Marc-Uwe Kling: „Views“

Views von Marc-Uwe Kling. Spiegel Belletristik-Bestseller (2024).

Das literarische Genre Aktivistisches Agit-Prop erfreut sich großer Beliebtheit. Es erlaubt, meist unter einem nur spärlich ausgearbeiteten Plot, Zeitgeist, Diskursen, einen Flickenteppich an Assoziationen unterzubringen. Friedrich Dürrenmatts Die Physiker stellt das Paradebeispiel dar. Es spezifiziert außerdem das Thema von Johann Wolfgang Goethes Gedicht Der Zauberlehrling von einem magischen hin zu einem technologischen Aspekt, vermengt dieses mit einem kriminologischen Plot. Selbiges, und hier in einer Reihe mit Constantin Schreibers Die Kandidatin, unternimmt Marc-Uwe Kling in seinem neuesten Roman Views:

»[Das Video] ist wirklich grausam. Ich weiß nicht, ob du …«
»Stefan«, sagt Yasira ruhig, »ich bin Hauptkommissarin beim BKA, Abteilung für schwere und Organisierte Kriminalität!« So, jetzt war es raus. »Ich hab Sachen gesehen, die dir wochenlang den Schlaf rauben würden. Ein Video kann mich nicht schocken. Gib mir das Handy!«
[…] Schon nach den ersten Sekunden weiß Yasira, dass dieses Video alles verändern wird. Es ist der Tropfen, der Funke, der Zünder. Stefan hat recht. Es ist Sprengstoff.

Marc-Uwe Kling aus: „Views“

Inhalt/Plot:

Yasira Saad, geschieden, hat eine Tochter und eine erfolgreiche Karriere als Hauptkommissarin beim Bundeskriminalamt. Um ihr Privatleben wieder auf Vordermann zu bringen, trifft sie sich mit Stefan, einem Online-Journalisten, den sie auf der Internet-Dating-Plattform Tinder kennengelernt hat. Doch das romantische Stelldichein hat ein schnelles Ende, als ein Video über sämtliche Smartphone-Bildschirme flimmert, das die Vergewaltigung der seit Tagen vermissten Lena Palmer zeigt:

Die drei Männer sind schwarz, wahrscheinlich Mitte zwanzig, und das Mädchen ist weiß, schlank, brünett. Unter achtzehn, schätzt Yasira. Nur wenig älter als ihre eigene Tochter. Vielleicht genauso alt. Es liegt auf dem Tisch einer dieser Rastplätze, die es an manchen Wanderstrecken gibt. Die mit den an die Garnitur montierten Sitzbänken. Das geblümte Kleid des Mädchens ist zerrissen. Ihr ganzer Körper zuckt bei jedem Stoß. Sie schluchzt nur noch. Es ist herzzerreißend. Lena heißt sie.

Yasira wird in den Fall als zuständige Ermittlerin hineingezogen. Zusammen mit ihrem Buddy Michael Becker, der für sein Leben gern Leberwurststullen isst, muss sie alles daran setzen, Lena so schnell wie möglich zu finden. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt: Kann Yasira Lena retten? Der Fall erscheint aber schwierig, zumal die Sonderkommission wenig Hinweise auf die Täter und den Tatort dem Video entnehmen können. Die Task-Force dreht sich im Kreis. Auch Lenas Vater, Frank Palmer, der an der Hochschule Harz Öffentliches Recht im Fachbereich Verwaltungswissenschaften lehrt, und ihr jüngerer Bruder Emil, bei dem Autismus diagnostiziert worden ist, können dem Ermittlerteam nicht weiterhelfen:

»Haben Sie einen der Männer auf dem Video schon mal gesehen?«, setzt Yasira die Befragung fort.
Palmer schüttelt den Kopf. »Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Tochter einen von denen gekannt haben könnte?«, fragt Michael. »Nein«, sagt Lenas Vater. Dann aber schluchzt er. »Doch ich muss gestehen, dass ich es nicht mit Sicherheit sagen kann. Wir hatten uns irgendwie [nach dem ihre Mutter gestorben ist] entfremdet im letzten Jahr.« Yasira reicht ihm ein Taschentuch.

Yasira sorgt sich nicht nur um Lena. Sie sieht auch die öffentliche Ordnung in Gefahr. Das Video gibt Anlass zur Fremdenfeindlichkeit. Es kommt zu Ausschreitungen, und ein selbsternannter Aktiver Heimatschutz formt sich, um die Täter in Selbstjustiz zur Strecke zu bringen, und beginnt eine Jagd auf mögliche Verdächtige. Die Situation lässt sich kaum noch kontrollieren.

