte Ich-Erzähler vorzeitig aus dem Leben scheiden und findet vom besagten Haus ein vielversprechendes Prospekt:

Verarschung, Verarschung, Verarschung, so sortierte ich einen [Flyer] nach dem anderen aus […] und die größte Verarschung war schließlich, so schien es, der letzte Flyer. »So nicht weiter?«, stand da in fetten Lettern, und darunter gleich: »Wir machen es anders! [..] Das Pilotprojekt zur Lebensverbesserung, Traumverwirklichung, Selbstabschaffung […] Auf unserem Wellness-Gelände können Sie in aller Abgelegenheit Ihre Lebensträume verwirklichen. Gefragt sind lediglich Sie als Person, mit allem, was Sie mitbringen – und mit allem, was Sie hinter sich lassen wollen. Sprechen Sie einfach Ihren Fallmanager an.«
Thomas Melle aus: „Haus zur Sonne“

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Jehona Kicaj: „ë“

ë von Jehona Kicaj. Shortlist Deutscher Buchpreis 2025.

ë von Jehona Kicaj gehört zu einer Klasse von Texten, die eher dem Autobiographischen, kursorisch Historischen zugewandt sind als dem Fiktionalen. Als herausragendes Exemplar dieser Form erscheint Alexander Solschenizyns Der Archipel Gulag. Aufklärungs- und Dokumentarliteratur durch und durch, wurde sein Gesamtwerk 1970 mit dem Literaturnobelpreis versehen. Ähnlich gelagert lässt sich Svetlana Alexijewitschs Werk lesen, bspw. Secondhand-Zeit, die 2015 ebenfalls den Literaturnobelpreis verliehen bekommen hat. In diesen Werken steht das Sprachliche mit dem Dokumentarischen auf einem Fuß, die Sprache als Zeugnisablegen, als Erinnerungsstruktur. Mit dem Fiktionalen, dem Lebenselement des Romans, haben die meisten Werke der beiden nichts zu tun. Jehona Kicaj wählt in ë den Roman als Medium, um an das Grauen zu erinnern, das die kosovo-albanische Bevölkerung im damaligen Serbien und Kosovo ereilt hat:

Ich dachte an die Video-Aufnahmen aus dem Gerichtssaal, die ich mir am gestrigen Abend angesehen hatte. Es waren Aufnahmen aus dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Eine Frau aus Suhareka sagt darin aus, dass serbische Polizisten und Paramilitärs fast fünfzig Familienmitglieder in eine kleine Pizzeria unweit ihres Hauses getrieben, dann Handgranaten hineingeworfen und mit Maschinenpistolen auf alle geschossen haben, »zwanzig Minuten lang, vielleicht auch dreißig, eine endlos lange Zeit, ohne Unterbrechung«, sagt sie. Ihren Mann und vier Kinder hatte diese Frau verloren, sechzehn, vierzehn und elf Jahre alt, das eine erst einundzwanzig Monate. Vor Gericht erzählt sie, ruhig und gefasst, dass sie gesehen hat, wie ihre Tochter fünf- oder sechsmal getroffen wurde, die Schüsse, sagt sie, hatten sie »ganz zerfetzt«. Sie wäre ein »so schönes, gesundes Mädchen« gewesen.
Jehona Kicaj aus: „ë“

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Ursula Krechel: „Sehr geehrte Frau Ministerin“

Sehr geehrte Frau Ministerin von Ursula Krechel. Georg-Büchner-Preis 2025. SWR-Bestenliste 2025.

Die Georg-Büchner-Preisträgerin 2025, Ursula Krechel, beschäftigt sich in Sehr geehrte Frau Ministerin intensiv mit der römischen Geschichte, insbesondere mit Nero, dem Sohn von Iulia Agrippina. Ähnlich wie Eugen Ruge in Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna nimmt sie die römischen Verhältnisse ins Visier, um ein erhellendes Licht auf gegenwärtige Zustände zu werfen, die in Krechels Roman durch die Figur einer Essener Kräuterladenverkäuferin namens Eva Patarak repräsentiert werden. Wie Agrippina zu Nero findet auch Eva keinen Zugang zu ihrem Sohn Philipp:

Der Sohn im inzwischen muffigen Zimmer, Kinderzimmer, Jugendzimmer, Sohneszimmer. Er nennt es sein Arbeitszimmer, wenn er mit mir spricht. Er ist zu alt für Aufforderungen. Er ist zu dickfellig (oder zu dünnhäutig?), er will nicht gestört werden. Er überragt mich um Haupteslänge. Der Sohn reitet zwischen den Websites hin und her, Wildwest in seinem Zimmer, öffnen, schließen, surfen, gekrümmter Rücken, trommelnde Fingerspitzen, wenn die Internet-Verbindung zu langsam ist. Er bewegt sich in weitläufigen Räumen, düsteren Räumen, in seinem Zimmer das blaue Licht des Bildschirms. Und dort bleibt er, beharrlich, er versenkt sich (in was?). […] Was weiß ich, was er nicht tut, sagt sich Eva Patarak.
Ursula Krechel aus: „Sehr geehrte Frau Ministerin“

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