Die Selbstkritik am Kunstbetrieb taucht in der klassischen wie der modernen Literatur immer wieder auf. Ein klassisches Werk dieser Art wäre Das Werk von Émile Zola, moderne Vertreter dagegen Alte Meister oder Der Untergeher von Thomas Bernhard, und Magdalena Saiger hat mit ihrem Debüt Was ihr nicht seht aus dem Jahr 2023 einen ähnlichen thematischen Zug, wo ein namenloser Protagonist der Kunstmarketingbranche entflieht und inmitten eines Autobahnkreuzes eine riesige, für sich stehende Installation baut und nach Fertigstellung gleich wieder, ohne dass je jemand dieses Kunstwerk zu Gesicht bekommt, zerstört. Nora Schramm, die 2025 für ihren Debütroman Hohle Räume den Mara-Cassens-Preis des Literaturhauses Hamburg zugesprochen bekommen hat, stellt die Bildende Künstlerin Helene Michels ins Zentrum des narrativen Geschehens, die ihre Eltern in Stuttgart/Findelheim besucht:
Die Mutter hat bereits die getönten Gläser meiner Brille bemerkt, sie fragt sich bereits, warum immer dieses riesige schwarze Ding mitten im Gesicht, sie sorgt sich bereits um die Gesundheit meiner Augen. Ich gehe weiter auf sie zu, als Versicherung, als Beweis für was mal war, und keiner ist sich so ganz sicher, was mal war, vor allem nicht, wie es eigentlich wirklich und ehrlicherweise mal war, aber ich, die ich blass geworden bin und zielstrebig meinen Koffer über den polierten Boden des Stuttgarter Flughafens ziehe, bin offensichtlich real, bin offensichtlich ein Produkt, und zwar von dem, was mal war, und das tut gut zu wissen.
Nora Schramm aus: „Hohle Räume“
Inhalt/Plot:
Helene, 35 Jahre alt, ledig, ohne Kinder, lebt als erfolgreiche und angesagte Künstlerin, die sogar im Feuilleton namhafter Wochen- und Tageszeitungen auftaucht. Eine ihrer Installationen, die u.a. auch in London ausgestellt wurde, besteht aus überdimensionalen menschlichen Organen, die als Kinderspielplatz dienen und kontrovers aufgenommen wurden. Als Raumkünstlerin erfolgreich, in Berlin lebend, kehrt sie zurück zu ihren Eltern in die Stuttgarter Provinz und sieht sich sofort wieder zurück in die Kinderrolle versetzt. Ihre Eltern lassen sich scheiden, und ihre Mutter sucht Trost bei ihr. Sie schläft sogar an ihrer Seite im elterlichen Ehebett, aus dem heraus sie am Morgen mit Schrecken erwacht:
Ich spüre das Bett feucht unter meiner Hüfte, rolle mich weg, aus dem Fleck heraus, und es riecht wieder nach Badreiniger, stärker, und da wird mir klar, dass ich ins Elternbett gepinkelt haben muss, auf die geruchsneutrale Vaterseite. Für einen Moment denke ich, dass ich liegen bleibe, bis es um mich herum getrocknet ist, die Decke so lange nicht anhebe, bis alles eingezogen ist, restlos versickert, meine Finger klammern sich an die Decke, panisch, dass die Mutter hereinkommt und sie mir wegzieht.
Der Inzident steht symbolisch für die regredierenden Prozesse, die einsetzen und sich in Helene bestärken. Sie schafft es zunehmend nicht mehr, sich um die Dinge des Alltags zu kümmern, und wird immer weltfremder und handlungsunfähiger. Sie lässt das Brot der Mutter im Backofen verbrennen, fährt, ohne den Sperrmüll einzuladen los, den Sperrmüll abzugeben. Sie vergisst die Telefonnummern ihrer Eltern und bleibt, als ihre Mutter von der Treppe stürzt, völlig passiv, während diese sich im Wohnzimmer mit einem Hüftbruch quält. Sie geht sogar währenddessen auf einen Freundschaftsabend, wohlwissend, dass ihre Mutter sich nicht bewegen, alleine nichts trinken, nichts essen kann. Erst durch die Ziehschwester, Molly, schafft es Helene aus dieser Katatonie:
Mir geht’s gut, sage ich. Schön, sagt Molly und lächelt, als sei sie mit dieser Antwort voll und ganz zufrieden. Sonst gar keiner da, fragt sie. Nein, sage ich. Doch. Mama ist krank. Oh nein, sagt Molly. Ich zeige auf die Tür zum Wohnzimmer und Molly flüstert, schläft? Ich sage, sie dämmert so vor sich hin. Was hat sie, fragt Molly und bleibt seitlich zur Wohnzimmertür stehen und reckt den Kopf durch den Türrahmen. Von der Treppe, sage ich, gefallen. Was, sagt Molly. Ich sage, ja. Molly sagt, aber was hat sie. Ich sage, tja, vielleicht Gehirnerschütterung, vielleicht gebrochene Hüfte, aber sie will nicht ins Krankenhaus, sie nimmt Vitamin D und macht Heilfasten. Molly sagt, seit wann. Ich sage, paar Tage. Molly sagt, bist du bescheuert. Ich sage, was.
