Toni Morrison: „Menschenkind“

Dem Monströsen literarisch die Stirn geboten … Nobelpreis für Literatur 1993

Die Menschheitsgeschichte wartet mit vielen Abgründen auf. Die Sklaverei gehört dazu. Ihren Horror zu beschreiben, die Erinnerungen an die Verbrechen aufrechtzuerhalten, fordert das geschichtsträchtige Schreiben heraus. Unter die zahmen und umstrittenen Varianten gehören Harriet Beecher Stowes Onkel Toms Hütte (1852) oder Alex Haleys Wurzeln (1976). Toni Morrison, afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin von 1993, schlägt eine härtere Gangart der Geschichtsvergegenwärtigung ein. Wie bei William Faulkner in Schall und Wahn steht in ihrem Roman Menschenkind aus dem Jahr 1987 eine schwarze Köchin im Zentrum des Geschehens. Ihr Name ist Sethe:

Ein Weißer kommt, um Denver zur Arbeit abzuholen, und Sethe geht auf ihn los. Der Babygeist kehrt als böser Geist zurück und macht, dass Sethe auf den Mann losgeht, der sie vor dem Erhängen gerettet hat. In einem sind sich alle einig: zuerst haben sie das Etwas gesehen und dann nicht mehr. Als sie Sethe zu Boden geworfen und ihr die Eishacke aus der Hand genommen hatten und zurück zum Haus schauten, war es fort.

Toni Morrison aus: “Menschenkind”

[Triggerwarnung: Die US-amerikanische Schriftstellerin Toni Morrison verwendet in ihren Zitaten teilweise die Sprache der Sklavenhalter und benutzt das N-Wort. Ich zitiere Toni Morrison unverändert.]

Inhalt/Plot:

Das Etwas, das fehlt, heißt Menschenkind (im Original Beloved – Geliebte), um die sich Morrisons Roman dreht. Die deutsche Übersetzung wirkt irreführend, denn der Roman beginnt mit einem Zitat aus der Bibel:

Ich will das mein Volk heißen, das nicht mein Volk war, und meine Liebe, die nicht meine Liebe war.

Römer 9,25 [Lutherbibel]

Im Englischen lautet die Stelle aber:

I will call them my people, which were not my people; and her beloved, which was not beloved.

Es taucht also bereits auf der ersten Seite der Name einer der Hauptfiguren auf, Beloved, jene, die das Zentrum des Romans bildet. „Menschenkind“ trifft es nicht, denn hier geht eine Verknüpfung verloren, die Morrison genauestens intendiert hat. „Beloved“ steht nämlich auch auf dem Grabstein von Sethes Tochter:

Zehn Minuten für zwölf Buchstaben. Hätte sie mit noch einmal zehn ein »Innigst Geliebtes« dazubekommen? [Sethe] hatte nicht daran gedacht, ihn zu fragen, und es quälte sie noch immer, dass es vielleicht möglich gewesen – dass sie für zwanzig Minuten, sagen wir eine halbe Stunde, alles auf den Grabstein ihrer Kleinen eingemeißelt bekommen, jedes Wort, das sie den Prediger beim Begräbnis hatte sagen hören (und sicherlich alles, was es dazu zu sagen gab): Innigst geliebtes Menschenkind.

Im Englischen heißt es nur „Beloved“, respektive „Dearly Beloved“ und so bindet sich alles um den Grabstein, die verstorbene Tochter, um die Gemeinschaft, die noch keine Gemeinschaft ist, und die Trauer um die, die nicht mehr in der Gemeinschaft sind. Sethes Geschichte dreht sich um ein Trauma.

Die Mutter ihres Ehemannes Baby Suggs wurde von diesem freigekauft. Sie zog in ein kleines Häuschen in die 124 Bluestone Road. Als es auf der Farm zu schlimm wurde, nachdem die hochschwangere Sethe von den Nachfolgern der gutmütigen einstigen Besitzer blutig gepeitscht und vergewaltigt wurde, rissen sie und alle anderen Sklaven aus. Halle fand seinen Weg nicht zurück zu seiner Mutter, aber Sethe mit ihren drei Kindern und ihrem Neugeborenen, das sie auf der Flucht bekam, ihre Tochter Denver, gelangt schwerverletzt in die Bluestone Road. 28 Tage dauert das Idyll. 28 Tage Frieden, Glück, eine Aussicht auf ein gewaltfreies, fröhliches Leben ohne Missbrauch, Drangsal und Demütigung:

