
Selten tauchen Romane in der Gegenwart auf, die vom ersten Wort an, Eigensinn und Eigengesetzlichkeit beanspruchen. Sie wehren sich des Vergleichs und sprengen eine eigenartige Form von Zeitlichkeit. Stefanie vor Schultes Roman „Junge mit schwarzem Hahn“ gehört zu diesen Werken. Äußerlich eine Art Märchen, inhaltlich eine Fabel auf Widerständigkeit, rhythmisch eine Parabel aufs Erzählen, und doch sonderbar romantisch in seiner poetischen Vermittlung des Hässlichen mit dem Schönen.
„Manchmal hockt der Hahn auf der Kurbel des Schleifsteins, der mit den Jahren ins Erdreich gesunken und jetzt mit Flechten überwuchert, vom Frost unverrückbar festgebacken ist. An dem hat der Vater sein Beil erst geschärft und alle bis auf den Jungen erschlagen. Da hat es vielleicht angefangen.“
Stefanie vor Schulte aus: “Junge mit schwarzem Hahn”
Der Text nimmt sich zurück. Von Gewissheit, determinierter Klarheit, möchte er nichts wissen. Es hat nur „vielleicht“ angefangen mit dem Mord- und Totschlag des Vaters, der von seinem Versuch, sich gegen die Tyrannei der Fürstin aufzulehnen, hoffnungslos zur Familie zurückkehrte, nur um alle bis auf Martin, den Protagonisten und Jungen mit dem schwarzen Hahn, blutrünstig zu ermorden. Das „Vielleicht“ entspricht der Poetologie. Anfang und Ende bleiben in einer Welt unklar, in welcher Schuld und Verhängnis allgegenwärtig sind, und zudem noch Krieg herrscht. Die raumzeitliche Verortung bleibt ebenfalls im Ungewissen. Kirchen mit Maria- und Jesus-Bildern verweisen auf Mitteleuropa. Die Angst vor der Pest auf eine Zeit vor 1708 als die letzte Pandemie dort ausbrach. Deutschland des Dreißigjährigen Krieges könnte es sein, der Zeit also, die im „Der Abentheuerliche Simplicissimus“ von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen beschrieben wird. Hierzu würde auch die Mode der Fürstin, das weiße Anmalen des Gesichtes und die Perücken passen, also letztlich eine Form des Barocken Trauerspieles, das Walter Benjamin in „Ursprung des deutschen Trauerspieles“ auf Gewalt und Tragödie hin ausgiebig analysierte und zu einer Welt im Zerfall passt.
„Schon seit Tagen ist er [Martin] schreckhaft und unruhig. Der Frühling enthält bereits den ganzen Tod des scheidenden Jahres. Überall sieht er Vorboten. Die zertretenen Raupen. Blaugewirkt an den Rändern, mit feinen Borsten, unter denen das Innere hervorquillt. Die Spinnennester, aus denen Tausende von winzigen Abkömmlingen über die trockenen Blätter des Vorjahres huschen. Blut in seinem eigenen Urin. Einmal finden sie einen toten Fuchs, dem die Fliegen aus der Nase kriechen und die Maden in der Bauchhöhle wimmeln.“
In „Junge mit schwarzem Hahn“ mischen sich alle Elemente herkömmlicher Tragik. Eine Schauergeschichte jagt die andere. Martin durchläuft und durchlebt eine Welt, in der Mord und Totschlag herrschen, in der die Menschen hungern, darben, von grässlichen Begierden getrieben, sich gegenseitig das Leben in seiner Erbärmlichkeit nur noch weiter zum Höllenpfuhl werden lassen. Martin selbst bleibt von all dem auf wundersamer Weise verschont. Sein Geheimnis ist keines. Es liegt offen zutage. Es ist sein schwarzer Hahn, der ihn seit frühester Kindheit beschützt.
