Wie der Bewusstseinsstrom, oder stream of consciousness, mit James Joyces Ulysses (1922) als literarisches Mittel verknüpft wird und nicht mit Édouard Dujardins Geschnittener Lorbeer (1888), so wird auch die Sequenzierung und Ineinanderüberblendung der literarischen Erinnerungstechnik von Traum und Wirklichkeit meist mit Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913) in Verbindung gebracht und nicht mit Henri Alain-Fourniers Der große Meaulnes (1913), der zur selben Zeit entstand und zu seiner Zeit sogar populärer gewesen ist. Wie Proust taucht Alain-Fournier tief in die Mythen und Zeitlosigkeiten der Kindheit und Jugend ein:
Alle Jahre holten wir [meine Großeltern] einige Tage vor Weihnachten an der Bahnstation vom Zug um vier Uhr zwei ab. Um uns zu besuchen, hatten sie das ganze Département durchquert, beladen mit Säcken voller Kastanien und mit Lebensmitteln für Weihnachten, die in Handtücher eingewickelt waren. Sobald sie alle beide eingemummelt, lächelnd und ein wenig schüchtern die Schwelle des Hauses überschritten hatten, schlossen wir hinter ihnen alle Türen, und eine ganze Woche voller Freude begann.
Henri Alain-Fournier aus: „Der große Meaulnes“
Inhalt/Plot:
Der fünfzehnjährige Protagonist und Ich-Erzähler, François Seurel, lebt bei seinen Eltern, die eine Schule auf dem Lande leiten, als ein neuer Schüler vorgestellt wird, der siebzehnjährige Augustin Meaulnes. Von Anfang umgibt diesen ein Zauber, etwas Verheißungsvolles, und in der Tat, als die besagten Großeltern sich zu Weihnachten anmelden und diese vom Bahnhof abgeholt werden sollen, kommt die Frage auf, wer sie mit dem Wagen abholen soll, wer dieses kleine Abenteuer erleben darf, und im Grunde, so weiß der Ich-Erzähler, kommt niemand anderes als Meaulnes in Frage:
Niemand sagte etwas. Der Schmied und sein Geselle, der eine den Blasebalg ziehend, der andere das Eisen hämmernd, warfen große unregelmäßige Schatten auf die Mauer … Ich erinnere mich an diesen Abend als an einen der zentralen Abende meiner Jugendzeit. Eine Mischung von Vergnügen und Angst erfüllte mich: Ich fürchtete, dass mein Kamerad mir diese armselige Freude, im Wagen zur Bahnstation zu fahren, rauben würde; und trotzdem erwartete ich von ihm, ohne dass ich es mir einzugestehen wagte, irgendein außerordentliches Unternehmen, das alles umstürzen sollte.
Es kommt tatsächlich zu diesem Abenteuer, denn Meaulnes büchst unerlaubterweise aus, verirrt sich und gerät auf eine Odyssee, die drei Tage andauert, währenddessen sich alle Sorgen um ihn machen. Nach drei Tagen erreicht er übermüdet und ermattet, jedoch bei bester Gesundheit wieder das Schulgebäude, aber völlig verändert. Meaulnes hat sich verliebt, und nur der Ich-Erzähler begreift das, spürt dem nach und vermag schließlich das Vertrauen seines älteren Kameraden zu gewinnen, mit welchem er das Zimmer unter dem Dach teilt:
Unser Zimmer war, wie ich schon sagte, eine große Dachstube, halb Mansarde, halb Stube. Die anderen Räume hatten Fenster, und ich weiß nicht, warum dieses Zimmer sein Licht nur durch eine Dachluke bekam. Man konnte die Tür, die auf dem Fußboden schleifte, nicht vollständig schließen. Wenn wir abends hinaufstiegen, mit der Hand unsere Kerze schützend, die durch den in dem großen Haus herrschenden Luftzug zu verlöschen drohte, dann versuchten wir jedes Mal, diese Tür zu schließen und waren jedes Mal gezwungen, es als fruchtlos aufzugeben; und die ganze Nacht hindurch fühlten wir, wie die Stille der drei Dachräume bis in unser Zimmer drang und um uns war.