Sethe hatte achtundzwanzig Tage – einen ganzen Mondzyklus – unversklavten Lebens genossen. Von dem reinen klaren Strom von Speichel, den die Kleine ihr ins Gesicht sabberte, bis zu ihrem öligen Blut waren es achtundzwanzig Tage. Tage der Heilung, der Entspannung und richtiger Gespräche. Tage der Gesellschaft: Sie lernte die Namen von vierzig, fünfzig anderen Negern kennen, ihre Ansichten, Gewohnheiten, erfuhr, wo sie gewesen waren und was sie getan hatten. Tage, in denen sie die Freuden und die Leiden dieser Menschen mitempfand, zusätzlich zu ihren eigenen, was ihr Erleichterung verschaffte.

28 Tage später finden die Sklavenjäger Sethe im Hause der Schwiegermutter. Noch am Tag zuvor feierten sie ein großes Brombeerfest zu Ehren ihrer jüngsten Tochter Denver. Sie gaben sich großzügig und unbeschwert, vielleicht etwas zu spendabel für den Geschmack der eher ärmeren Nachbarschaft, zu stolz, zu wenig bescheiden für ihre Herkunft und im Grunde Angewiesenheit auf den guten Willen der Bewohner im Vorort Cincinnatis, wie Baby Suggs befürchtet, und richtig, als die Sklavenjäger den Ort erreichten, warnte sie niemand und so standen die bewaffneten Männer plötzlich vor der Tür. In Panik greift Sethe ihre Kinder, bringt sie in den Schuppen und will sie vor einem Leben in der Sklaverei bewahren, indem sie sie umbringt. Sie beginnt mit der zweitjüngsten Tochter, Beloved:

Der Neffe ging auf den alten Nigger zu und nahm ihm die Axt aus der Hand. Dann machten sich alle vier [Sklavenjäger] auf den Weg zum Schuppen. Drinnen lagen zwei Jungen blutend in den Sägespänen und dem Dreck zu Füßen einer Niggerfrau [Sethe], die mit einer Hand ein blutüberströmtes Kind an die Brust drückte und in der anderen ein Baby an den Fersen hielt. Sie schaute sie nicht an.

Völlig konsterniert geben die Sklavenjäger auf und verschwinden. Sethe kommt als Kindsmörderin mit ihrem Neugeborenen ins Gefängnis, die Schwiegermutter verzweifelt und gibt auf. Der Roman setzt 18 Jahre später, im Jahre 1873 an, als Paul D, der zur selben Zeit wie Sethe abgehauen ist, seinen Weg zurückfindet. Sethe und ihre Tochter Denver leben völlig isoliert vom Rest der Gemeinschaft in ihrem Haus, das sich Denver nicht zu verlassen traut. Baby Suggs ist bereits seit vielen Jahren tot. Keiner besucht sie. Sie leben als Aussätzige. Zur selben Zeit taucht auch eine junge Frau auf den Stufen des Hauses 124 auf. Sie nennt sich Menschenkind [Beloved]:

[Die junge Frau] schüttelte den Kopf und streckte die Hand aus, um sich die Schuhe auszuziehen. Sie zog ihr Kleid bis zu den Knien hoch und rollte die Strümpfe herunter. Als sie die Strümpfe in die Schuhe gesteckt hatte, sah Sethe, dass ihre Füße wie ihre Hände waren, weich und neu. Sie musste wohl auf einem Wagen mitgenommen worden sein, dachte Sethe. Wahrscheinlich eins von diesen Mädchen aus West Virginia, die etwas Besseres als ein Leben lang Tabak und Zuckerrohr suchten. Sethe bückte sich, um ihre Schuhe aufzuheben.
»Wie heißt du denn wohl?« fragte Paul D.
»Menschenkind«, sagte sie, und ihre Stimme war so leise und heiser, dass die drei einander abwechselnd anschauten. Zuerst hörten sie nur die Stimme – erst dann den Namen.

Denver und Sethe vermeinen von Tag zu Tag mehr in Menschenkind ihre verstorbene Schwester, Tochter zu erkennen. Paul D fühlt sich ausgeschlossen, wird von Menschenkind verführt, erfährt von Sethes Kindsmord und verlässt Sethe. Diese steigert sich in das Schuldgefühl gegenüber ihrem getöteten Kind hinein, und Menschenkind beginnt ihr Vorwürfe zu machen, befeuert dieses Schuldgefühl und lässt sich bedienen. Ein Teufelskreis der Schuld zieht das Haus 124 in den Abgrund.