Die Bevölkerung wird gebeten, ruhig zu bleiben und die Strafverfolgungsbehörden ihre Arbeit machen zu lassen. Genauso gut hätte man einen Topf voll Milch, der auf einer Herdplatte auf Stufe 12 steht, bitten können, nicht überzukochen, denkt Yasira.

Mit gewohnten Ermittlungsmethoden bringen Yasira und Michael nach und nach Licht ins Dunkle. Neben einem Freund von Lena, der Drogen dealt, und selbsternannte Heimatschützer, die auf Verdacht hin morden, müssen sie Fakten von Fantasien, Wahrheit von Lügen, Belegbares von Wahnvorstellungen scheiden, um einen heraufziehenden Bürgerkrieg zu vermeiden und Lenas Leben zu retten.

Spoiler

Das Video erweist sich als Fake. Lena hat den Tod ihrer Mutter nicht überwunden, Heil und Flucht in die Welt der Drogen genommen, und ist durch eine Überdosis Fentanyl gestorben. Das Video erweist sich als das autonome Produkt einer Künstlichen Intelligenz namens Scarlett, die ein IT-Experte namens Claus Messerschmidt ins Leben gerufen hat, um Videos mit maximaler Click-Anzahl zu generieren. Das Vergewaltigungsvideo und das des Aktiven Heimatschutzes sind ihr Produkt, nachdem Messerschmidt in seinem abgelegenen Haus verunglückt ist und sie nun alleine über ihre Posts entscheidet.

Stil/Sprache/Form:

Views besitzt die Form eines Drehbuches und scheint als Hörbuch konzipiert worden zu sein. Direkte Rede, Hilfsverben, unvollständige Sätze, Schlagworte prägen die Textgestalt. Schnelle, kurze, zackige Sätze führen ohne viel Beschreibungen in die szenische Gestaltung der Handlung hinein. In Echtzeit spielen sich die Ereignisse vor dem inneren Auge ab, nämlich im erzählerischen Präsens, in kurzen, überleitenden Gesten, die wie Schnitte eines Filmes den Text in seinem Erzähltempo steigern:

»Wir könnten Stöckchen ziehen.« Eine vierte Stimme. Der Mann in ihrer Nähe hat gesprochen. Aber nicht in ihre Richtung. Er hat sich seinen Kameraden zugewandt und lacht. »Obwohl ich sie lieber so ficken würde, wie sie ist. Ich find das eigentlich ganz geil. Wie Dornröschen.« Während der letzten Worte ist die Stimme immer näher gekommen. Eine Zunge leckt über ihre Wange. Jetzt oder nie. Yasira öffnet die Augen. Gleichzeitig fährt ihre Hand unter den Mantel und zieht den Stein hervor, den sie ihrem Bewacher in einer flüssigen Bewegung mit dem spitzen Ende voran ins erstaunte Gesicht schlägt. Der Mann blutet und brüllt. Yasira zieht sich an dem immer noch gebückten Kerl nach oben und rammt ihm dabei ihr Knie gegen das Kinn.

Der Plot von Views erscheint als Liveticker und besitzt nur noch rudimentäre erzählerische Linien von Dehnung und Raffung. Hauptsächlich dient Yasira als Reflektor. Durch ihre Augen hindurch werden die Ereignisse berichtet, aber nicht konsequent.

Aber dann kommt Yasira nach Hause und findet ihre Tochter im Wohnzimmer, wo sie auf der Couch sitzt und Friends schaut. Ohne etwas zu sagen, schlüpft Yasira neben sie unter die Decke. Zara reicht ihrer Mutter ihre noch halb volle Tasse mit Pfefferminztee. Yasira trinkt den Tee dankbar aus. Sie überlegt, ob sie Zara von der Attacke in der S-Bahn erzählen soll, entscheidet sich dann aber dagegen. Sie will ihr keine Angst machen. Stattdessen lehnt sie den Kopf gegen die Schulter ihrer Tochter und schläft in der Mitte der zweiten Folge ein. Sie hat unruhige Träume. Selbst im Schlaf bleibt sie nicht von neuen Videos verschont, die die Situation immer weiter eskalieren lassen.