François behält recht. Meaulnes verwandeltes Wesen lässt sich auf eine Begegnung mit einem Mädchen zurückführen, Yvonne de Galais, die auf einem geheimnisvollen Gut in der Nähe lebt, das Meaulness aber trotz Karten und stärkster Anstrengung, sich zu erinnern, nicht wiederfindet. Kaum schlafend, auf und ab gehend, weiht Meaulnes François in das Geheimnis rundum seine Odyssee ein. Fortan dreht sich alles um die Ereignisse, die Meaulnes Leben verändert haben, die Festlichkeiten am Hofe de Galais, die geplante Hochzeit von Frantz, dem Bruder der angebeteten Yvonne, die Festivitäten, Reiterspiele, die Dampferfahrt, das Essen, der Tanz, der Maskenball, all das mit dem unrühmlichen, traurigen Ende, das die Hochzeit schließlich doch nicht stattfinden konnte, da Frantz‘ Braut, Valentine, kalte Füße bekommen und sich bei Nacht und Nebel davon gestohlen hat:
Die Kerze, die Frantz in seinem Zimmer zurückgelassen hatte, brannte noch; alles war unverändert an seinem Platz. Nur auf einem Blatt Briefpapier, das augenfällig hingelegt war, standen die Worte:
Meine Braut ist verschwunden und hat mir sagen lassen, dass sie nicht meine Frau werden könne; sie sei eine Schneiderin und keine Prinzessin. Ich weiß nicht, was werden soll. Ich gehe fort. Ich mag nicht länger leben. Yvonne möge mir verzeihen, dass ich ihr nicht Lebewohl sage, aber sie könnte nichts für mich tun …
Ab diesem Zeitpunkt gibt es die zwei möglichen, aber getrennten Liebespaare: Valentine und Frantz, sowie Yvonne und Meaulnes, und es ist am Ich-Erzähler, sie wieder zusammenzubringen. Dreh- und Angelpunkt bleibt die Schule seines Vaters, als Frantz einige Wochen später als junger Bohémien verkleidet, auftaucht und Meaulnes den Aufenthaltsort seiner Schwester preisgibt. Alle drei schwören, einander beizustehen und bei der Suche der vermissten Partnerin zu helfen. Frantz verschwindet, bald auch Meaulnes, und der Ich-Erzähler bleibt alleine zurück.
Und nun kam ein neuer Winter, der ebenso tot war, wie der vorangegangene von einem geheimnisvollen Leben erfüllt gewesen war: der Kirchplatz ohne Vagabunden, der Schulhof, den die Jungen um vier Uhr verließen … das Schulzimmer, in dem ich allein und ohne Freude lernte … Im Februar fiel zum erstenmal in diesem Winter Schnee; er begrub endgültig unseren Abenteuerroman vom vergangenen Jahr und verwischte jede Fährte, löschte die letzten Spuren aus. Und ich bemühte mich, wie Meaulnes mich in seinem Briefe gebeten hatte, alles zu vergessen.
Alain-Fournier führt kompositorisch am Schluss alle Fäden zusammen. Keine Frage bleibt offen. Verlieren sich die Freunde auch aus den Augen, bleiben sie sich für Jahre über fremd, trennen und vereinigen sich die Geliebten, in Der große Meaulnes findet alles seinen Abschluss, und so endet das Buch, wie es anfängt, mit dem verheißungsvollen Versprechen auf weitere Abenteuer.
Detaillierte Inhaltsgabe
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Teil 1:
- Ankunft Augustin Meaulnes (M) im Jahr 189… in der Pension, etwa 17 Jahre alt. Ich-Erzähler (Francois Seurel, IE) 15 Jahre alt. Meaulnes schnell Anführer der Kinder.
- Ankunft der Großeltern des IEs. Meaulnes bricht auf, sie abzuholen, verschwindet aber. Der Wagen mit der Stute wird ohne ihn zurückgebracht.