Helenes Mutter, Irene, hat Molly vor vielen Jahren bei der Hausarbeitshilfe kennengelernt und damals unter ihre Fittiche genommen, insbesondere wegen ihres herausragenden musikalischen Talentes. Molly hat sogar mehrere Jahre im selben Zimmer wie Helene als Ziehschwester gelebt, bevor sie dann kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag und vor der Aufnahmeprüfung für die Musikschule spurlos und ohne jede Erklärung aus dem Leben der Familie verschwand. Dieser Schock sitzt in Helene noch tief, die Molly einerseits als beste Freundin, aber auch als Konkurrentin um die Gunst ihrer Mutter betrachtet hat:
Molly ging der Mutter voraus in die Küche und ließ sich einen Teller belegen und half danach beim Spülmaschineaus- und -einräumen, und die Mutter fragte eine Frage nach der anderen und ihr Hunger ebbte etwas ab, während Molly erzählte und die Mutter Irene nannte. Es gefiel der Mutter, an ihren Vornamen erinnert zu werden, wo man doch gar nicht mehr Frau ist, gar nicht mehr Mensch, sobald man geboren hat, und das sagte sie dann auch zu Molly, die es eh schon wusste […] Die Mutter nahm Molly in den Arm und strich ihr über den Kopf und zog Mollys Scheitel an ihren Mund, zum Riechen und Gerochenwerden. Wenn Molly dann zu mir ins Zimmer kam, schien sie mir die Spionin der Mutter zu sein […]
Durch den Unfall und die Rekonvaleszenz der Mutter kommen sich die drei Frauen wieder näher und verbringen letztendlich Heiligabend gemeinsam. Vom Stoff klar in Generationen (Familien) verortet, besitzt Hohle Räume dennoch kaum Plot, höchstens eben Verhängnisvolles Durcheinander, denn das Familienleben gerät lediglich aus den Fugen, ohne jedoch eine dramatische Qualität zu gewinnen. Zusätzlich wird die Thematik sozialer Aufstieg und die Weltfremdheit von Kunstschaffenden verarbeitet, die sich als unfähig erweisen, sich mit den Dingen der Erwachsenenwelt zu konfrontieren, also eine Art nachzüglerisches (textimmanent um zwanzig Jahre verspätetes) Coming-of-Age-Problem.
Stil/Sprache/Form:
Die Sprache reflektiert konsequent die regressive Haltung der Ich-Erzählerin zur Welt. Wie ein Kind zählt die Ich-Erzählerin auf, wiederholt beständig, was „Mutter“, was „Vater“ sagt, und stellt sich gerne ins Zentrum des Weltgeschehens, ohne aber auf sich genauer zu reflektieren. Sie bleibt in ihren Gedankenkreisen der im Titel angesprochene Hohlraum:
In der Küche der Eltern gibt es natürlich eine Uhr, die sehr laut tickt. Bei den Eltern zu sein heißt, dass die Zeit um mich herum im Kreis läuft und ich mich nicht bewege. Ich bin der Punkt, an dem die Zeiger festgemacht sind. Die Mutter ist der Sekundenzeiger, der Vater der Stundenzeiger. Ich merke, dass es schon wieder dunkel ist und ich die Butter und den Käse vom Frühstück noch nicht in den Kühlschrank geräumt habe, wo sie unbedingt hingehören.
