Leon de Winter: „Stadt der Hunde“

Stadt der Hunde von Leon de Winter. Spiegel-Belletristik Bestseller (2/2025)

In der Tradition eines Martin Suters beginnt Leon de Winter seinen Roman Stadt der Hunde reißerisch, schnell auf den Punkt gebracht. Eine Tochter geht verloren, und mit ihrem Verschwinden zerbricht das ganze Leben des Neurochirurgen Jaap Hollander. Stadt der Hunde greift das Trauma vom verschwundenen Kind auf, wie zuletzt auch Daniela Krien in Mein drittes Leben, oder ein anderer bekannter Gegenwartsliterat aus den Niederlanden, Cees Nooteboom, in Allerseelen. De Winter verknüpft dieses existentielle Thema um Tod und Abschied mit dem Nahost-Konflikt, denn die Tochter ist auf einer Birthright-Reise in der Negev-Wüste in Israel verschollen:

In diesem fieberhaften ersten Jahr nach Leas Verschwinden reduzierte Jaap seine Arbeit auf das Nötigste und flog, so oft es ging, nach Tel Aviv, wo er von einem Mitarbeiter der niederländischen Botschaft und jemandem von einer israelischen Regierungsbehörde abgeholt, über eine VIP-Route durch die Flughafengebäude gelotst und zu einem Polizei-Kleinbus gebracht wurde, der ihn in die Wüste fuhr.  […] Später, nach diesem ersten Jahr, als die Israelis ihm eröffnet hatten, dass das Rätsel nicht gelöst werden könne, heuerten er und Sam Guides an, die sie durch den Krater führten, bis die Pollocks die Reise emotional nicht mehr verkraften konnten.
Leon de Winter aus: „Stadt der Hunde“

Inhalt/Plot:

Jaap, die Hauptfigur von Stadt der Hunde, arbeitet als weltweit anerkannter Neurochirurg in Amsterdam und ist mit der zehn Jahre jüngeren Krankenschwester Nicole verheiratet. Sie haben eine zum Zeitpunkt ihres Verschwindens achtzehn Jahre alte Tochter namens Lea, die sich für die jüdischen Wurzeln ihres Vaters begeistert und nach ihrem Schulabschluss die Anerkennung als Jüdin anstrebt. Jaap hält nichts davon.

Kurz vor ihren Abschlussprüfungen hatte Lea eine Mesusa am Rahmen ihrer Zimmertür befestigt. Zuvor hatte sie ein Widderhorn, ein Schofar, mitgebracht, das am jüdischen Neujahrstag und am Versöhnungstag, Jom Kippur, geblasen wird. Sie kam damit in die Küche, aber sie konnte keinen Ton herausbekommen. »Weißt du, was das ist?«, fragte sie.
»Ein Schofar. Ein Widderhorn.«
»Es ist sehr schwer, einen Ton herauszukriegen. […] Willst du es mal versuchen?«
»Nein.«
»Blöd«, sagte sie und verließ die Küche.

Das Verschwinden ihrer Tochter führt zu einer zunehmenden Zerrüttung der Ehe, die bereits vorher stark belastet war. Der Roman setzt zehn Jahre nach Leas vermeintlichem Tod ein. Die Ehe ist geschieden. Jaap lebt allein, reist jedes Jahr nach Israel und organisiert Suchen und Nachforschungen über den Verbleib Leas, obwohl ihm bereits viele die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens schonungslos unterbreitet haben. Auf einer Reise erhält er die überraschende Möglichkeit, die Tochter des saudischen Prinzens durch eine gewagte Gehirnoperation zu retten. Die Belohnung bewegt sich in siebenstelliger Höhe, sodass Jaap, gelänge der Coup, die lang ersehnte geologische Höhlenexpedition in der Negev-Wüste finanzieren könnte. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt:

»Das kriegen wir schon hin. Der Scheich hat ein Vermögen zur Verfügung gestellt, ein arabisches Vermögen, wohlgemerkt. Es bietet Ihnen grenzenlose Möglichkeiten. Sie können hier neurovaskuläre Forschung betreiben, ein Team zusammenstellen, die besten und modernsten Apparate anschaffen!«
[…] [Jaap] fragte: »Wie lange hat [seine Tochter] noch?«
»Das wissen wir nicht. Es scheint, dass die AVM instabil ist und kleinere Blutungen aufgetreten sind, warning leaks. Es gibt ein paar Schwachstellen, und wenn es zu einer größeren Blutung kommt … Eine tickende Zeitbombe. Je früher du operierst, desto besser.«

