Viktor Gallandi: „Kaspar“ (Das Debüt 2023)

Kaspar
Kaspar von Viktor Gallandi …   Shortlist von Das Debüt-Bloggerpreis 2023.

Nicht nur die Musik beheimatet das Quodlibet. Auch die Literatur kennt es. Das Quodlibet stellt musikalisch ein scherzhaftes Musikstück da, in dem verschiedene Melodien zeitgleich erklingen und im Spiel und Übereinandergehen etwas Unerwartetes erzeugen können. In seiner schlichtesten Form nennt es sich Medley. In der Literatur lässt sich das Gleichzeitige weniger gut realisieren, durch die lineare Rezeptionsform, und so besteht das Quodlibet hier darin, dass scherzhafte Dichtungselemente durch inkohärente Kombinationen überraschende Wirkungskraft entfalten. Der barocke Schelmenroman und die frühneuhochdeutschen Pastorellen illustrieren dieses Verfahren. Neuerdings tauchen vermehrt Quodlibets auf dem Literaturmarkt auf: Jan Faktors Trottel, Necati Öziris Vatermal, Tomer Gardis Eine runde Sache oder nun Viktor Gallandis Debütroman Kaspar:

Wie man sieht, fällt es in der Lage, in der ich mich zu befinden behaupte, schwer, den Dingen Eigenschaften zuzuschreiben, die man nicht auch einem Nichtding zuschreiben könnte, und umgekehrt. Das macht natürlich nichts. Meine Empfindsamkeit soll eine sein, die sich nicht an Maß und Maßgeblichkeit zu halten braucht, eine schrankenlose, in alle Richtungen und in sich selbst offene, die den Sternen den Schweiß auf das Gestirn treibt, geoffenbart vor einer überkommenen Leere, unendliche Einfaltung in die zum Nonsens verdichtete Subjektivität.

Viktor Gallandi aus: „Kaspar“
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Magdalena Saiger: „Was ihr nicht seht“ (Das Debüt 2023)

Dass der Kunst- und Kulturbetrieb seine Schattenseiten hat, thematisieren viele Bücher. Magdalena Saigers Debütroman Was ihr nicht seht oder: Die absolute Nutzlosigkeit des Mondes wählt einen Aussteiger aus diesem Milieu, aber anders als Max Frischs Stiller, in welchem es auch um einen Bildhauer, zeitweise um die Schweiz, um einen Aussteiger und Flüchtling aus dem eigenen Leben geht, konzentriert sich Saiger um die produktive, künstlerische Seite dieser Entscheidung und weniger um das persönliche, innere Drama ihres Protagonisten:

An Schlaf war jetzt nicht zu denken, und das lag nicht am vielen Kaffee, hier würde auch der Aquavit nicht helfen, also zog ich mir den Mantel noch einmal über und trat in die Nacht hinaus. Sie war, wenn die Augen sich einmal gewöhnt hatten, hell genug, um die Umrisse von Wald und Grube zu erkennen und nicht ins Bodenlose zu stürzen, und so ging ich im raschen Tempo der Gewissheit, einen Schritt getan zu haben. Ich bewegte mich am Waldrand die Kante entlang, sie zog einen fahlen Halbkreis wie ein Flusstal, ein paar Sterne funkelten in der kalten Nachtluft, ich grüßte sie als meine elektrisierten Freunde.

Magdalena Saiger aus: „Was ihr nicht seht“
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Tomer Dotan-Dreyfus: „Birobidschan“ (Das Debüt 2023)

Birobidschan
Birobidschan von Tomer Dotan-Dreyfus … Shortlist von Das Debüt-Bloggerpreis 2023.

Das Thema von Tomer Dotan-Dreyfus‘ Debütroman Birobidschan lautet vordergründig Heimatlosigkeit und stellt die Frage, wo die Heimat liegt, wo sie gefunden werden kann, und ob sie nicht als Ort zwischen den Menschen, in den Verhältnissen und Erinnerungen der Menschen untereinander besteht und nur auf diese Weise Realität erlangt. Der Ort Birobidschan, eingeführt als die Möglichkeit eines neuen sozialistischen Paradieses, liegt an der russisch-chinesischen Grenze, fast am Pazifik, genauer am Ochotskischen Meer, aber seine Geschichte, sein geographischer Standort spielen bei Doten-Dreyfus keine Rolle, auch nicht seine relative Nähe zum Ort des bislang ungeklärt gebliebenen Tunguska-Ereignisses. Dotan-Dreyfus improvisiert in Birobidschan über Menschen und ein dörfliches Zusammenleben, das so überall auf der Welt sich abspielen könnte:

[Miriam] lehnte sich gegen den Baumstamm und sprach über den Feiertag [Sukkot]. »Findest du es nicht eigenartig, dass wir schon so lange in Häusern wohnen und trotzdem einmal im Jahr durch diese peinlichen Laubhütten an eine Zeit erinnern, in der wir angeblich kein sicheres Zuhause hatten?«
»Weiß ich nicht«, antwortete [Dmitri] verlegen, »ich habe kein Zuhause.«