Die Abstraktionshöhe bleibt gering. Die Deskription mikrodetailliert am Familienalltag entlang und gleicht in vielerlei Hinsicht Nele Pollatscheks Belletristik-Bestseller Kleine Dinge. Beide Figuren, dort Lars, hier Helene, kämpfen sich einsam in einem Haus durch den Alltag und zwar zur Weihnachtszeit. Beide befinden sich in einer selbstimmunisierenden Alles-Egal-Phase, ohne dass sie ihr Heil in Drogen oder Alkohol zu betäuben suchen. Der große Unterschied besteht darin, dass Lars im Gegensatz zu Helene der Trägheit und Faulheit, obgleich über weite Strecken vergebens, zumindest den Kampf ansagt:
Und wenn sich auch alles gegen mich verschworen hatte, meine Gedanken, mein Charakter, mein Übermut, meine Melancholie, meine Eitelkeit, meine Bedürftigkeit, meine Vergesslichkeit, meine schier unüberwindbare Faulheit, alle meine ehemaligen Ichs und jetzt auch noch mein gottverdammter Körper, den ich mir nicht ausgesucht habe, den ich mir wie alles andere nicht ausgesucht habe, für den ich nichts kann, an dem ich täglich leide, der mich auf immer neue Arten erniedrigt, an dem ich eines Tages verdammt nochmal sterben werde, Nein. Ich werde nicht aufgeben, ich werde mich vor mir nicht geschlagen geben.
Nele Pollatschek aus: „Kleine Dinge“
Ein anderer, maßgeblicher Unterschied zwischen den sehr verwandten Gegenwartsromanen Kleine Dinge und Hohle Räume lässt sich an der Erzählperspektive festmachen. Pollatschek wählt die klassische Ich-Erzählung aus der Retrospektive. Der Ich-Erzähler, unsituiert, aber reflektiert, berichtet im Präteritum, wie er seine Herausforderungen letztlich zu meistern gelernt hat. Schramm dagegen wählt die sehr drastische Ich-Erzählung in Präsens wie Marc-Uwe Klings Views oder Paul Lynch in Das Lied des Propheten, die strukturell schon das Problem besitzen, Zeitraffung und Zeitdehnung nicht plausibilisieren zu können, denn was passiert mit der Erzählinstanz zwischen den erzählten Passagen? Es wird ja in Echtzeit erzählt. Hohle Räume betrachtet die Erzählinstanz bewusst als Leerstelle und reflexionsloser Raum, sodass die Kamera-Verfolger-Perspektive passt:
Ich frage mich, was ich eigentlich von mir denke, und mir fällt nichts ein, als dass ich eine bin, der es egal ist, was die anderen denken, was aber noch nicht die Frage beantwortet, was ich eigentlich selbst von mir denke, und wenn ich etwas denken würde, ob mir das möglicherweise auch egal wäre. Ich schicke Kolja das Video und schreibe eine Nachricht, was denkst du eigtl von mir?? Neben seinem Namen erscheint kurz ein grüner Punkt, dann verschwindet er wieder.
Die Wortfolge „ich frage mich“ taucht in dem kurzen Text 31 mal in verschiedenen und wiederkehrenden Zusammenhängen auf, um zu illustrieren, dass die Helene als Figur planlos durchs Leben irrt. Die Erzählinstanz unterminiert sich also von selbst, entzieht sich der Erzählung, will nicht Stellung beziehen, nicht handeln und wirkt daher widersprüchlich zur Erzählperspektivenwahl als privilegierte Akteurin wider Willen.
Kommunikativ-literarisches Resümee:
Konsequent ausgelegt betreibt Schramm wie Saiger eine Kritik an der Weltfremdheit der sozial Besser-Gestellten oder in der Kunst-Tätigen, und dies lässt sich textlich an mehreren Stellen klar herausarbeiten. Irene, die Mutter, verließ ihren ersten Freund Hauke, einen Heizungsinstallateur, für den Arzt Thomas, nur um festzustellen, dass es Hauke und nicht der Arzt ist, der noch nach über vierzig Jahren anruft und sich um ihr Wohlergehen kümmert. Molly, aus prekären Familienverhältnissen, will sich mit ihrem Gesang nicht prostituieren und vor allem nicht ihre leibliche Mutter in Stich lassen, die alleine in der Wohnung zu verwahrlosen droht, und schmeißt deshalb ihre Musikkarriere und wählt einen Ausbildungsberuf als Bänkerin, um das nötige Geld zu verdienen. In der Erzählgegenwart bleibt Molly die einzige Handlungsfähige von den dreien und hilft und schweißt sie wieder als Familie zusammen:
Ich denke, dass ich ohne Molly nicht hier wäre. Ich hätte nur am Telefon gesagt, klar, komme ich, und das Datum verstreichen lassen. Ich hätte Weihnachten nicht bemerkt. Ich hätte weiterhin im Haus der Eltern auf den Anruf des Vaters gelauert, obwohl es ja Handys gibt und man für einen Anruf längst nicht mehr zu Hause bleiben muss. Molly hat mich einfach abgeholt, denn für Molly ist versprochen versprochen, und ganz uneigennützig war es auch nicht, sie wollte ja etwas hinter sich lassen. Molly ist zur Mutter gefahren, um ihre Ruhe zu haben, was mir absurd erscheint.