- M kehrt nach 3 Tagen zurück, völlig übermüdet, wirkt rastlos, sucht nach einer Karte, um seinen Ausflug zu rekonstruieren.
- M trägt eine seltsame Weste, die den IE fasziniert, verspricht diesen ihn mitzunehmen, sollte er aufbrechen, aber noch kennt er den Weg nicht. Sammelt Informationen auf der Karte. Erzählt von seinem Abenteuer.
- M verirrt sich, gelangt auf eine Hochzeitsfeier, verliebt sich in ein Mädchen (Yvonne de Galais, Y), Schwester des Bräutigams. M begegnet Bräutigam, Frantz (F). Die Braust ist entflohen und F droht sich mit einer Pistole zu erschießen. Die Hochzeitsgesellschaft löst sich auf. M hört, als er das geheimnisvolle Gut verlässt, einen Schuss. M sieht einen Pierrot, der einen menschlichen Körper trägt.
- Das Abenteuer hat M und seinen Status unter den Kindern verändert. M nun Einzelgänger.
- Die Schule des IEs und andere Liegenschaften werden von einer Gruppe Bande angegriffen und beraubt. M und IE setzen ihnen nach, werden in einen Hinterhalt gelockt und verdroschen. Der Anführer trägt einen Kopfverband und nimmt ihnen die Karte weg, auf der sie den Pfad zum geheimnisvollen Gut rekonstruieren.
- Am nächsten Tag sitzt der Anführer der Bande, der junge Bohemien (JB), in der Klasse vom IE und M und versetzt die Schüler in Aufruhr mit seinen Besitztümern. JB veranstaltet ein wüstes Spiel auf dem Schulhof, eine Art Reitturnier, das IE und M gewinnen.
- M und JB treffen beim Klassenauskehren aufeinander. JB gibt die Karte, die die anderen Kindern auf Befehl Jasmin Deloches (J) ihm entreißen wollten, zurück. JB, völlig allein bis auf seinen Kumpanen Ganach (G), ist auch auf dem Fest gewesen, hat weitere Informationen der Karte hinzugefügt. Sie verbrüdern sich, schwören das Geheimnis, das Abenteuer für sich zu behalten. JB nennt M ein Haus in Paris, wo Y, die M sucht, wohnt. Sie vereinbaren einen Signalruf, auf den sie schwören zu antworten.
- Diebstähle finden in der Umgebung statt. M und IE besuchen eine Zirkusvorstellung, in der JB als Spielleiter wirkt. M erkennt in G den Pierrot und in JB Frantz. Gs Schuhe geben ihn als den Dieb zu erkennen. J verrät G und JB. Sie fliehen.
- Frühlingstag. J und andere schwänzen die Schule und suchen Vogelnester. Der Vater des IEs setzt ihnen nach. IE und M nutzen die Chance, den verlorenen Pfad zu suchen, aber vergebens.
- Es regnet im Frühling. M entscheidet sich, das Haus in Paris aufzusuchen, dessen Adresse ihm F gegeben hat.
- IE bricht sein Versprechen und erzählt J und anderen die Geschichte.
- IE erzählt drei Briefe von M.
- J will sich mit IE befreunden. Beide verehren M.
- Auf einen Ausflug mit J entdeckt IE das Gut Les Sablonnières.
- IE besucht seinen Onkel in der Nähe von Les Sablonnières und findet Y. Er fädelt ein Treffen mit M ein.
- Auf dem Weg zu M, der wieder aus Paris zurück bei seiner Mutter lebt, kehrt der IE bei seiner Großtante ein, die ihm von einer Weberin namens Valentine (V) erzählt, die bei ihr als Dienstmädchen ausgeholfen hat, nachdem sie von einer Hochzeit geflohen ist, die Braut von F. Sie lebt nun in der Nähe von der Notre Dame in Paris.
- IE behält das Geheimnis für sich. Er will das Treffen zwischen Y und M nicht sabotieren.
- M erfährt von Y, dass von dem geheimnisvollen Gut nichts mehr übrig geblieben ist, F hat die Familie ruiniert. Trotz anfänglicher Enttäuschung heiraten sie.