Die Aktion besitzt politische Sprengkraft, zumal sich noch der israelische Ministerpräsident für den Prinzen einsetzt und einen möglichen, langanhaltenden Frieden mit der Tochter des Prinzen als saudisches Staatsoberhaupt anvisiert. Es gilt also nicht nur seine eigene, sondern auch die Tochter des Prinzen zu retten, und dies im Alter von 67 Jahren, bereits nach seiner erzwungenen Pensionierung. Stadt der Hunde gestaltet also den Stoff Alter, dynamisiert durch Physisches Ausgeliefertsein.

Stil/Sprache/Form:

De Winters Sprache besitzt große Ähnlichkeiten zu Thrillern und Kolportage-Romanen. Er kommt schnell und unumwunden zum Punkt, verdichtet Zeitabläufe, beschreibt nur das Notwendigste und dringt direkt zum nächsten erzählerischen Wendepunkt. Leider verläuft er sich hierbei oft in auffällig vielen sprachlichen Wiederholungen und formelhaft repetierten Aussagen:

[…] Wie konnte man Jaap am besten beschreiben? In seinen besten Jahren hatte er Al Pacino geähnelt, nur in einer hochgewachseneren Version.
[…] Er war ein drahtiger, kahlköpfiger Mann von siebenundsechzig Jahren, der früher von Weitem irgendwie Al Pacino geähnelt hatte …
[…] Ausgelöst von ihm, Jaap, dem Sohn des Heizölmannes, dem Chirurgen, der in seiner Jugend von irgendeiner Krankenschwester mit Al Pacino verglichen worden war.
[…] Damals, in jenen Jahren vor Leas Verschwinden, hatte Jaap noch diesen Al-Pacino-Look …

Um nur einige Stellen zu nennen, in denen von der Al Pacino-Ähnlichkeit die Rede ist. Ein anderes Beispiel wären die etwas eintönigen Straßenbeschreibungen, die oft „Flamboyantbäume“ enthalten oder aber die sehr betrauerte Notwendigkeit von Viagra-Pillen:

[…] Er war ein drahtiger, kahlköpfiger Mann von siebenundsechzig Jahren, […] der blaue Pillen schlucken musste, um seinen und ihren Erwartungen gerecht werden zu können.
[…] Er war ein kahlköpfiger Mann im Ruhestand, in dessen Kulturbeutel sich ein Streifen mit vier blauen Pillen befand.
[…] Eine von den blauen Pillen, die er von zu Hause mitgebracht hatte, steckte er schon einmal in eine Tasche des Jacketts. Er wusste nicht, ob es so weit kommen würde, aber mein Gott, die Hoffnung stirbt zuletzt.
[…] Die blaue Pille steckte im kaputten Zegna-Jackett. Jaap hatte noch drei weitere in seinem Kulturbeutel im Norman und befürchtete jetzt, dass sie nie zum Einsatz kommen würden.

Von den humoristischen Aspekten abgesehen, verhandelt de Winters Roman aber im Grunde eine sehr ernste Sache, nämlich die Rückkehr zu einer neuen Form von Glauben.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Interessant nämlich an Stadt der Hunde wird das brüchig-allegorische Schlingern um einen das Diesseits und Jenseits umfangenden Glauben, das einerseits durch eine sehr seltsam altmodisch anmutende kommentierende auktoriale Erzählweise in Szene gesetzt und in der Metapher des Hundes konkretisiert wird. Es ist ein Hund, den Jaap am Gedenkstein seiner Tochter in der Negev-Wüste trifft und der ihn auch in seinen Träumen heimsucht, in denen er mit Jaap sogar spricht:

Ihr glaubt, ihr hättet euch weiterentwickelt, indem ihr den abergläubischen Ritualen der Vergangenheit abgeschworen habt. Ihr seid dumm. Aber wir sind immer noch da. Seid froh, dass es uns gibt! Wenn ihr euch manchmal fragt: Womit haben wir die Hunde verdient?, dann solltest du wissen: Ihr habt uns gar nicht verdient, ihr seid unmoralische, nackte Affen. Wir tun es aus Liebe. Wir helfen euch, den richtigen Weg zu finden.

