Vladimir Nabokov: „Lolita“

Lolita
Lolita von Vladmir Nabokov. Inkonsistentes Erzählen und Plotpirouetten.

Skandalbücher besitzen etwas sehr Zeitgebundenes. Sie antworten auf einen Zeitgeist, der aufschrickt, entsetzt zurückweicht. Bald schließen sie daraufhin die Lücke, die dem Zeitgeist bewusst geworden ist, um langsam in Vergessenheit zu geraten oder etwas verstaubt vor sich hin zu altern. Oh Boy: Männlichkeit*en heute oder Michel Houellebecqs Romane wie Unterwerfung stehen gegenwärtig für diese Form Pate. Vor ein paar Jahren gab es bspw. Charlotte Roches Feuchtgebiete, noch länger her Bret Easton Ellis‘ American Psycho und dann, irgendwann, kommt, kurz vor Erich Kästners Fabian. Die Geschichte eines Moralisten auch schon Vladimir Nabokovs Lolita (1955):

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta. Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand, Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.

Vladimir Nabokov aus: „Lolita“
„Vladimir Nabokov: „Lolita““ weiterlesen

Ulrich Plenzdorf: „Die neuen Leiden des jungen W.“

Die neuen Leiden des jungen W.
Die neuen Leiden des jungen W. … Intensität statt Larmoyanz.

Das Thema DDR treibt wie kaum ein anderes die Gegenwartsliteratur um. Kaum eine Shortlist kommt ohne einen solchen Titel aus, der sich an der Vergangenheitsaufarbeitung des untergegangenen Staates versucht und ein weiteren Aspekt von dessen Staatsapparat beleuchtet. Sei es Helga Schubert Vom Aufstehen, Heike Geißler Die Woche, Anne Rabe Die Möglichkeit von Glück oder Trottel von Jan Faktor, um nur einige wenige aktuelle Romane dieser Art zu nennen. Um diesen Romanen einen innerliterarischen Hintergrund zu verleihen, mit welchem sie, ob sie es wollen oder nicht, ohnehin kommunizieren, bietet es sich an, exemplarische Romane der DDR-Literatur selbst zu Wort kommen zu lassen. Werner Bräunigs Rummelplatz, Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand und Christoph Heins Der Tangospieler gab es bereits. Heute soll nun Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. einstimmen dürfen:

Ein neuer Code. Ich hätte mir in den Hintern beißen können. Wenn wir in Stimmung waren, konnten wir uns zum Beispiel massenweise blöde Sprichwörter an den Kopf werfen: Ja, ja, das Brot hat immer zwei Kanten. — Schon recht. Aber wenn man das Geschirr morgens nicht abtrocknet, ist es noch naß. — Wer dumm ist, braucht noch lange nicht blöd zu sein. — Arbeit macht die Füße trocken. In dem Stil. Aber das war zuviel für Old Willi. Leute, seine Stimme hättet ihr hören sollen. Er verstand die Welt nicht mehr.

Ulrich Plenzdorf aus: „Die neuen Leiden des jungen W.“
„Ulrich Plenzdorf: „Die neuen Leiden des jungen W.““ weiterlesen

Martin Mosebach: „Krass“

Krass
Krass von Martin Mosebach. Ein Anti-Bildungsroman.

Martin Mosebach gehört in den Umkreis der als kulturell rückwärtsgewandt eingestuften Schriftsteller wie Botho Strauß, Uwe Tellkamp oder Martin Walser. Schreibt Tellkamp klar in der Tradition eines Ernst Jünger, so findet Mosebach in Heimito von Doderer sein literarisches Vorbild und teilt die zutiefst innige sprachliche Rückverbindlichkeit mit Martin Walser, der sich in späten Jahren in Nachfolge eines Emanuel Swedenborg gesehen hat. Klagen Strauß und Tellkamp aber eher mit der Vergangenheit im Rücken die Zukunft und Gegenwart an, so verhält es sich mit Mosebach umgekehrt. Mit der Gegenwart und Zukunft im Rücken zerstört sich ihm selbst die Vergangenheit, und es bleibt fraglich, was zurückbleibt außer Eitelkeit:

Aber man schenkte [Levcius] keine Aufmerksamkeit mehr, denn soeben näherte sich über die breite Treppe, die vom ersten Stock in die Halle führte, der Gastgeber. Sein majestätischer Körper war von einem dunklen Anzug aus leichtestem Stoff umspannt, der bei jedem Schritt Wellen schlug, als wäre er eine flüssige Substanz. Unbeweglich war dagegen sein Gesicht, aber diese Maske war jetzt zum Teil einer Komposition geworden, da Lidewine neben ihm schritt, ihn fast überragend, weil ihr reichliches, den Kopf umstehendes Haar sie größer erscheinen ließ.

Martin Mosebach aus: „Krass“
„Martin Mosebach: „Krass““ weiterlesen

Vorstufen einer Taxonomie des Romans (ii): Plot

Plot
Plot-Kategorien.

Im ersten und vorangegangen Kategorie-Kapitel beschäftigte ich mich mit dem literarischen Stoff. Hier spielte das Wortfeld, das generelle, weitere Thema eine Rolle, also wo wird das Geschehen angesiedelt, um was für eine Welt handelt es sich, welcher Ausschnitt der Welt wird thematisch im Textgeschehen. Ein Beispiel wäre: das öffentliche Miteinander, die sozialen Interaktionen, berufliche Schwierigkeiten, Einflüsse der anderen auf das eigene Leben, aber hier andere, die in keinem verbindlichen sozialen Zusammenhang mit einem stehen, bspw. Kollegen.

Dieser Stoff lässt sich als Medium vorstellen, als Masse, als Gewebe, das träge und entspannt daliegt, mehr oder weniger durch seinen Wortschatz festgelegt und beschreibbar ist. Der Plot nun, dessen Kategorien ich im Folgenden darstellen möchte, dynamisiert den Stoff, bringt ihn dazu, Wellen zu schlagen, sich zu kräuseln, sich zu falten, aufzuwerfen, sich zu dehnen, zu verzerren, sich in der Form zu verändern und mehrdimensional zu werden. Der Plot dynamisiert den Stoff, haucht ihm Leben ein, und zwar durch Ereignisse und Handlungen.

„Vorstufen einer Taxonomie des Romans (ii): Plot“ weiterlesen

Paul Auster: „Baumgartner“

Baumgartner by Paul Auster
Baumgartner von Paul Auster. SWR Bestenliste und Spiegel Belletristik Bestseller 2024.

Postmodernes zeichnet sich vor allem durch das Fehlen von Zurechenbarkeit aus. Heutzutage gilt das Zitat so viel wie die Schöpfung, der Plot so viel wie die Montage, die Ironie, nur ohne Maske, eben als unverbindliches Spiel, das auf diese Weise Gestaltungsräume zu öffnen sucht, die allzu strikte Kompositionsarbeit versperrt. Mit anderen Worten: die Erzählstimme wird von jedweder Erwartungshaltung befreit. Paul Auster, nicht so narrativ-radikal wie Italo Calvino in Wenn ein Reisender in einer Winternacht oder Julio Cortázar in Rayuela oder auch Christian Kracht in Eurotrash, stellt sich nichtsdestotrotz in die Tradition des dirigierend spielerischen Erzählens:

Weg, aber nicht weg, könnte man sagen, festgeklebt, die Füße an den Boden geleimt, eingesperrt in einen bedenklichen inneren Raum, in dem er zu jemandem geworden war, der zu viel Zeit zur Verfügung hatte, und da Baumgartner nicht in der Verfassung war, die Arbeit an seinem Buch über Thoreau wieder aufzunehmen oder irgendetwas anderes anzufangen, war diese Zeit ungeheuer lang und leer, eine lange Reihe leerer Tage, an denen er kaum etwas anderes tat, als [Annas] Unterwäsche zu falten und wieder zu falten und die Post mit einem stetigen Strom schamloser, schmutziger Briefe an eine Frau zu fluten, deren Körper er niemals wieder sehen oder berühren würde.
Paul Auster aus: „Baumgartner“