Der sich hinter Yasira verbergende auktoriale Erzähler tritt nicht allwissend auf. Er legt vielmehr Yasira viele Beobachtungen und Recherchen und Meinungen in den Mund, die mitunter in der Szene überraschend wirken, als könnte Yasira sich in einem Tumult aus Angst, Gewalt und Aggression noch mit gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen und sich strukturell-bildenden Problemen beschäftigen. In solchen Momenten wird klar, dass ein auktorialer Erzähler die Fäden im Hintergrund zieht und Yasiras Erlebnisse verwendet, um auf bestimmte Probleme hinzuweisen:

Die Wasserwerfer schießen in die Menge. Auf dem Platz der Republik bricht Panik aus. Eine weitere Hundertschaft kommt durch die Paul-Löbe-Allee angerückt. Die Demonstranten werden in Richtung des Tiergartens getrieben. Sanitäter rennen zu den von der Granate verletzten Polizisten. Der Held des Tages rührt sich gar nicht mehr. Yasira ist fassungslos. Wie konnte alles in so kurzer Zeit eskalieren? Aber die Antwort ist ganz einfach. Es ist nicht in kurzer Zeit eskaliert. Im Gegenteil: Seit Jahrzehnten beobachten alle, wie die Gesellschaft immer mehr Risse bekommt, und keiner kittet sie. Da darf man sich nicht wundern, wenn sie schließlich zerbricht.

Das denkt, kaum dem Tode entronnen, von einer Handgranate beinahe zersplittert, wohl keine Figur. Die Problematik liegt in der gewählten Erzählweise in Klings Views selbst: Yasira von außen (in dritter Person), aber in Präsens beschrieben, heißt, dass jemand, der ihre Gedanken lesen kann, sie verfolgt und ihre Erlebnisse protokolliert. Hieraus ergibt sich eine unangenehme, fast obszöne voyeuristische Erzählweise, die als Liveticker formal den Inhalt des Gewaltverbrechens unbewusst thematisiert, ein transplantierter, dirigierender Bewusstseinsstrom-Chip, der Yasiras Leben als Livestream zur Verfügung stellt und auch noch, mit selbstherrlicher Geste, kommentiert:

[Der betrunkene Typ] schreit überrascht auf, als sie seine Finger nach hinten biegt. Yasira tritt ihm in die Kniekehle, zwingt ihn auf die Knie und kehrt damit den Größenvorteil um.
»Hör zu, Arschloch«, flüstert sie in sein Ohr. »Ich bin eine Beamtin des Bundeskriminalamts, Arschloch. Das ist die Polizei, verstehst du das, Arschloch? Es bedeutet, ich kann dich so oft Arschloch nennen, wie ich will, Arschloch. Aber wenn du, Arschloch, mich Schlampe oder Nutte nennst, dann ist das Beamtenbeleidigung. Also wie hast du mich gerade genannt, Arschloch?« […]
Die anderen Fahrgäste glotzen nur. Ein junger Mann klatscht Beifall. Danke für nichts. Wenn er interveniert hätte, wäre Yasira mehr geholfen gewesen.

Die Ich-Erzählweise wäre konsequenter und plausibler gewesen, hätten aber den allgemeinen Gestus der Zeitgeistkritik, und die notwendigen, raffenden Schnitte im Erzählhergang erschwert.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Didaktische fiktionale Texte tragen schwer an ihrer Konzeption, allen voran Friedrich Dürrenmatts Die Physiker, dem Marc-Uwe Kling nachzueifern scheint. Das komplexe Problem der Wissenschaft und gesellschaftsprägenden Technologie wird kondensiert auf ein Genie, dort Möbius, hier Messerschmidt. In beiden Texten lautet die Fabel aus Goethes Der Zauberlehrling:

Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
Werd’ ich nun nicht los.
Johann Wolfgang von Goethe aus: „Der Zauberlehrling

In Die Physiker bezieht Dürrenmatt dies auf die Weltformel, das System aller möglichen Erfindungen, das einmal bewerkstelligt, unabsehbare Gefahren in sich birgt und die von der Irrenärztin Mathilde von Zahnd entfesselt werden:

Ich aber übernehme seine Macht. Ich fürchte mich nicht. […] Mein Trust wird herrschen, die Länder, die Kontinente erobern, das Sonnensystem ausbeuten, nach dem Andromedanebel fahren. Die Rechnung ist aufgegangen. Nicht zugunsten der Welt, aber zugunsten einer alten, buckligen Jungfrau.
Friedrich Dürrenmatt aus: „Die Physiker“

Von Dürrenmatts problematischer Rollenkonzeption abgesehen, seine eher klischierten Frauen- und Wissenschaftsvorstellungen, verdunkelt er in seinem Drama den beschriebenen Mord und Totschlag durch eine wildgewordene Theorie, die sich hinter dem Rücken der Individuen zum alles beherrschenden und unterwerfenden Moloch entwickelt. In Views verortet Marc-Uwe Kling die Gefahr nicht in der Weltformel, aber in der Künstlichen Intelligenz. Algorithmisiert, perfektioniert reißt sie den Unterschied zwischen Fakten und Fiktionen ein:

»Haben Sie in all Ihren Businessplänen, Machbarkeitsstudien und Strategiemeetings auch nur einmal darüber nachgedacht, was Sie da eigentlich entfesseln?«, fragt Yasira. »Haben Sie sich auch nur einmal nicht nur gefragt: ›Wie?‹, sondern auch ›Sollten wir überhaupt?‹? Haben Sie eine Vorstellung davon, was das mit der Welt macht, wenn man Bildern nicht mehr glauben kann?«
»Konnte man Bildern jemals glauben?«, entgegnet Mandy.
»Wenn wir diese Tools nicht entwickeln, dann tut es jemand anders«, sagt Ryan.

Diese informationstheoretisch brennenden Fragen behandelt Klings Views wie Dürrenmatt in Die Physiker die der Grundlagenforschung eher simplizistisch, werden aber eben durch die je gewählte Form hindurch, Dürrenmatt dialogisch-barbarisch, Kling voyeuristisch-aggressiv, als Chiffre zugänglich. Sie kolportieren eine Gesamtangst der Technologie gegenüber, die im Grunde ein Misstrauen gegen die Mitmenschen impliziert. Das Misstrauen erhält sich. Die Entfremdung schreitet voran. In Views reduziert sich die Reflexion auf Momenthaftes. Das synthetische, attribuierende Erzählen findet schlicht nicht mehr statt.

O, du Ausgeburt der Hölle!
Soll das ganze Haus ersaufen?
Seh’ ich über jede Schwelle
Doch schon Wasserströme laufen.
Johann Wolfgang von Goethe aus: „Der Zauberlehrling

MÖBIUS Längst schon Mumien in unseren Schiffen
Verkrustet von Unrat:
In den Fratzen kein Erinnern mehr
An die atmende Erde.
Friedrich Dürrenmatt aus: „Die Physiker“

Yasira lauscht nach Geräuschen ihrer Feinde, doch sie hört nichts mehr. Nichts. Gar nichts. Nein. Das stimmt nicht. Ganz weit in der Ferne vernimmt Yasira Sirenen und bellende Hunde. Dann verschwimmt die Welt vor ihren Augen. Es ist nicht alles Fake, ist ihr letzter Gedanke, bevor sie wieder das Bewusstsein verliert. Echt ist die Empörung. Echt ist die Wut. Echt ist der Hass.
Marc-Uwe Kling aus: „Views“

Das erlösende Wort existiert nicht. Es hält der Wut, der Empörung, dem Fluten, den Fratzen und dem Unrat nicht mehr stand. Die geheime Frage, die Views stellt, beantwortet es nicht: Was ist überhaupt interessant an Gewalt? Hoffentlich gar nichts.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.

Nächste Woche am 30.07.2024 auf Kommunikatives Lesen:
vielleicht das neue Buch von Caroline Wahl Windstärke 17.

Andere aktuelle Kurzrezensionen befinden sich hier

4 Antworten auf „Marc-Uwe Kling: „Views““

  1. Das Buch hatte einen gewaltigen Vorschuss-Hype – und auch jetzt lese ich vor allem Gutes darüber. Kommt, wie du einleitend sagst, echt gut an. Mich reizt es so gar nicht (mehr).

    Bin auf deine lange Meinung zu „Windstärke 17“ gespannt.

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Bin bei „Windstärke 17“ noch am Reflektieren und Wirken-Lassen, ich lasse mir mittlerweile gerne Zeit, um die Gedanken sich setzen zu lassen. Bin selbst ein wenig gespannt, aber darum geht es doch auch! Sich bei einer Besprechung selbst überraschen. Kling fand ich von der Erzählperspektive sehr interessant und auch „creepy“. Ich denke nicht, dass du was verpasst. Vor allem nicht, wenn du meinen Spoiler angeschaut hast 😀 Viele Grüße!

  2. Ich bin mit Marc Uwe Klings Sprache nie warm geworden. Deine Rezension ist so spannend, dass wüsste ich nicht- das Kling für mich nicht lesbar ist, ich mir das Buch gekauft hätte ich weiss, dass es dir darum nicht geht, finde es aber wirklich ungewöhnlich, dass ich meistens deine Rezensionen lieber lese als die Bücher. Bin über diesen Post auf dass von dir entworfene Katalogisieren gestossen. So gut. So hilfreich.

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