Diese religiöse Ebene bindet de Winters Konglomerat gründlich zusammen, das eine Reise von Saulus zu Paulus inszeniert, gebrochen, teilweise vulgär, dennoch gesättigt mit Sehnsucht nach einem höheren Sinn. Leas Religiosität findet Eingang in Jaaps Wesen, als Sex und Ruhm im Schwinden begriffen und unverfügbar geworden sind. Er setzt ihre Reise metaphorisch fort, siedelt von Amsterdam nach Tel Aviv um und verkehrt zwischen Tag- und Nachttraum in neuen Welten:

Da saß Professor Jaap Hollander im Spätnachmittagslicht vor der Tür, Leas Schofar auf dem Schoß. Unter dem Heisenberg-Hut waren seine Augen kaum zu sehen, aber sie strahlten voller Glück – hier sitzen zu dürfen und gleich das Schofar zu hören, was für eine Gnade, dachte er. Und als er vermutete, dass in den Synagogen in jeder Ecke der Stadt die Zeit des Schofars gekommen war, stand er auf und setzte das Horn an den Mund. Ein uralter, tiefer, animalischer Ton erklang, und er wusste: Dies war ein Ton aus der Zeit, als Hunde noch als Führer dienten und der Tod ein Tor in eine andere Welt war.

Die bedingungslose Treue der Hunde dient als Vorbild wieder alten Traditionen bedenkenlos zu folgen, trotz aller Heisenbergscher Unschärfe und wissenschaftlich-gesättigter Skepsis. Hier aber beginnt de Winter in seinem Roman die Ebenen zwischen Märchen, Phantasma, Legende und Heilgengeschichte zu vermischen, der auf diese Weise postmodern, gewagt, fast absurd erscheint. Der Hund, der ihn im Traum ins Jenseits zur Erscheinung seiner Tochter geführt hat, begegnet Jaap nun realiter, auf selbiger Textebene. Traum und Erzählung werden eins, und die Erzählung in der Erzählung wird in Kursiv gesetzt, sodass im Grunde Unterscheidungen zwischen Phantasie und Wirklichkeit eingeebnet werden:

Er schloss die Augen und ließ den Urton nachklingen, und er hoffte, dass Lea ihn gehört hatte, Papa mit dem Schofar, und dann spürte er die Zunge eines Hundes, der wie zur Begrüßung seine ineinander verschränkten Finger leckte. Jaap erschrak nicht darüber. Es war die normalste Sache der Welt. Während die Hörner in den Himmel riefen, hielt Jaap seine Augen geschlossen. Es hatte lange gedauert, bis ihm das klar wurde, aber jetzt war er sich sicher: Alles ist heilig.

Die im Grunde klassisch-vermittelte Einzelgänger-Geschichte eines isolierten, nach Sex darbenden Mannes wie in Éugene Ionescos gleichnamigen Roman oder Bodo Kirchhoffs Seit er sein Leben mit einem Tier teilt gerät zu einer in sich verschlungenen Derealisierungsstrategie über das, was (für eine Erzählinstanz) wirklich ist. Diese Ebene zeichnet Stadt der Hunde aus, das von dieser Warte aus gesehen an Achim von Armins und Clemens Brentanos Volksliedtexten Des Knaben Wunderhorn anschließt:

Der schöne Knab sagt auch:/»Dies ist des Horns Gebrauch:
Ein Druck von Eurem Finger,/Ein Druck von Eurem Finger

Und diese Glocken all,/Sie geben süßen Schall,
Wie nie ein Harfenklang/Und keiner Frauen Sang,

Kein Vogel obenher,/ Die Jungfraun nicht im Meer
Nie so was geben an!«
Aus: „Des Knaben Wunderhorn“ [hrsg. von C. Brentano und A. von Arnim]

Die Schönheit und Zauber des Klanges übertönen alle irdischen Begehren und Sentimentalitäten. Sie erinnern an die Schofaren, die Trompeten (oder Posaunen) von Jericho, die zum Einsturz der Stadtmauern führten, die wiederum nur unter Strafe des Todes des ersten Kindes wieder aufgebaut werden dürften. Die Grenze also zwischen Phantasie und Realität, wie die Grenze zwischen Stadt und Umland, wie überhaupt alle Grenzen sollen aufgegeben und erlöst werden. Stadt der Hunde endet so mit einem Paukenschlag gegen die Begehrlichkeit, gegen das Vergessen und für das Öffnen, also gegen jedwede Mauern. In der Religiosität findet Jaap Ruhe, eine neue Einheit mit der Tochter, und der Roman verschwimmt zu einer sentimentalen Hoffnung, die in der Fiktion der Fiktion, nämlich der Reise zu einem Festival, das am 6. Oktober in der Nähe des Kibbuz Re‘im beginnen soll, endet, nämlich so, als hätte es die Realität nie gegeben.

