David Wonschewski: „Blaues Blut“

David Wonschewski: "Blaues Blut"
Lebensfrohe Selbstbeschimpfung …

Sich in Selbstmitleid ertränkende Männer stehen in der Gegenwartsliteratur hoch im Kurs. In Heinz Strunks Es war immer so schön mit dir stellt ein solcher einer magersüchtigen Schauspielerin nach und gerät in einen Mahlstrom der Selbsterkenntnis. Michel Houellebecq inszeniert in Vernichten das Regredieren aufs Minimalniveau kurz vor dem Tod. Und Quentin Tarantino will die Welt nicht so, wie sie ist, und flüchtet sich in Es war einmal in Hollywood mit seinem Protagonisten in das Hollywood der 1970er Jahre. Zu nennen seien noch Yoga von Emmanuel Carrère, Das Traumbuch von Martin Walser und Maxim Billers Der falsche Gruß. Bis auf Walsers beinahe nur als Lyrikband zu bezeichnende Sammlung von Prosatexten eignet all diesen eine gewisse Verdrossenheit, anämische Resignation an. David Wonschewski schüttelt diesen etwas bleiernen Diskurs mit Blaues Blut ordentlich durch und lässt kaum einen Stein auf den anderen:

Weil dein Boss vor allen Kollegen ‚Das ist mein Maaaannn‘ gerufen und mit dem Zeigefinger auf dich gedeutet hat, während die erblassenden Kollegen um dich herumgestanden und hemmungslos auf dich einapplaudiert haben. Und du, der nie zuvor einer Massenvergewaltigung beigewohnt hat, kniest am Abend deiner gloriosen 11,25-Performance in bester Blowjob-Haltung vor dem Klo, bläst aber nicht, sondern reiherst dir die Eingeweide aus dem Leib. Vor Scham, vor Ekel, vor Abgegriffenheit. Bist du Arbeitnehmer, bist du Dirne, denkst du, als du den Klodeckel nach deiner Reiherarie kraftlos zurück auf den Sitz fallen lässt.

David Wonschewski aus: “Blaues Blut”
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Kalenderwoche 20: Lesebericht.

Kalenderwoche 20: Lesebericht.

Diese Woche stand ganz im Zeichen von Ágota Kristóf, Sibylle Berg und Gotthard Günther. Eine seltsame Mischung: Kristóf ganz versunken im Weltwahrnehmungs-Jetzt, Günther über die Zukunft einer transplanetarischen, kybernetischen Kultur schwadronierend, während Berg mit Semantik und Sinnstiftung kurzen Prozess mit Vergangenheit und Zukunft macht. Die Fetzen flogen auf dem Schreibtisch. Trotzdem haben sie sich irgendwie verstanden. Oft stelle ich mir ein lebhaftes Gespräch zwischen den Autoren und Autorinnen, die ich gerade lese, vor, wie sie voreinander sitzen und sich geduldig zuhören, den Kopf nicken, hier und da inspiriert, dann und wann verdattert. Kristóf war von allen die offenste und interessierteste.

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Kalenderwoche 19: Lesebericht.

Frühmorgens, wenn man in Berlin selbst die Vögel hört, lässt sich der Tag gut an. Wenig Regen in Berlin, dezente Straßengeräusche, viel weniger Sirenen. Neben der alltäglichen Arbeit glücklicherweise Zeit gefunden, Gotthard Günthers Geschichts-Rundumwasch zu lesen, dies mit Gustave Flauberts Briefen und Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand zu garnieren, und mir zum Nachtisch die transzendentale Analytik Kants zu Gemüte zu führen. Insbesondere das Amphibolie-Kapitel hat sehr viel Zeit gefressen, da ich es gleich vier Mal lesen musste, um das gespannte Verhältnis zu Leibniz zu beruhigen. Nun aber die drei Kategorien: Gekauft, an- und weitergelesen, ausgelesen.

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Immanuel Kant: „Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe“

Von Amphibolien und anderen Dämonen.

Wenige, nur einige Seiten lange Kapitel kondensieren so sehr Geistes- und Denkbemühungsgeschichte wie Immanuel Kants Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. Dieser Anhang samt seinen Anmerkungen beschließt die erste Abteilung der transzendentalen Analytik in der Kritik der reinen Vernunft und markiert ein atemloses Abwägen, eine Gratwanderung zwischen Tautologie und Ontologie mit schillernden Konsequenzen. Hier verdichtet sich eine Zeit und sattelt um. Gleich einer Schubumkehr wandelt die Leibniz-Wolffsche Philosophie ihr Gesicht und dankt ab, um dem Neuen und Offenen unverminderte Einkehr in das argumentative Denken zu verschaffen. Genau gelesen befindet sich das Amphibolie-Kapitel nämlich in einem Schwebezustand. Es herrscht bereits ein beschwingtes Nicht-Mehr, aber zugleich auch ein banges, unentschiedenes Noch-Nicht. Im Folgenden ein Nachvollzug dieser intellektuellen Implosion und hierfür, vorangestellt, eine kurze Einbettung des janusköpfigen Amphibolie-Kapitels.

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Kalenderwoche 18: Lesebericht.

Lesen in der Sonne.

Die Sonne macht es einem leichter am Fenster zu lesen. In dieser Woche habe ich mich vor allem mit Gotthard Günthers Die Amerikanische Apokalypse beschäftigt und in Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft gelesen. Günther hat eine gewisse Leichtigkeit der Geschichte gegenüber, fast schwadronierend, leichtfertig, unbesonnen, die gut Arendts zum Schwermut tendierenden, die Reflexionszonen des Soziologischen und Historischen aussondierenden Stil ausgleicht. Eigentlich hatte ich noch Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. erneut lesen wollen. Aber es klappte wieder nicht (obwohl die Sonne schien). Jean Paul schrieb zwar:

„Ein Buch, das nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, ist auch nicht wert, dass man’s einmal liest.“

Jean Paul aus: “Siebenkäs” – Vorrede

Doch es gibt so viele Bücher, dass es kaum möglich ist, die bereits gelesenen nochmals zu lesen, obwohl sie es verdient hätten. Plenzdorf gehört dazu. Nun zu meiner dreigliedrigen Liste – gekauft, angelesen, ausgelesen:

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