Je mächtiger Menschenkind wurde, desto kleiner wurde Sethe; je leuchtender Menschenkinds Augen, desto mehr wurden die Augen, die nie fortgeschaut hatten, durch die Schlaflosigkeit zu Schlitzen. Sethe kämmte sich nicht mehr das Haar und wusch sich nicht mehr das Gesicht. Sie aß auf dem Stuhl und leckte sich die Lippen wie ein gemaßregeltes Kind, während Menschenkind ihr Leben auffraß, es in sich aufnahm, davon aufschwoll und wuchs. Und die Ältere überließ es ihr ohne einen Muckser.

Denver, die Tochter, bleibt außen vor und muss irgendwann die Reißleine ziehen, als sie zu verhungern beginnen, denn Sethe geht nicht mehr zur Arbeit und die Nahrungsmittel gehen zur Neige. Am Ende bekommt sie Hilfe von der Ortschaft, Menschenkind verschwindet und Paul D und Sethe nähern sich wieder an.

Detaillierte Inhaltsgabe

Teil I:

  • 1873 Sethe (S) und ihre Tochter Denver (D) leben in 124 Bluestone Road, isoliert in einem Haus, nur auf sich bezogen. S arbeitet als Köchin. D verlässt nicht mehr das Haus, in welchem ein böser Geist spukt. Paul D (P), ein Freund von S verschollenem Ehemann und Vater von D Halle, mit dem sie gemeinsam auf einem Hof namens Sweet Home Sklavenarbeit verrichten mussten, taucht auf.
  • Ps Ankunft wird zum Anlass von Ds Verzweiflung. Er vertreibt das Gespenst, den Spuk, aber D wird klar, dass sie so isoliert nicht weiterleben will. S und P beginnen eine Liebesaffäre, die D zuerst ausschließt, mit Panik erfüllt. P führt S und D zum Jahrmarkt aus, D zum ersten Mal seit Jahren außerhalb des Hauses, des Grundstücks. Ein kurzer Moment der Erleichterung.
  • Als sie zurückkommen, sitzt eine fremde junge Frau auf den Stufen. Sie stellt sich als Menschenkind (M) vor (Beloved im Original, Geliebte, das, was auf dem Grabstein der toten Tochter von Sethe steht).
  • S und D beschließen M Obdach zu gewähren. D sieht sie als Verbündete gegen P, lügt für sie. M hat aber im Grunde nur Augen für S und sucht ihre Nähe. Es herrscht Eifersucht im Haus 124.
  • S, D und M besuchen den Predigerstein von Baby Suggs (BS), Großmutter von Denver, Mutter von Halle, wo sie vor 18 Jahren kathartische Reden gehalten hat, Weinen Tanzen, Lachen heraufbeschwor. Dort lässt sich S von M massieren, M würgt sie, dann streichelt sie sie und küsst sie innig. D glaubt ihren Augen nicht. S entzieht sich M, denkt an P.
  • M verführt P. Sie haben Sex miteinander im Kühlhaus. P fühlt sich ausgeliefert, entzieht sich mehr und mehr, schafft es nicht, S gegenüber ehrlich zu sein, die Affäre mit M zuzugeben. Er holt sie von der Arbeit ab, um zu gestehen, statt zu gestehen, schlägt er vor, ein Kind zu bekommen.
  • Stamp Paid (SP), ein Arbeitskollege, zeigt P einen Zeitungsausschnitt, in welchem S als Kindsmörderin beschrieben wird. P verlässt das Haus 124, ohne sich zu verabschieden, auch dafür ist er zu feige.

Teil II:

  • SP sorgt sich um P, der nach dem Auszug aus dem Haus 124 im Keller der Kirche lebt, trinkt und den Lebensmut verloren hat.
  • S meint nun vollends in M ihre aus dem Jenseits wiedergekehrte Tochter zu sehen, die sie im Alter von zwei Jahren getötet hat, um sie vor den Sklavenjägern zu behüten. S fühlt sich schuldig. Monologe von D und M.
  • SP und P sprechen vor der Kirche miteinander. SP verspricht P zu helfen, schlägt Nachbarn vor, die ihn aufnehmen können. P will zu Judy.
  • M könnte eine Frau sein, die von einem Mann in Deer Creek von klein auf eingesperrt und missbraucht wurde.