Bei diesem Fest tanzen die Gläubigen mit Thora-Rollen. Erde und Himmel treffen aufeinander, dachte Jaap. Er hatte vor, diesen Tag gemeinsam mit [dem Hund] Avi im Krater zu verbringen und zu tanzen, er, der alte Prof, der keine Ahnung hatte, was Tanzen war. Früher, ja, als er noch Al Pacino war. Er hatte das Gefühl, dass ihm vergeben wurde, so vage und abstrakt das auch klingen mochte, und er packte einen Koffer und vergaß Avis Futternapf nicht.

Die ungewöhnliche abstruse Mischung stellt Stadt der Hunde von Leon de Winter neben Paul Austers letztem beendeten Roman Baumgartner, hier ein Literaturwissenschaftler, dort ein Neurochirurg. Beide ringen mit dem Tod eines geliebten Menschen und suchen ihr Heil in der phantasmatischen Vermischung eines gegenwärtigen Jetzt hin zu einem Traum, der nicht enden möge. Buchstabengetreu gelesen scheitern aber beide an einem unrealisierbaren erzählerischen Ich, das durch seine erzählperspektivische Widersprüchlichkeit wie ein Kartenhaus in sich zusammenbricht.

Nächste Woche am 25.02.2025 auf Kommunikatives Lesen werde ich wahrscheinlich den Roman von Tommy Goerz Im Schnee besprechen.

Diese und andere aktuelle Kurzrezensionen befinden sich hier

6 Antworten auf „Leon de Winter: „Stadt der Hunde““

  1. hibouh – Grand Turc – read me! Und weiterhin.... Die Labyrinthe von Hibouh: Orte der Sehnsucht. Oasen für alle Umtriebigen und Nachtschönheiten. Inseln im opaken Licht der Phantasie unter einem fleischig dahinziehenden Mond. Leise Dämmerung auf den Höhen. Neugierig geworden? Wir bringen Sie hin, wo Erleben und Erkennen eins werden. Nur Mut - lüften Sie dieses Geheimnis!
    hibouh sagt:

    „Du Hund!…“ Spannend, dass Hunde andererseits die treuesten und bedingungslosesten Begleiter des Menschen sind. Wieviele Menschen waeren, selbst mit Sex ohne blaue Pillen, unglücklich ohne Hund? Gottgleich. Danke für die Besprechung!

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Der Hund besitzt in diesem Roman sogar eine Vorbildfunktion, ein wenig Zerberus hinzugemischt. Leider geht er nicht sehr in die Tiefe, zum Beispiel, warum „Stadt der Hunde“? Kennst du gute Romane über Hunde? Danke fürs Lesen und viele Grüße!

      1. hibouh – Grand Turc – read me! Und weiterhin.... Die Labyrinthe von Hibouh: Orte der Sehnsucht. Oasen für alle Umtriebigen und Nachtschönheiten. Inseln im opaken Licht der Phantasie unter einem fleischig dahinziehenden Mond. Leise Dämmerung auf den Höhen. Neugierig geworden? Wir bringen Sie hin, wo Erleben und Erkennen eins werden. Nur Mut - lüften Sie dieses Geheimnis!
        hibouh sagt:

        Paul Auster: Timbuktu! Ja, „Stadt der Hunde“?

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      So man es nicht allzu sehr auf narrative Konsistenz liest, besitzt es einen gewissen Charme, aber nein, nicht wirklich, diese Gott-in-Weiß-Allüren gehen hart an die Schmerzgrenze, ich habe das nicht so verdeutlicht, oder herausarbeiten wollen – die Realitätsebenen-Verschiebung hat mich mehr interessiert. Es kostet aber nicht viel Kraft, es kurz zu lesen und sich eine Meinung zu bilden, und vielleicht hast du ja eine andere Möglichkeit das Ende zu deuten als ich. Das würde mich interessieren!! 🙂 Viele Grüße!

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