Rhea Krčmářová: “Monstrosa”

Monstrosa
Monstrosa … ungeminderte Lebensbejahung.

Die enge Lokalisierung in Zeit und Raum, wie bei einem Kur- oder Krankenhausaufenthalt, führt zu Ausbruchsphantasien und surrealistischen Aufbegehrungsdynamiken bei der eng aufeinander bezogenen, sich gegenseitig nicht entkommen könnenden Beleg- oder Patientenschaft. Literarische Beispiele finden sich in Thomas Manns Beschreibung des Schneesturmes in Der Zauberberg, in Olga Tokarczuks Empusion, in welchen jedem Spätherbst eine Art Opferfest unter den Kurgästen ausbricht, oder auch Rainald Goetz‘ Roman Irre, wo der Arzt selber ausbricht und es nicht mehr aushält. Mit Bettina Wilperts Herumtreiberinnen hat Rhea Krčmářovás Monstrosa gemein, dass hauptsächlich die Gruppendynamik junger Frauen narrativ bearbeitet wird. Bei Wilpert in den sogenannten Tripperburgen, bei Krčmářová im Klinikum Gertraudshöhe, nahe Wien, wo Wege aus Essstörungen heraus gesucht werden:

An das, was danach passiert war, hatte ich mich nur in Bruchstücken erinnern können: zusammengekauert am Fliesenboden im Bad sitzen, sich das Leid aus dem Leib würgen, hoffen, dass der grobe Brei aus Essen, Trauer und Magensäure die Stimme nicht allzu sehr angreift. Danach den Kühlschrank plündern wollen, leer vorfinden, spüren, wie das Loch sich bis ins Unendliche ausdehnt. Aufstehen, in mein Zimmer gehen, den Klavierdeckel öffnen, wo alles in der WG Verbotene versteckt war. Chips in meinen Mund schieben, zwei Tüten, nicht schmecken, ob das Paprikaaroma war oder Zwiebel oder Sauerrahm, dann noch eine Packung Kekse, halb gekaut im zitternden, schmerzenden Magen, gegen das Loch ankämpfen, für einige Minuten zumindest. Dann wieder würgen, alles entleeren. Die Monster blubbern und lachen hören.

Rhea Krčmářová aus: „Monstrosa“
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Ivo Andrić: „Die Brücke über die Drina“

Die Brücke über die Drina
Vom Verbinden und Vergessen … Literaturnobelpreis von 1961

Was Dublin für James Joyce in Ulysses und Lissabon für Fernando Pessoa in Das Buch der Unruhe, oder Berlin für Alfred Döblin in Berlin—Alexanderplatz, das ist Višegrad und die Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke für Ivo Andrić in Die Brücke über die Drina. Sie gilt als Sinnbild für die Geschichte, das Werden und Vergehen der Vielvölkerstadt an der Grenze zwischen Bosnien und Serbien. Im Gegensatz jedoch zu den anderen Beispielen löst der Literaturnobelpreisträger von 1961 Ivo Andrić Zeit und Raum auf, verleiht nicht einer Figur die Stimme, sondern lässt einen Kessel Buntes, einen kunterbunten Mosaikreigen auf sein Publikum herabrieseln:

Am Sankt-Veits-Tage veranstalteten die serbischen Vereine, wie in jedem Jahre, eine Kirmes auf dem Mesalin. Am Zusammenfluß der Drina und des Rsaw wurden auf dem grünen hohen Ufer unter den dichten Nußbäumen Zelte aufgeschlagen, in denen man Getränke ausschenkte und vor denen Hammel an Spießen über leichtem Feuer gedreht wurden. Im Schatten saßen die Familien, die ihr Essen mitgebracht hatten. Unter einem Dach aus grünen Zweigen spielte schon laut schmetternd die Musik. Auf der festgestampften Fläche wurde bereits seit dem Vormittag Kolo getanzt.