Teil III

  • S und M völlig aufeinander bezogen, schließen D aus. S verliert ihren Job als Köchin. S und M gehen in Schuldzuweisung und Schuldbekenntnis auf. Schlagen sich, versöhnen sich. Sie hungern. Ihnen ist alles egal.
  • D entschließt sich auf eigene Faust um Hilfe und Nahrung, um Arbeit zu bitten. Geht zu Mrs Jones. Nachbarinnen helfen ihr.
  • D findet eine Anstellung als Nachtschwester bei der Familie Bodwin, denen auch das Land gehört, auf dem das Haus 124 steht.
  • Mr Bodwin holt D ab. Zu diesem Zeitpunkt versammeln sich die Nachbarinnen vor dem Haus 124, um den bösen Geist zu vertreiben, S zu helfen. S verwechselt Bodwin mit einem der Sklavenjäger und versucht ihn zu erschlagen. Die Nachbarinnen halten sie auf. M verschwindet.
  • P trifft D auf der Straße, fragt nach ihrem Wohlbefinden, fragt nach S. D geht es gut. Sie arbeitet und hat Chancen aufs College zu kommen. P beschließt S zu besuchen.
  • P geht zu S und hält zu ihr, hält ihre Hand.

Stil/Sprache/Form:

Stil, Komposition von Menschenkind erinnern stark an William Faulkners Südstaatenromane wie Absalom, Absalom, Schall und Rauch oder Als ich im Sterben lag. Dieselben Situationen werden stets immer wieder von anderen Figuren, aus anderen Blickwinkeln beschrieben. Sethe, Paul D, Denver, auch Menschenkind und viele andere kommen zu Wort. Sie nehmen teil an diesem Gesamtkontext. Jede Sicht auf die Dinge zählt. Der Erzählfaden gibt nach und nach Anlass, die Erinnerung, die Vergangenheit zu thematisieren, aber stets bruchstückhaft, so dass das Leseverständnis selbst aktiv werden muss, um Bezüge herzustellen. Es gibt kein passives Genießen. Es ist ein aktives Sinnstiften, ein erinnerndes Nachvollziehen vonnöten, um die Welt rundum Sethe und Denver zu verstehen:

Die Muttermilch hatten sie [Sethe] schon weggenommen. Den Rücken zu einem Gewächs gespalten – auch das. Sie mit ihrem dicken Bauch in den Wald getrieben – so weit waren sie gegangen. Was immer man von ihnen hörte, war übel. Sie schmierten Halle das Gesicht mit Butter ein; gaben Paul D Eisen zu fressen; brieten Sixo; erhängten ihre Mutter. Sethe wollte nichts mehr von den Weißenleuten hören; wollte nicht wissen, was Ella, John und Stamp Paid über eine Welt wussten, die so zurechtgemacht war, wie die Weißenleute es liebten. Alle Berichte über sie hätten mit den Vögeln in ihrem Haar aufhören müssen.

Morrison arbeitet mit Naturmetaphern und Symbolen, die sich selbst zu einer narrativen Realität zusammenschließen. Sie vergleicht nicht nur. Sie verweist innertextlich auf die Möglichkeit einer Sichtbarkeit von inneren und äußeren Verletzungen. Die Narben auf dem Rücken werden zu einem Kirschbaum, und die Vergewaltigung nimmt ihr die Milch. Paul D sperrt seine Erinnerungen in eine Tabakdose ein, die er in Gegenwart Sethes öffnet, als wäre es eine Dose, die zwischen ihnen liegt und schmerzhafte Fotos und Dokumente enthält.

Alles ist besser als die Stille, als [Denver] auf gestikulierende Hände reagierte und Lippenbewegungen gegenüber gleichgültig blieb. Als sie noch das winzigste Ding sah und die Farben schwelend in ihr Blickfeld sprangen. Sie verzichtet gern auf den dramatischsten aller Sonnenuntergänge, Sterne groß wie Teller und das ganze Blut des Herbstes und gibt sich mit dem blassesten Gelb zufrieden, wenn es nur von ihrem Menschenkind kommt.