- F kehrt zurück, erwartet Hilfe. M verlässt Y, um F zu helfen, seine Braut wiederzufinden.
- IE als Lehrer besucht Y oft, die schwanger ist, nach der Geburt stirbt. IE kümmert sich um die kleine Tochter, bis M wiederkehrt.
- Ms Motive werden aus seinen Aufzeichnungen in einem Schulheft klar. Er hat mit V in Paris eine Affäre gehabt, ohne zu wissen, dass es sich um die Braut von F handelt. Er fühlt sich schuldig und macht V schwere Vorwürfe, die daraufhin allen Lebenswillen verlor.
- M kehrt nach Les Sablonnière zurück, nachdem er F und V miteinander versöhnt hat. Sie leben nun in der Nähe, in dem Haus von F.
- M kümmert sich um seine Tochter. IE bleibt alleine zurück.
Teil 2:
Teil 3:
Stil/Sprache/Form:
Alain-Fourniers Roman erzählt nicht linear. Wie Parallaxe verschiebt sich die erinnerte Zeit von der Erzählzeit, und doch bleibt die erzählte Zeit stärker im Vordergrund als bei Proust. Der Handlungsverlauf verdichtet sich. Von Anfang an strebt Alain-Fourniers Der große Meaulnes auf ein Finale hin, und der Wechsel zwischen erzählerischem Präsenz und erinnernden Präteritum unterstreicht die Dopplung, in die die Handlung sich selbst mitreißt, d.h., der Erzähler verschwindet im Erzählten:
Ein Donnerstag Anfang Februar, ein schöner, klar-kalter Donnerstagabend, durchweht von starkem Wind. Es ist halb vier, vier Uhr … Auf den Hecken nahe den Dörfern ist seit Mittag die Wäsche ausgebreitet und trocknet im Wind. In jedem Haus lässt das Kaminfeuer im Esszimmer eine ganze Reihe glänzender Spielsachen aufleuchten. Vom Spiel ermüdet, sitzt das Kind neben seiner Mutter und lässt sich von ihrem Hochzeitstag erzählen …
Hier steigert sich die Spannung und löst das bislang Erzählte ein: die Hochzeit findet doch statt. Die Freude des Ich-Erzählers zeigt sich, auch im Erinnern, dass die Erinnerung eine Gegenwartsform erhält, in der sich Kindheit, Jugend und Erwachsenenzeit mischen. Auf diese Weise schreibt Alain-Fournier gegen die Enttäuschung, gegen das Vergessen, gegen die Illusion, die in dieser Zeit oft der Literatur vorgeworfen wird, bspw. durch Maurice Maeterlinck in Der Schatz der Armen (1896):
Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen, eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.
Maurice Maeterlinck aus: “Der Schatz der Armen” (4. Kapitel)
Bei Alain-Fournier besteht selbiges Bewusstsein, das er wie folgt formuliert:
Nach all diesen Dingen fragte er mit ungewöhnlicher Leidenschaftlichkeit, als ob er sich überzeugen wollte, dass von seinem schönen Abenteuer gar nichts übrig geblieben war, dass das Mädchen ihm auch nicht ein Überbleibsel bringen konnte, das bewiesen hätte, dass beide nicht geträumt hatten, so wie ein Taucher vom Grunde des Wassers einen Kieselstein und Algen heraufbringt.
Nur lässt sich der Ich-Erzähler aus Der große Meaulnes nicht beirren. Seine Sprache webt und verknüpft, verbindet und assoziiert die verschiedensten Aspekte von Stimmungen und Zeitverläufen, von Schuldgefühlen, Verliebtheit, zu Treue und Freundschaft und dem Wunsch nach dauerhafter Verbindlichkeit. Der Ich-Erzähler findet diese in der Erinnerung, im Aufheben, im Herstellen und Wiedergeben dessen, was ihm bislang am wertvollsten scheint: die Freundschaft zu Meaulnes, die Möglichkeit der großen Liebe, die Bande, der die Zeit nichts anhaben kann:
Ich bin nicht mehr allein in diesem Zimmer, ein großer, unruhiger und vertrauter Schatten gleitet an der Wand auf und ab. Diese ganze friedliche Landschaft – die Schule, der Acker des alten Martin mit den drei Nussbäumen, der Garten, der täglich ab vier Uhr von unseren Besucherinnen erobert wurde – alles dies wird mir für immer im Gedächtnis bleiben, bewegt und verwandelt durch die Gegenwart dessen, der unsere ganze Jugendzeit in Aufruhr brachte und uns selbst durch seine Flucht keine Ruhe gab.