Molly liebt Irene um ihretwillen. Sie hilft Helene. Sie bleibt loyal. Sie will ihre Menschlichkeit nicht den Aufstiegschancen opfern. Der letzte Punkt im Text zeigt sich in der Gesamtkonstruktion der Figur von Helene, die nirgendwo auch nur ansatzweise handlungsfähig erscheint. Nicht nur uriniert sie noch ins elterliche Bett mit 35 Jahren, vergisst den Lohn ihrer Assistentin zu überweisen, die daraufhin kündigt, oder lässt ihre Mutter mit gebrochener Hüfte im Wohnzimmer liegen, während sie einen geselligen Abend verbringt, nein, sie hüpft sogar, als sie die Nachricht erhält, dass ihr Istanbulstipendium genehmigt wurde, in der Küche herum, während ihre Mutter im Wohnzimmer vor Schmerz schreit und in ihrem eigenen Urin liegt. Unempathischer, erbarmungsloser lässt sich eine Ich-Erzählinstanz nicht vorführen:
Ich nehme meine Hand von ihrer, greife nach dem dünnen Stil des Weinglases, schwenke die rote Flüssigkeit darin, ohne es anzuheben, rotiere es auf der Tischplatte und sage, du hast meine Mutter im Stich gelassen. Molly hebt die Augenbrauen. Du auch, sagt sie. Ja, sage ich, aber ich habe von Anfang an klargemacht, dass sie mit mir nicht zu rechnen braucht. […] Sie ist erwachsen, sagt Molly, und als ich nicht antworte, schiebt sie hinterher, sie ist alt geworden. Findest du, sage ich. Du bist erwachsen geworden, sage ich. Du nicht, sagt Molly.
Auf diese Weise reiht sich Hohle Räume in die Literaturtradition ein, die einen Ich-Erzähler antithetisch dekonstruieren, aber dadurch eben die Erzählsituation selbst sabotieren: Wenn der Erzähler unsympathisch wirkt, stellt sich keine Verbindlichkeit ein, selbst nicht in dem Falle, dass die Unverbindlichkeit illustriert werden soll. Die Erzählung selbst findet in einem Boot statt: Lesen-Hören-Erzählen gehen eine Verbindung ein, sodass Hohle Räume an seiner Erzählinstanz scheitert, aber Höhepunkte dort findet, wo Molly und Irene, die Nebenfiguren, von ihrer Welt und ihren Kämpfen berichten und ihren kleinen, aber dennoch sehr bemerkenswerten Siegen. Auf seine Weise also bleibt Hohle Räume eine interessante Komplementärgeschichte zu Françoise Sagans Bonjour Tristesse.
Nächste Woche am 18.01.2025 auf Kommunikatives Lesen werde ich den Roman Stadt der Hunde von Leon de Winter besprechen.
Diese und andere aktuelle Kurzrezensionen befinden sich hier.

Das klingt nach schwerem Tobak. Da werde ich wohl eher passen, aber Du erinnerst mich daran, dass ich Bonjour Tristesse schon lange lesen wollte. Viele Grüße und eine gute Restwoche! Barbara
Das ist schwerer Tobak, ohne Frage, dem jedwede Leichtigkeit abhanden gekommen ist. In dem Rahmen aber „Bonjour Tristesse“ wiedergelesen zu haben, hatte etwas Versöhnliches. Es gibt einige Bruchstellen, die „Hohle Räume“ bemerkenswert werden lassen, aber denen müsste man schon sehr kultursoziologisch nachspüren. Die Frage ist weshalb? Viele Liebe Grüße Alexande und Danke fürs Lesen!