Toni Morrisons Menschenkind lässt sich als ein Erzählzopf verstehen, in den die Erzähler ähnlich wie bei einem Quilt alle gemeinsam dazu beitragen, ihn zu verdichten, zu vergrößern, zu verbreitern, zu festigen. Mit jedem neuen Absatz gewinnt die Erzählung an Leuchtkraft. Rückwärts- und vorwärtsblickend, erfüllt Wiederklang die Erinnerung- und Vorstellungsräume mit Sinn und Hoffnung, Trauer und Schmerz. Niemand bleibt alleine. Alle singen gemeinsam. Sie leiden, weinen und deshalb endet das Buch unter anderem auch in einem Trauerchor der Nachbarsfrauen, die betend Menschenkind, die Schuld vertreiben, die Sethe auf sich geladen hat und von alleine nicht mehr los wird.

Für Sethe war es, als sei die Lichtung samt der Hitze und den dampfenden Blättern zu ihr gekommen, wo die Stimmen der Frauen nach der richtigen Harmonie suchten, nach der Tonart, der Melodie, dem Klang, der den Worten das Kreuz brach. Stimme über Stimme erhebend, bis sie ihn gefunden hatten, und wenn sie ihn hatten, war es eine Klangwelle, die weit genug reichte, um tiefes Wasser zum Klingen zu bringen und die Kastanien von den Bäumen zu schütteln. Sie brach über Sethe herein, und die erzitterte in ihrem Sog wie die Geläuterten.

Stilistisch bietet Morrison alles auf, was die Moderne an Möglichkeiten gefunden hat, um Erzähltes, Vergangenes lebendig werden zu lassen: Erzähltempuswechsel, Polyphonie, fragmentarisierte Sätze, Sprünge, symbolistische Fraktale. In Menschenkind fügt sie ihnen zudem einen neuen Klangbereich hinzu, eine naturverbundene Zeitlosigkeit in der Beschreibung von Seen, Flüssen, von Geburt, Sternen mit mythischer Intensität, die fast antik-tragödisch anmutet.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Wenige Texte vermögen, was Morrison in Menschenkind gelingt: das Leben der einzelnen in das Leben vieler einzubetten, die Geschichte als Produkt und Bedingung, als Schicksal und Resultat zugleich zu verstehen. In stetigen Überblendungen, Ausuferungen verknüpft sie das Innermonologische eines Claude Simon in Die Straße in Flandern oder Elfriede Jelinek in Die Kinder der Toten und das Dialogische-Kommunikative von Virginia Woolf in Die Wellen. Sie lässt die Hitze, den Ruß, das Land, den Schmerz fühlbar werden wie William Faulkner in seinen Südstaatenromanen und bleibt doch, durch die Stimmführung, eigenartig zeitlos, bestimmt, antikisch konkret und nimmt die Diktion eines Aischylos aus Die Schutzsuchenden auf:

Hör und schütze deine Kinder
Vor dem Übermut der Männer, der dir widerwärtig ist!
Stürz in des Meeres purpurne Fluten
Das schwarze Verdeck, das Verderben trägt!

Aischylos aus: “Die Schutzsuchenden”

Denn in Menschenkind verraten die Männer die Frauen: Halle rettet Sethe nicht vor der Vergewaltigung und lässt sie allein mit seiner Mutter zurück; Stamp Paid verlässt seine Ehefrau, die zum Sex gezwungen wird; Paul D verlässt Sethe, als er von ihrem Kindsmord hörte, der ihr als letzter Ausweg erschien, sich und ihre Kinder vor dem Elend der Sklaverei zu schützen; von den weißen Sklaventreibern gar nicht zu reden, und auch nicht davon, dass Paul D Sethe in ihrem eigenen Haus mit Menschenkind betrügt, es aber nicht zugeben kann. Toni Morrison lässt Sethe einen resignierten, akzeptierenden Blick auf die Männer werfen:

Sethe schaute [Paul D] unverwandt und ruhig an, schon jetzt bereit, einen Mann, der etwas brauchte oder in Schwierigkeiten war, zu akzeptieren, freizusprechen oder zu entschuldigen. Stimmte schon im Voraus zu, sagte, in Ordnung, schon gut, weil sie nicht glaubte, dass irgendein Mann – auf die Dauer – dem gewachsen war. Und was auch der Grund dafür wäre, es war in Ordnung. Keine Schuld. Niemandes Schuld.