Die Ich-Erzählerinstanz in Der große Meaulnes zieht alles heran, was sich ihm anbietet: Träume, direkte Rede, Briefe, Tagebucheinträge, zeitnahe Beschreibungen im Präsenz, weit entfernt zurückliegende Begebenheiten, Spekulationen, unruhige und ruhige Passagen, lange Winter, strömender Regen und antizipierte Sonnentage. Der Ich-Erzähler fasst seine Welt weit genug, um der trüben Enttäuschung eines Maeterlincks zu entgehen. Sein Text verschließt sich hermetisch gegen die Relativierung, und dies gelingt im Zustand des Glücks:
Von draußen dringt jetzt kein Geräusch mehr zu den jungen Leuten, nur ein entblätterter Rosenzweig schlägt ab und zu gegen das Fenster zur Heide hin. Wie zwei Insassen eines dahintreibenden Bootes sind die beiden Liebenden, während der Winterwind braust, eingeschlossen mit ihrem Glück.
Wie in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit sucht Henri Alain-Fournier das Erzählte durch seine Erzählweise zu retten. Die Erzählweise selbst wird ihr eigener, zu sich selbst zurückgebogener Gegenstand des Glücks.
Kommunikativ-literarisches Resümee:
Vieles an Der große Meaulnes erinnert an Robert Musils Der Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), nur ohne dessen Eklat und Gewalt. Das Leben in der Pension des Monsieur Seurel besitzt zwar Raufereien, aber kein Quälen und Foltern eines Basini, nicht das Genießen eines Reitings, Törleß‘ oder Beinebergs. Es erinnert in dieser Friedlichkeit sehr an Vita Sackville-Wests Das Erbe, das eine ähnliche ruhige ländliche Szenerie beschreibt, und das Aufregendste die Versteigerung und der mögliche Verlust des Hauses ist, an das sich der Protagonist doch so sehr gewöhnt hat:
Jede kaum merkbare Veränderung des Lichts hatte er [am Anwesen] beobachtet: ob es am Morgen kühl und klar über die Dächer strich oder am Abend gesättigt und golden auf die rubinroten Backsteine, den bläulich-grünen Wassergraben und die Brüste der Pfauen sank. Das ätherische Morgenlicht war ein Geheimnis, das er in den unzugänglichen Tiefen seiner Seele fast vor sich selbst verbarg.