Ivo Andrić aus: „Die Brücke über die Drina“
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Tijan Sila: „Radio Sarajevo“

Radio Sarajevo
Radio Sarajevo von Tijan Silas … Entraumatisierungsversuch

Literatur gegen das Vergessen, Sprache als Enttraumatisierungsversuch, Erzählen als Vergangenheitsaufarbeitung steht im Zentrum von vielen Gegenwartsromanen, die Einzelschicksale im autofiktionalen Rahmen behandeln, durchdringen und narrativ erforschen. In diese Reihe gehört Tijan Silas Radio Saravejo, in welchem über den Bosnienkrieg in den 1990ern berichtet wird, auf eine Weise, die an Necati Öziris Vatermal erinnert, szenisch-kompositorisch verwandt mit Ivo Andrić‘ Die Brücke über die Drina und sich auf seine Weise an den hintergründigen Humor Tatjana Gromačas in Die göttlichen Kindchen versucht. Der Ich-Erzähler aus Radio Sarajevo lässt sich nicht ins Bockshorn jagen:

In den ersten Wochen hatte mir jede Detonation das Herz aussetzen lassen, inzwischen musste etwas Außerordentliches passieren, damit ich einen Schreck bekam. Einmal saß ich etwa abends in unserer Küche am Esstisch und las Comics, als eine Gewehrkugel die Balkontür zerschmetterte und funkensprühend in dem Schnellkochtopf auf der Küchenzeile stecken blieb – da war ich unter den Tisch gekrochen! Doch sonst? Sonst hörte ich die Explosionen gar nicht mehr.

Tijan Sila aus: „Radio Sarajevo“
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Das Debüt 2023: Meine Favoriten

Das Debüt 2023_Logo(1)
Das Debüt 2023. Meine Favoriten.

Der Blog Das Debüt, auf den Dr. Bozena Badura und Janine Hasse schreiben, lobt den Bloggerpreis „Das Debüt“ für den überzeugendsten literarischen Erstling des jeweils vergangenen Jahres aus. Aus den vielen Einsendungen wird eine Shortlist erstellt, die die teilnehmenden Blogs lesen und besprechen. Die Punktevergabe erfolgt am Schluss und staffelt sich von 5 Punkte für das überzeugendste Debüt, über 3 Punkte und 1 Punkt für die zweit- bzw. drittplatzierten Titel. Wie auch bei meiner Besprechung der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023 und im letzten Jahr für Das Debüt 2022 möchte ich auch dieses Mal meine Punktevergabe so transparent wie möglich gestalten. Selbstredend fällt sie ohnehin vor einem äußerst lese- und erfahrungsspezifischen Hintergrund aus, weshalb ich zusätzlich noch mein Ein Kanon im letzten Jahr erstellt habe, um Gründe zur Annahme an die Hand zu geben, weshalb meine Beurteilungen so und nicht anders für gewöhnlich ausfallen.

Auf der Shortlist stehen dieses Mal fünf Titel:

  1. Tomer Dotan-Dreyfus: „Birobidschan
  2. Viktor Gallandi: „Kaspar
  3. Grit Krüger: „Tunnel
  4. Magdalena Saiger: „Was ihr nicht seht
  5. Jenifer Becker: „Zeiten der Langeweile
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Heinrich Mann: „Der Untertan“

Der Untertan
Der Untertan von Heinrich Mann. Wilhelminisches Gruselkabinett ersten Ranges.

Der Untertan von Heinrich Mann gehört zu den bekanntesten Satiren der deutschsprachigen Literatur. Neben Jean Paul in Siebenkäs, Karl Kraus in Die Dritte Walpurgisnacht und Erich Kästner in Fabian – Die Geschichte eines Moralisten verwendet auch Mann diese literarische Form als ästhetisches und soziales Korrektiv, bestimmte herrschende Zustände anzuprangern. In Der Untertan wird der wilhelminische Geist der Jahrhundertwende karikiert und konnte, obzwar bereits 1914 beendet, wegen der Schärfe der Kritik und Polemik erst 1918 nach Aufhebung der kaiserlichen Zensur erscheinen, traf sodann jedoch den Zeitgeist und avancierte zu einem der erfolgreichsten Nachkriegsromane mit einer Auflage bis 1931 von über 260000 Exemplaren1. Heinrich Manns Satire überzog das bereits untergegangene Kaisertum nochmals mit beißender Häme:

Diederich schwenkte den Hut, er brüllte auf, daß die Herren im Wagen ihr Gespräch unterbrachen. Der rechts neigte sich vor — und sie sahen einander an, Diederich und sein Kaiser. Der Kaiser lächelte kalt prüfend mit den Augenfalten, und die Falten am Mund ließ er ein wenig herab. Diederich lief ein Stück mit, die Augen weit aufgerissen, immer schreiend und den Hut schwenkend, und einige Sekunden lang waren sie, indes ringsum dahinten eine fremde Menge ihnen Beifall klatschte, in der Mitte des leeren Platzes und unter einem knallblauen Himmel ganz miteinander allein, der Kaiser und sein Untertan.