Bei Aischylos heißt es nun:

Durch Zeiten ohne Ende waltend,
Zeus, sich erbarmend, stieg hernieder.
Gewalt ward durch wohltät’ge Stärke
Und des göttlichen Mundes Hauch
Gelöst. In Tränen strömte sie aus
Die schmerzliche Scham.
Und himmlische Schwere empfing ihr Leib-
Nicht lügt dies Wort-
Ein Kind ohne Tadel gebar sie,
Das selig lange Tage lebte.

Aischylos aus: “Die Schutzsuchenden”

Auch wenn der Kontext von Die Schutzsuchenden ein anderer ist, so gibt es in der Grundstimmung die Parallele, das die Frauen für sich selbst sorgen müssen. In Toni Morrisons Menschenkind tun sie es. Sie singen für die Nachbarin. Sie helfen der Tochter. Sie befreien das Haus 124 von dem Fluch und schützen den gutmütigen Gutsherrn vor Sethes fehlgeleiteter Rache. Nur Menschenkind, die allzu reale von Paul D schwangere Frau, die ihr Leben von klein auf im Keller eines Mannes als Sexsklavin leben musste, die weder Eltern noch Geschwister noch Anlaufpunkte in dieser Welt besitzt, muss spurlos von der Bildfläche verschwinden. Für ihr Leid gibt es keine Worte, und die sucht die Erzählerin auch nicht zu finden, denn sie schreibt:

Es war keine Geschichte zum Weitererzählen.

Das Monströse, das Menschenkind erfahren hat, lässt keine Versöhnung zu, nur ein Verschwinden, und diesem Verschwinden einen Raum gegeben zu haben, ist sicherlich das Verdienst von Toni Morrisons Roman Menschenkind, das vor dem Grauen, das Menschen Menschen antun, kein Blatt vor dem Mund nimmt.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Außerplanmäßig werde ich ab und zu Besprechungen zu Klassikern posten. In diesem Zuge soll nach und nach mein Ein Kanon an Leben und Inhalt gewinnen.

Andere aktuelle und Klassiker-Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier.

21 Antworten auf „Toni Morrison: „Menschenkind““

  1. Schöne, poetische Worte hast Du da gefunden, Alexander, um die Kraft des Textes zu beschreiben: das Bild des Quilts oder der gemeinsam singende Chor… sehr ansprechend und einprägsam.
    Und es erinnert mich daran, dass die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison schon lange auch auf meiner geistigen Leseliste steht… ich sollte das Projekt endlich angehen. Ich hatte allerdings vielleicht „Jazz“ in der näheren Auswahl. Dankeschön für diese Besprechung und einen guten Start ins Wochenende! Herzliche Grüße, Barbara

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Liebe Barbara, ich wünsche dir auch einen schönen Start ins Wochenende, mit Brückentag wird es bei mir sogar ein sehr langes!! “Jazz” möchte und werde ich auch lesen. Ich freue mich schon auf deine Besprechung, so es dann soweit sein sollte. “Menschenkind” ist ein sehr harter Roman. Er hat mich tief berührt und verändert zurückgelassen und er hat mir wieder ins Gedächtnis gerufen, wie wirkungsmächtig Sprache, Romane sein können, die sich tatsächlich ihrem Gegenstand mit Haut und Haaren ausliefern, um Unrecht, aber auch Mut, um Schmerzen, aber auch Hoffnung nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Viele Grüße!

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ja, es ist ein hartes Buch, auch mein erstes von Morrison, bestimmt nicht mein Letztes. Im übrigen, du auf deiner literarischen Weltreise, du liest ständig Bücher, von denen ich noch nie in meinem Leben auch nur annähernd etwas gehört hätte 😬 aber so ergänzt sich das ja schön. Ich suche mal auf deinem Blog danach, was du über Toni Morrison zu berichten wusstest! Viele Grüße!!

  2. Oh, das habe ich mal vor Jahren gelesen und danach habe ich kein Buch mehr von der Autorin gelesen, weil ich es so heftig fand.”JAzz und Paradies” habe ich seit Jahren auf meinem SuB liegen und schiebe sie immer wieder vor mir her. Wobei ich – Toni Morrison – absolut schätze und das Buch “Menschenkind” von der Aussage her auch absolut stark fand!