„Das Tier [der schwarze Hahn] stolziert um das Kind [Martin als Säugling], es wird einander betrachtet, ab diesem Moment hat das Schreien ein Ende, und Martin wird nie wieder mäkeln und weinen. Seine Augen sind jetzt ganz neugierig, groß und schön. Alles kann nun in ihnen ruhen. Ewig sind sie auf das schwarze Tier gerichtet. Und auch das Tier, nun umgekehrt, schaut nur noch nach dem Kind und gibt keine Ruhe, wenn es nicht bei ihm ist. Ab da unzertrennlich und ganz friedlich miteinander. Und der Vater hat mit der Schulter gezuckt. Was solls, dachte er, dass es ein Hahn ist, und die Leute reden. Das Kind ist glücklich. Sei’s drum.“
Der schwarze Hahn Martins ist die Gans von Hans in dem Kinder- und Hausmärchen „Hans in Glück“ der Gebrüder Grimm. Der Hahn sitzt auf dem Schleifstein, just den Hans für die Gans erhält im glückseligen Tausch einer neugewonnenen Freiheit. In beiden Märchen geht es um das Erringen einer Freiheit. Beide, Hans wie Martin, bescheiden sich mit wenig. Martin möchte Gewaltlosigkeit, Sanftheit, Fröhlichkeit in der Einfachheit. Von nichts und niemandem lässt er sich darin beirren. Sein schwarzer Hahn steht ihm selbst und mit seinem Weckruf zur Seite. Wieso aber der schwarze Hahn sprechen kann, was es mit diesem auf sich hat, weshalb der Vater Martin und seinen schwarzen Hahn verschont, all dies lässt vor Schulte unklar, nicht zu sagen, unbeantwortet. Dieses Unterlassen belässt den Roman in einer allegorischen Schwebe, die dem Ungewissen und Ungefähren des Chaos zur Seite springt als Ausdruck dessen, dass für nichts und gar nichts Gründe existieren, die nicht für die Rechtfertigung anderer Gewalttaten wieder herangezogen werden könnten.
„Denn gerade in Visionen des Vernichtungsrausches, in welchen alles Irdische zum Trümmerfeld zusammenstürzt, enthüllt sich weniger das Ideal der allegorischen Versenkung denn ihre Grenze. Die trostlose Verworrenheit der Schädelstätte, wie sie als Schema allegorischer Figuren aus tausend Kupfern und Beschreibungen der Zeit herauszulesen ist, ist nicht allein das Sinnbild von der Öde aller Menschenexistenz. Vergänglichkeit ist in ihr nicht sowohl bedeutet, allegorisch dargestellt, denn, selbst bedeutend, dargeboten als Allegorie. Als die Allegorie der Auferstehung.“
Walter Benjamin aus: “Ursprung des deutschen Trauerspiels”
Eine Allegorie erklärt nicht. Sie versinnbildlicht. Auf diese Weise fungiert „Junge mit schwarzem Hahn“ als ein Sittengemälde, in dessen Zentrum die Idee eines Knaben steht, der sich kraft seines guten Gewissens, kraft seines schwarzen Hahnes, seines Schattens und Gefährten, von nichts und niemandem beirren lässt und sich für die Auferstehung des Humanen einsetzt. Poetologisch geschieht dies durch Verdunklung des Dunklen. Martins Welt wird schwarz, schrecklich, schaurig beschrieben. Sie gleicht einem Moloch, einem einzigen Hieronymus Bosch-Gemälde der Hölle, in der Krankheit, Gefahr, Lüge und Verwesung, Verderben, Schmutz und Verrohung herrschen.