Vita Sackville-West aus: „Das Erbe“
Diesen Ort besitzt Meaulnes in dem geheimnisvollen Gut, wo er Yvonne das erste Mal erblickt, der Hof, den die Familie de Galais zu verlieren droht, da Frantz vor lauter Liebesschmerz einfach verschwunden ist, nachdem er den ganzen Reichtum seines Vaters mit Festen und der Hochzeitsnacht verprasst hat. Meaulnes will es nicht wahrhaben, dass all dies verlorengegangen sein soll:
Meaulnes kehrte immer wieder mit einem Eigensinn, der ihm wahrscheinlich selbst nicht zum Bewusstsein kam, auf all die Wunderdinge von damals zurück; und jedes Mal musste das auf die Folter gespannte Mädchen [Yvonne] ihm wiederholen, dass alles verschwunden sei: Das alte, so merkwürdige und verwinkelte Gebäude war abgebrochen, der große Teich ausgetrocknet und zugeschüttet; und in alle Winde zerstreut die Kinder in den reizenden Kostümen … Meaulnes entgegnete nichts als ein verzweifeltes «Ach!» …
Es lassen sich viele Stellen finden, in denen Proust und Alain-Fournier auf ähnliche Erfahrungsbereiche anspielen, allein schon die zarte, sanfte Erinnerung an die Eltern, an die Großeltern, an das gesellige beieinander sitzen und essen. Ebenso aber besitzt Der große Meaulnes verwandte Motive mit Friedrich Hölderlins Hyperion, zumal in der Figur Yvonnes, die der Diotimas nachempfunden zu sein scheint, mit der Erzählweise und Erinnerungsform Robert Walsers in Die Geschwister Tanner oder der Schwere einer Maria Borrély in Mistral. All diese Texte zeichnen sich durch dezidierte Friedlichkeit und Langsamkeit aus. Das Erzählen will der rasenden Zeit wie jedweder Gewalt Einhalt gebieten. Theodor W. Adorno beschreibt es in Minima Moralia wie folgt:
Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden. Zaungäste des Fortschritts wie Maupassant und Sternheim haben dieser Intention zum Ausdruck verholfen, so schüchtern, wie es deren Zerbrechlichkeit einzig verstattet ist.
Theodor W. Adorno aus: „Minima Moralia“ (Aphorismus 100)
Neben Maupassant und Sternheim sei nun auch Henri Alain-Fournier erwähnt. Ihm spielt das Glück leise und still hinüber. Es scheint zwischen den Zeilen hindurch, färbt und sättigt sich an der Wortwahl und verspricht, im Zusammenklang und -spiel zu retten, was alleine kaum besteht, auf sich gestellt leicht zu brechen ist, das, was nicht erzwungen, nur gehört, gesehen, in Verheißung empfunden und vollendet werden kann:
Von Zeit zu Zeit benetzt ein feuchter Windstoß fast wie Regen unser Gesicht und trägt verlorene Töne eines Klaviers zu uns herüber. Dort im verschlossenen Hause spielt jemand. Ich bleibe einen Augenblick stehen, um still zuzuhören. Erst klingt es wie eine zitternde Stimme, die in weiter Ferne kaum wagt, ihre Freude zu singen, dann wie das Lachen eines kleinen Mädchens, das aus seinem Zimmer all sein Spielzeug geholt hat und es nun vor seinem Freund ausbreitet … Ich denke auch an die noch bange Freude einer Frau, die ein schönes Kleid angelegt hat und es vorzeigt und nicht weiß, ob es gefallen wird … Die Weise, die ich nicht kenne, ist auch ein Gebet, ein Flehen an das Glück, nicht zu grausam zu sein, ein Gruß und wie ein Niederknien vor dem Glück …
Henri Alain-Fournier hat kurz vor seinem frühzeitigem und unfreiwilligen Tod im 1. Weltkrieg die Utopie eines friedlichen, schönen, nicht schmerzfreien, aber intensiven Lebens beschrieben, das keine Verbrechen, keine Gräueltaten benötigt, um Glück in der Abwesenheit von solchen empfinden zu können. Alles, so Alain-Fourniers Ich-Erzähler, was nötig ist, ist Aufmerksamkeit und Verbindlichkeit, also das Unterlassen von Grausamkeit. Der Rest, so zeigt Der große Meaulnes, ist schwierig genug.
tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.
Außerplanmäßig werde ich ab und zu Besprechungen zu Klassikern posten. In diesem Zuge soll nach und nach mein Ein Kanon an Leben und Inhalt gewinnen.
Andere aktuelle und Klassiker-Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier.

Könnte sehr viel für mich herausziehen, aus deiner Rezension. Das in Bezug setzen, öffnet mir so oft die Augen. Ermöglicht mir ein anderes Verstehen.
Meaulnes ist ein vorzüglicher Roman, um eine andere Form des Lesens zu erleben. Es ist von seinem Tempo außergewöhnlich, und heutzutage fast gänzlich vergessen. Liebe Xeniana, es freut mich sehr, dass mein Blog bei dir auf offene Augen/Ohren stößt. Vielen herzlichen Dank!!