Heinrich Mann aus: „Der Untertan
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Jenifer Becker: „Zeiten der Langeweile“ (Das Debüt 2023)

Zeiten der Langeweile
Zeiten der Langeweile …   Shortlist von Das Debüt-Bloggerpreis 2023.

Zurückweisung in romantischen Angelegenheiten wird in der Literatur auf verschiedenste Weise verarbeitet. In Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774) erschießt sich der gleichnamige Protagonist; wie auch die Protagonistin Marie aus Maria Borrélys Mistral (1930) die Heirat ihres Angebeteten nicht anders ertragen kann, als sich in einem See zu ertränken. Heinrich Bölls Hans aus Ansichten eines Clowns (1963) entschließt sich zu einem Leben als Landstreicher und Straßenmusiker, wohingegen der Ich-Erzähler aus Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts (1822) lieber das Weite sucht und so zurück zu seiner Herzensdame findet. In Jenifer Beckers Romandebüt Zeiten der Langeweile verarbeitet die Ich-Erzählerin Mila die Trennung von ihrem Freund Nicki auf radikale Weise. Sie zieht sich aus allen sozialen Beziehungen mehr und mehr zurück:

Zuerst digitaler Detox und dann der Anfang eines analogen, eintönigen Lebens, wo ich in einem unaufgeregten Büro ohne Social-Media-Auftritt arbeiten würde, dem Druck enthoben, ständig irgendjemanden beeindrucken zu müssen. Als mich mein Bruder nach meinen Beweggründen fragte, sagte ich, ich wolle online nicht mehr gesehen werden, Leute nicht mehr online sehen, mich nicht mehr darüber abfucken, warum Nicki mein Selfie nicht geliked hatte, jemand ein Buch publizierte, heiratete, ein Kind bekam, auf die Malediven flog oder darüber, dass ich meine Skin-Care-Routine nie einhielt.

Jenifer Becker aus: „Zeiten der Langeweile“
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Viktor Gallandi: „Kaspar“ (Das Debüt 2023)

Kaspar
Kaspar von Viktor Gallandi …   Shortlist von Das Debüt-Bloggerpreis 2023.

Nicht nur die Musik beheimatet das Quodlibet. Auch die Literatur kennt es. Das Quodlibet stellt musikalisch ein scherzhaftes Musikstück da, in dem verschiedene Melodien zeitgleich erklingen und im Spiel und Übereinandergehen etwas Unerwartetes erzeugen können. In seiner schlichtesten Form nennt es sich Medley. In der Literatur lässt sich das Gleichzeitige weniger gut realisieren, durch die lineare Rezeptionsform, und so besteht das Quodlibet hier darin, dass scherzhafte Dichtungselemente durch inkohärente Kombinationen überraschende Wirkungskraft entfalten. Der barocke Schelmenroman und die frühneuhochdeutschen Pastorellen illustrieren dieses Verfahren. Neuerdings tauchen vermehrt Quodlibets auf dem Literaturmarkt auf: Jan Faktors Trottel, Necati Öziris Vatermal, Tomer Gardis Eine runde Sache oder nun Viktor Gallandis Debütroman Kaspar:

Wie man sieht, fällt es in der Lage, in der ich mich zu befinden behaupte, schwer, den Dingen Eigenschaften zuzuschreiben, die man nicht auch einem Nichtding zuschreiben könnte, und umgekehrt. Das macht natürlich nichts. Meine Empfindsamkeit soll eine sein, die sich nicht an Maß und Maßgeblichkeit zu halten braucht, eine schrankenlose, in alle Richtungen und in sich selbst offene, die den Sternen den Schweiß auf das Gestirn treibt, geoffenbart vor einer überkommenen Leere, unendliche Einfaltung in die zum Nonsens verdichtete Subjektivität.