„Menschliche Stimmen sind zu hören, Gelächter jetzt und grobe Reden. Grölen und Halbgesungenes. Martin kriecht vorsichtig näher und lugt über den Rand der flachen Senke, erblickt ein Lagerfeuer, das seinen Abglanz auf eine Gruppe Menschen wirft. Frauen, Männer. Umgeben von Kleiderbündeln. Menschenbündeln. Kisten. Fässern. Unrat. Sie fuhrwerken geschäftig und sinnlos, besoffen und lachend in dem Diebesgut herum, das sie angehäuft haben, untereinander aufteilen, darauf pissen, alles Würdevolle vergessen. Fleischbrocken werden über dem Feuer geröstet. Fett zischt in der Glut. Es stinkt entsetzlich. Martin ballt die Fäuste. Ihm wird übel. An einen Baum gekettet zittert ein Wolf. Er blutet aus dem Maul.“
Stefanie vor Schulte aus: “Junge mit schwarzem Hahn”
Der stilistische Clou vor Schultes besteht darin, die erzählerische Distanziertheit und Kühle einer Elfriede Jelinek aus „Gier“ ins Utopische zu wenden. Unabhängig davon, wie schlimm es um die Welt Martins bestellt ist, der Erzählton, die souveräne Sicherheit, in der Martin beschrieben wird, die Weite und Ruhe des Erzählens, rhythmisch, syntaktisch, ruht so sehr in sich, dass man die Furcht vor dem Grauen verliert. Man kann sich auf Martin und insbesondere auf den schwarzen Hahn verlassen. Das, was erzählt wird, ist nur die Spitze des jeweiligen Eisbergs, die allesamt aus einem ozeanischen Gefühl des Schreckens hervorstechen, auf denen aber Martin und der Hahn, von Spitze zu Spitze unbeschadet springend, das sichere Ufer erreichen können. Bald versteht man, dass dieser Balanceakt eben das poetische Movens gewesen ist, ein romantisches Schauermärchen aufs Neue, nur mit anderen Mitteln zu inszenieren.
„Es regnet, aber sie [der Maler, Martin und die Muse Gloria] haben nichts damit zu tun. Sie haben ein Dach über dem Kopf. Es gibt Arbeit und Essen. Der Hahn schläft in Martins Schoß, Gloria summt eine Melodie für das Baby, die Zeichenkohle schabt über das Blatt. Der Junge empfindet Geborgenheit.“
Es geht um nicht weniger als um die Idee des Erhabenen, das aus der sicheren Distanz entsteht, aus der Beobachtung eines Unwetters in den sicheren vier Wänden, Blitze und Donner, aus dem Begleiten, Miterleben Martins bei seinem Gang durchs Inferno im Wissen, dass einem nichts passieren kann, solange man ihm als Begleiter die Treue hält. Immanuel Kant beschreibt das Erhabene wie folgt:
„Das Gefühl des Erhabenen ist also ein Gefühl der Unlust, aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft in der ästhetischen Größeneinschätzung zu der Schätzung durch die Vernunft; und eine dabei zugleich erweckte Lust, aus der Übereinstimmung eben dieses Urteils der Unangemessenheit des größten sinnlichen Vermögens mit Vernunftideen, sofern die Bestrebung zu denselben doch für uns Gesetz ist.“ (§27 Kritik der Urteilskraft)
Immanuel Kant aus: “Kritik der Urteilskraft“, §27.
Die Welt, die geschildert wird, verletzt das Empfinden zutiefst. Schaurige Beschreibungen jagen einander. Die Welt erscheint dem Blick Martins unangemessen. Sie empört. Im Lesen entsteht in der Nicht-Übereinstimmung das Erhabene, weil Martin, zwar als Teil der Welt, von ihr aber unberührt bleibt und als eine Utopie, eine Sicherheit, des Ehrlichen, Freundlichen, Sanften leuchtet, und zwar um so heller, je dunkler der Hintergrund. Dieser Eindruck entsteht um stärker, je klarer die erzählerische Perspektive durchscheint, in Martin gerade eine solche Figur zu etablieren, einen Vertrauensakt zu ermöglichen, der ganz und gar der beschriebenen Welt unwahrscheinlich und unangemessen ist, wodurch aber die Erzählhaltung umso entschiedener wirkt.