„Paul Auster: „Baumgartner““ weiterlesen

Vorstufen einer Taxonomie des Romans (i): Literaturstoffe

Ich möchte eine Reihe beginnen, in der ich über die Kategorisierung, die Ordnungsschemata und Bezugsgrößen reflektiere, die sich bei der Besprechung und Beurteilung und In-Bezug-Setzung von Romanen ergeben haben.

Ich unterscheide hierfür in drei materiale Bereiche: Inhalt, Form und Komposition, die sich am Textganzen, anhand von Textbeispielen, festmachen, also dokumentieren lassen (im Unterschied zum Leseerlebnis).

Diese Bezugsgrößen sollen eine erhöhte Kommunikabilität der Romane herstellen, also ein In-Bezug-Setzen erleichtern, durch Vergleiche Eigenschaften hervorheben und hervortreten lassen, also eine Umgebung des Romans schaffen, in welchem er literaturhistorisch kommuniziert. Romane entstehen nicht im luftleeren Raum, und so möchte ich einen Versuch unternehmen, die jeweilige Umgebung der Romane zu entdecken und so einen multiperspektivischen Raum der Literatur zu entfalten, der das Leseerlebnis möglicherweise bereichert (so die Hoffnung).

Ich beginne heute mit dem Begriff Stoffe, aus dem Bereich Inhalt.

„Vorstufen einer Taxonomie des Romans (i): Literaturstoffe“ weiterlesen

Didier Eribon: „Eine Arbeiterin“       

Eine Arbeiterin: Leben, Alter und Sterben | Das große neue Buch des Autors  von »Rückkehr nach Reims« : Eribon, Didier, Finck, Sonja: Amazon.de: Bücher
Eine Arbeiterin von Didier Eribon. SWR Bestenliste 05/2024.

Didier Eribon, Journalist, Soziologe und Autor von Beruf, legt mit Eine Arbeiterin einen seltsamen Hybrid vor. Autobiographisch motiviert, literaturwissenschaftlich ambitioniert, politisch agitierend handelt er auf etwas weniger als dreihundert Seiten das Thema Altern und Pflegeheime anlässlich des Todes seiner Mutter ab. In rückhaltloser Ehrlichkeit wie Emmanuel Carrère in Yoga nennt er das Kind, seine Scham, sein Versagen und seine Reue beim Namen:

Mittlerweile ist mir bewusst, dass ich zugleich dank meiner Mutter und in Abgrenzung zu ihr der Mensch geworden bin, der ich bin. In meinen Gedanken war das In-Abgrenzung-zu-ihr lange Zeit stärker als das Dank-ihr. Natürlich schäme ich mich seit Langem für all die Beispiele meines Egoismus und meiner Undankbarkeit. Mich schmerzt, wie viel Schmerz ihr mein Egoismus und meine Undankbarkeit zugefügt haben. Doch wie Albert Cohen in ‚Das Buch meiner Mutter‘ schreibt: »Etwas spät«, das schlechte Gewissen.
Didier Eribon aus: „Eine Arbeiterin“

„Didier Eribon: „Eine Arbeiterin“       “ weiterlesen

Michaela Maria Müller: „Zonen der Zeit“

Zonen der Zeit by Michaela Maria Müller
Zonen der Zeit von Michaela Maria Müller. Aufhebung der Kampfzonen.