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ich finde das Buch äußerst intensiv, aber nie problematisch, da es nicht voyeuristisch geschrieben ist. Es hat mich wegen der Sklaverei-Thematik noch sensibler werden lassen, und ich kann nicht sagen, auf wie viele Weisen das Buch noch in mir weiter arbeitet. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum es sich nicht anbietet, direkt noch einen weiteren Roman von ihr zu lesen. “Jazz” will ich aber auch irgendwann lesen. Bin dann gespannt, was du sagst! Viele Grüße!

  3. Das liegt hier schon länger, ich bin gespannt, aber aktuell irgendwie nicht bereit dafür. Mal schauen, wann es so weit ist. Deine Rezension macht, obwohl deutlich wird, dass es ein hartes Buch ist, Lust, es zu lesen, gerade wegen des Stils bin ich nun nämlich noch neugieriger.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Meines Erachtens gehört zu den besten Büchern, die ich je gelesen habe. Es ist stets so gut geschrieben, so gut komponiert, so sanft auf den Punkt hin angedeutet, dass es nicht überwältigt, oder verstört. Aber es hinterlässt sehr viel. Es ist sehr beschwerlich, sich mit diesem Aspekt der Menschheitsgeschichte zu beschäftigen. Da nimmt das Buch kein Blatt vor den Mund, aber es gibt auch sehr positive Stelle – falls du es doch liest, wirst du merken, was ich meine. Es ist ein sehr starkes Buch über sehr starke Frauen, die sich nichts vorschreiben lassen und nicht aufgeben. Bewundernswert.

  4. Wie immer Dank an den Rezensenten! “Beloved” ist eines meiner Lieblingsbücher, nichts wie ran an die Lektüre, Barbara! So imaginativ und vielschichtig! Verhext! Bitte auf den Ohio-Fluss und die Brücke beim Dorf achten….

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ich lese mich an!

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ob ich zwischen Morrison und Faulkner noch einen literarischen Wertunterschied sehe, nicht wirklich – sie spielen in dieser Sphäre der Mitteilung, wo jedes Wort lebt und singt, brummt und tönt. Ich lese beide gerne. Von Faulkner habe ich mehr gelesen, Morrison muss ich noch entdecken. Ein genauerer Vergleich der beiden würde sich sehr lohnen. Ich hole das vielleicht mal nach, anlässlich einer erneuten Lektüre der Faulkner-Bücher, die sich ja immer zu lesen lohnen. Viele Grüße!

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      “Schande” lebt von dem Unverständnis, der Ignoranz des Vaters. Es ist auch ein krasses Buch, aber von der Stimmung her viel dystopischer, viel abgeklärter. “Menschenkind”, meine ich, schaut über das Grauen hinaus in etwas kaum aussprechbar Hoffnungsvolles. “Schande” eher nicht, doch hat mich das Buch ebenfalls tief bewegt. Das stimmt!

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Es gehört definitiv zum Besten, was ich je gelesen habe. Es bedarf aber auch des richtigen Momentes hierfür. Es ist verwickelt und lebt von den vielen Zwischentönen, die am Ende alle zusammen finden. Bin gespannt, wie es dir gefallen wird.

      1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
        Alexander Carmele sagt:

        Ich warte gerne – ich freue mich aber auch über Fotos, Assoziationen, Sprengsel des Imaginativen auf deinem Blog!

      2. Das freut mich sehr … es wird auch noch etwas dauern mit Frau Morrison, denn noch liegt mehr als die Hälfte von Heyms “König David Bericht” vor mir. Außerdem bin ich zur Zeit zeichnerisch stark beschäftigt (es ist Inktober-Zeit 😉).

      3. Hallo, Alexander, jetzt habe ich diese Lawine von Roman gelesen und fühle mich überwältigt von seiner Kraft. Stets hin und her gerissen zwischen dem Entsetzen über die Grausamkeiten des Lebens in Sklaverei und dem Entzücken über die Sprachkunst Toni Morrisons, die Mythos mischt mit Poesie und trotzdem vor Deutlichkeit nicht zurückschreckt, wenn es gilt, menschliche Gemeinheit zu zeigen.
        Ich bin dir so dankbar für diesen Lesehinweis, ohne das Buch wäre mein Leben ärmer.

      4. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
        Alexander Carmele sagt:

        Ich bin froh, dass du es so empfindest. Mich hat das Buch auch tief berührt. Es ist meine Welt erweitert, um Schlimmes wie um Gutes, aber in der Summe sehe ich mich optimistischer und gestärkter. Die Stimme von Morrison klingt nach! Viele Grüße!

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