„Martin kaut langsam und starrt in die Flammen. Er streichelt den Hahn und ist auch noch wach, als die Sterne längst aufgegangen sind. Ein Flüstern greift nach seinem Inneren, das kommt aus dem Hahn und aus seinem eigenen Herzen und formt einen Entschluss, dessen Schwere ihm niemand abnehmen wird. Den Reiter, jetzt gilt es, er muss den Reiter finden. Er wird die verschwundenen Kinder suchen gehen. Er kleidet sein Inneres mit diesem Wissen aus. Er weiß nun, sein Leben hat eine Richtung.“
Stefanie vor Schulte aus: “Junge mit schwarzem Hahn”
Ein Märchen kommt in Fahrt, das einen seltsamen Helden hat, nämlich die erzählerische Hoffnung, das im Freundlichen zutiefst verankerte Beschreiben, dem nichts widerfahren kann, das obsiegt, durch die schlimmsten Szenen hindurch hilft und den Protagonisten und die Lesenden sprachlich und kommunikativ schützt. Martin strauchelt so wenig wie Hans. Beide suchen ihr Glück. Martin findet es in der Rettung des Rettbaren.
„»Wir sind ihm ganz nah«, sagt Martin mit Lippen, vom Durst so aufgesprungen wie die Ackerkrume, und der Maler schreit das Kind an, ob es damit aufhören könnte, ein einziges Kind retten zu wollen, einer Mythe nachzujagen, wo um sie herum nichts als Tod und Elend ist. Alle gilt es zu retten, aber alle sind verloren. Doch Martin denkt anders. Ein gerettetes Leben ist alle Leben.“
Stefanie vor Schulte beweist Mut zur Hässlichkeit als Prüfstein für ein Schreiben, das von der Idee des Sanften nicht Abstand nehmen will, denn Hässlichkeit, Härte, Rohheit beschreibt sie in „Junge mit schwarzem Hahn“ en masse und fast ununterbrochen. In einem fort liest man von Eiterbeulen, Maden, Wunden und Fieber, von Kindermördern, Erhängten, von Verkrüppelungen, Selbstmorden und Zerfleischungen, von Rotz und Kot, Schleim und Schlamm. Theodor W. Adorno schreibt hierzu:
„Die trotz allen Kulturbetriebs perennierende Entrüstung über die Häßlichkeit der modernen Kunst ist bei allen hochtrabenden Idealen geistfeindlich: sie versteht jene Häßlichkeit, die abstoßenden Vorwürfe zumal, wörtlich, nicht als Prüfstein der Macht von Vergeistigung und als Chiffre des Widerstands, in dem jene sich bewährt.“
Theodor W. Aorno aus: “Ästhetische Theorie”
Selten benutzt Adorno das Wort „Macht“ so positiv wie hier, wenn Sprache selbst dem Hässlichen zu widerstehen vermag, die Hässlichkeit in die Ohnmacht zwingt, wie Martin die schwarzen Ritter der Fürstin und das Grauen des allwaltenden Krieges. Stefanie vor Schultes Erstlingswerk wendet sich nicht von dem Grauem ab. Sie zieht sich mit ihm nicht in den Elfenbeinturm zurück. Sie exponiert sich voll und ganz und lässt die Leser und Leserinnen unbeschadet und um einen Batzen Hoffnung reicher zurück.
Was ich an deinen Rezensionen so schätze: dieses in Beziehung setzen-zu Kant. zu Adorno zu Jelinek. Das einordnen in einen Gesamtzusammenhang, der oft mein Verständnis noch übersteigt, nichtdestsotrotz ungemein spannend ist.
Gekonnt ist gekonnt.
Vielen lieben Dank!! Mein Versuch besteht tatsächlich gerade in der Einbettung des Gelesenen, so dass man den Reichtum all jener Stimmen der vielen Bücher in Erinnerung behält. Ich tue es auch, um meine eigenen Lektüren wieder hervorzukramen, die Vernetzungen zu bewerkstelligen, zu verstehen, wie und was mich an den neuen Texten interessiert und begeistert. Die nächsten Schritte werden sein, die Verlinkungen über eigene Seiten zu führen, wo Zitate und neue Verbindungen erschlossen werden können, so dass ein Literaturnetz entsteht, aus dem man (und auch ich) stets neue Inspirationen für Lektüren und Relektüren findet.
Auch ein bißchen Schwierigkeiten mit dem Buch gehabt und da würde ich auch eher den “Halbbart” von Charles Lewinsky als Gegenlektüre empfehlen!
Noch nichts von gehört, “Halbbart” sehr interessant! Vielen Dank für den Tipp!