Viktor Gallandi aus: „Kaspar“
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Magdalena Saiger: „Was ihr nicht seht“ (Das Debüt 2023)

Dass der Kunst- und Kulturbetrieb seine Schattenseiten hat, thematisieren viele Bücher. Magdalena Saigers Debütroman Was ihr nicht seht oder: Die absolute Nutzlosigkeit des Mondes wählt einen Aussteiger aus diesem Milieu, aber anders als Max Frischs Stiller, in welchem es auch um einen Bildhauer, zeitweise um die Schweiz, um einen Aussteiger und Flüchtling aus dem eigenen Leben geht, konzentriert sich Saiger um die produktive, künstlerische Seite dieser Entscheidung und weniger um das persönliche, innere Drama ihres Protagonisten:

An Schlaf war jetzt nicht zu denken, und das lag nicht am vielen Kaffee, hier würde auch der Aquavit nicht helfen, also zog ich mir den Mantel noch einmal über und trat in die Nacht hinaus. Sie war, wenn die Augen sich einmal gewöhnt hatten, hell genug, um die Umrisse von Wald und Grube zu erkennen und nicht ins Bodenlose zu stürzen, und so ging ich im raschen Tempo der Gewissheit, einen Schritt getan zu haben. Ich bewegte mich am Waldrand die Kante entlang, sie zog einen fahlen Halbkreis wie ein Flusstal, ein paar Sterne funkelten in der kalten Nachtluft, ich grüßte sie als meine elektrisierten Freunde.

Magdalena Saiger aus: „Was ihr nicht seht“
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Tomer Dotan-Dreyfus: „Birobidschan“ (Das Debüt 2023)

Birobidschan
Birobidschan von Tomer Dotan-Dreyfus … Shortlist von Das Debüt-Bloggerpreis 2023.

Das Thema von Tomer Dotan-Dreyfus‘ Debütroman Birobidschan lautet vordergründig Heimatlosigkeit und stellt die Frage, wo die Heimat liegt, wo sie gefunden werden kann, und ob sie nicht als Ort zwischen den Menschen, in den Verhältnissen und Erinnerungen der Menschen untereinander besteht und nur auf diese Weise Realität erlangt. Der Ort Birobidschan, eingeführt als die Möglichkeit eines neuen sozialistischen Paradieses, liegt an der russisch-chinesischen Grenze, fast am Pazifik, genauer am Ochotskischen Meer, aber seine Geschichte, sein geographischer Standort spielen bei Doten-Dreyfus keine Rolle, auch nicht seine relative Nähe zum Ort des bislang ungeklärt gebliebenen Tunguska-Ereignisses. Dotan-Dreyfus improvisiert in Birobidschan über Menschen und ein dörfliches Zusammenleben, das so überall auf der Welt sich abspielen könnte:

[Miriam] lehnte sich gegen den Baumstamm und sprach über den Feiertag [Sukkot]. »Findest du es nicht eigenartig, dass wir schon so lange in Häusern wohnen und trotzdem einmal im Jahr durch diese peinlichen Laubhütten an eine Zeit erinnern, in der wir angeblich kein sicheres Zuhause hatten?«
»Weiß ich nicht«, antwortete [Dmitri] verlegen, »ich habe kein Zuhause.«

Tomar Dotan-Dreyfus aus: „Birobidschan“
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Grit Krüger: „Tunnel“ (Das Debüt 2023)

Romane besitzen ein eigenes Zeitmaß und vermögen es, in raumzeitliche Bedeutungszonen zu entführen. Sie eignen sich daher auch und insbesondere dafür, psychische Abgründe, seelische Labyrinthe, emotionale Sackgassen auszuloten. Das narrative, in sich vielschichtige Netz simuliert die Zustände zwischen Alptraum und Hoffnung in allen Schattierungen. Tunnel von Grit Krüger, das ich im Rahmen des Das Debüt-Bloggerpreises 2023 gelesen habe, handelt von einer jungen Mutter namens Mascha, die aussichtslos, perspektivenlos durch ihr Leben treibt und eine Entscheidung zu treffen hat und trifft: Ein Abenteuer, koste es, was es wolle, muss her.

1.200 Euro: Hydraulischer Rettungssatz, Schere und Spreizer vom Feuerwehrfachbedarf, gebraucht, Expresslieferung, Ratenzahlung möglich. Mascha zögert. Das Gerät zerschneidet Autowracks, öffnet Stahltüren und wird auch einen Weg finden, mit einem Bohrkopf fertigzuwerden, der im Boden steckt. Mascha schluckt. 1.200 Euro in schleichenden Raten weniger für Spaghetti und Toast – aber auch 1.200 Euro, die sie spüren wird, hier und jetzt. Mein Keller, denkt sie, mein Reich, mein Raum.

Grit Krüger aus: „Tunnel“
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