Zwischen Alfred Döblins Berlin-Alexanderplatz und Erich Kästners Pünktchen und Anton spannt sich eine weite Palette von Berlinromanen bis zu Judith Hermanns Sommerhaus, später und Cees Nootebooms Allerseelen auf. Großstädte bringen Freiräume mit sich, spezifische Nischen, die eigene Geschichten schreiben. Michaela Maria Müller schreibt mit Zonen der Zeit einen eigenwilligen, ruhigen Roman über zwei sehr besonnene Menschen:

Ich erzählte Enni, wie [der Gedanke an die Eiszeit] meine Perspektive zurechtrückte. Und dass viel mehr hinter den Dingen stecken konnte, als man auf den ersten Blick sah.
»Und jetzt sitzen wir hier am letzten Meter. Tatsache,« sagte Enni beeindruckt. Sie schaltete die Taschenlampe aus. Bis auf ein paar Wolken, die sich vor den Mond geschoben hatten, war der Himmel klar. Wir hörten eine Weile dem Plätschern des Wassers zu.
»Flüsse wissen nichts voneinander, bis sie sich begegnen. Und dann gehören sie zusammen,« sagte ich.
Michaela Maria Müller aus: „Zonen der Zeit“

„Michaela Maria Müller: „Zonen der Zeit““ weiterlesen

Cees Nooteboom: „Allerseelen“

Allerseelen - Nooteboom, Cees
Allerseelen von Cees Nooteboom. Schwebend aus eigener Schwere heraus. 

Allerseelen lässt sich als Abschluss einer vielleicht unbewusst angelegten Trilogie denken, die mit Rituale (1980) ansetzt, über Die folgende Geschichte (1991) seine Richtung sucht und als eine Reise durch die Nacht mit Allerseelen (1998) die Todessehnsucht durchschreitet und den Weg in die Welt der Lebenden findet. In allen drei Romanen steht der Topos Tod im Vordergrund. In Allerseelen nun auch vom Titel her:

Als die beiden anderen weg waren, lag Arthur da und schaute immer noch auf die Bilder. Allerseelen. Er wußte nicht genau, was er sich darunter vorzustellen hatte, aber er hatte den Eindruck, das Wort habe mehr mit Lebenden als mit Toten zu tun. Es mußten Tote sein, die sich noch irgendwo aufhielten, es war unmöglich, sie ganz wegzubekommen, man mußte ihnen noch Blumen bringen.
Cees Nooteboom aus: „Allerseelen“

„Cees Nooteboom: „Allerseelen““ weiterlesen

Han Kang: „Griechischstunden“

Griechischstunden - Han Kang
Griechischstunden von Han Kang. Geduldiges Dunkelsein.

Außenseiter eignen sich für die Literatur, die mit allgemeinen Mitteln, also mit der Sprache, das Besondere, einzufangen sucht. Der eigenartige Mensch lässt Ungewohntes erscheinen, da er sich unnormal verhält, gegen Konventionen verstößt und so Licht auf Verhältnisse wirft, die ansonsten im Unbewussten weiter schlummern würden. Franz Kafkas Helden können als Beispiel genannt werden, oder Gustav Flauberts Madame Bovary. Auch Haruki Murakami mit Die Stadt und ihre geheimnisvolle Mauer oder Cees Nooteboom mit Die folgende Geschichte, um einen weiteren Vertreter der Gegenwartsliteratur zu nennen, beschäftigen sich hauptsächlich mit Aussteigern und seltsamen Käuzen. Insbesondere mit letztgenanntem Kurzroman hat Han Kangs Griechischstunden viel gemein:

An dem Tag, als du mich in deine Arme nahmst, habe ich wohl, bebend vor Klarheit, das Zarte, Glühende und Unverstellte dieser Geste verstanden. Dass der menschliche Körper eine traurige Angelegenheit ist, hohl, weich und verletzlich. Die Arme. Die Achselhöhlen. Die Brust. Die Leiste. Dieser Körper, zum Umarmen geboren und dazu, Lust darauf zu machen.
Han Kang aus: „Griechischstunden“

„Han Kang: „Griechischstunden““ weiterlesen