Tomar Dotan-Dreyfus aus: „Birobidschan“
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Grit Krüger: „Tunnel“ (Das Debüt 2023)

Romane besitzen ein eigenes Zeitmaß und vermögen es, in raumzeitliche Bedeutungszonen zu entführen. Sie eignen sich daher auch und insbesondere dafür, psychische Abgründe, seelische Labyrinthe, emotionale Sackgassen auszuloten. Das narrative, in sich vielschichtige Netz simuliert die Zustände zwischen Alptraum und Hoffnung in allen Schattierungen. Tunnel von Grit Krüger, das ich im Rahmen des Das Debüt-Bloggerpreises 2023 gelesen habe, handelt von einer jungen Mutter namens Mascha, die aussichtslos, perspektivenlos durch ihr Leben treibt und eine Entscheidung zu treffen hat und trifft: Ein Abenteuer, koste es, was es wolle, muss her.

1.200 Euro: Hydraulischer Rettungssatz, Schere und Spreizer vom Feuerwehrfachbedarf, gebraucht, Expresslieferung, Ratenzahlung möglich. Mascha zögert. Das Gerät zerschneidet Autowracks, öffnet Stahltüren und wird auch einen Weg finden, mit einem Bohrkopf fertigzuwerden, der im Boden steckt. Mascha schluckt. 1.200 Euro in schleichenden Raten weniger für Spaghetti und Toast – aber auch 1.200 Euro, die sie spüren wird, hier und jetzt. Mein Keller, denkt sie, mein Reich, mein Raum.

Grit Krüger aus: „Tunnel“
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Haruki Murakami: „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer
Die Stadt und ihre ungewisse Mauer … Friede, Freude, Eierkuchen?

Von phantastischer Literatur lässt sich nur vor dem Hintergrund eines entzauberten Weltbildes sprechen. Erst wenn alles scheinbar erklärbar, rationalisierbar und mit Wahrscheinlichkeitsattributen versehbar geworden ist, gibt es eine diesen Erwartungshorizont durchbrechende Fiktionalität, die vordem lediglich Teil einer mystisch aufgeladenen Welt gewesen ist. Phantastik zeichnet sich nämlich in Abgrenzung zum Märchen und zur Fantasy-Literatur dadurch aus, dass die Ambiguität der anderen Welt thematisiert und mit einer wahrscheinlichen (realen, quasi deterministischen) kontrastiert wird, indessen das Märchen oder das Fantasy-Setting die Imagination absolut setzt und immersiv wirken lässt. Gebrochene Fantasy schreiben Mary Shelly, Edgar Allan Poe oder im deutschen Sprachraum Alfred Kubin mit Die andere Seite oder Gustav Meyrink Der Golem, in deren Tradition Jorge Luis Borges und auch Haruki Murakami stehen, der nun einen neuen Roman herausgebracht hat mit dem Titel Die Stadt und ihre ungewisse Mauer:

Waren wir ein Liebespaar? Konnte man das so nennen? Ich weiß es nicht. Doch zumindest waren wir, du und ich, fast ein Jahr lang unzertrennlich. Und irgendwann schufen wir uns eine besondere geheime Welt, nur für uns beide – die wundersame Stadt, umgeben von der hohen Mauer.

Haruki Murakami aus: „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“
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Bernhard Schlink: „Das späte Leben“

Das späte Leben
Das späte Leben von Bernhard Schlink … ein schwacher Trost voller Fragezeichen.

Die Konfrontation mit dem Tod kennt viele Gesichter. Es gibt die, die ihn glühend bekämpfen, wie ein Johann Wolfgang Goethe in seinem West-östlicher Divan; die, die ihn stoisch zur Kenntnis nehmen wie ein Michel de Montaigne in seinen Essais; jene, die durch ihn hindurch in die Gesamtheit ihrer Lebensexistenz gelangen und Erinnerungswelten entfachen wie Hermann Broch in Der Tod des Vergil, oder auch die, die ihn flüchten, sich betäuben, bspw. mit Sex wie Michel Houellebecq in Vernichten, oder mit Nachrichten an die Nachwelt trösten wie Irvin D. und Marilyn Yalom in Unzertrennlich. Bernhard Schlink gehört mit seinem neuesten Roman Das späte Leben eher zu den letzteren. Sein Protagonist flieht den Tod:

Beim Abschied vom Arzt hatte er die nötige Entschlossenheit aufgebracht, und er würde es auch bei den Begegnungen mit Frau und Sohn. Dass er nicht wusste, wohin er gehörte, noch zu den Lebenden oder schon zu den Toten, dass er sich verdächtig war, würde ihm nicht dazwischenkommen. Er zog den Mantel aus, machte Kaffee und setzte sich ins Wohnzimmer. Er wusste, dass, was der Arzt gesagt hatte, ihn noch nicht wirklich erreicht hatte. So war es immer schon gewesen.

Bernhard Schlink aus: „Das späte Leben“
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Benjamin Labatut: „Maniac“

Maniac
Maniac von Benjamin Labatut … Krachend,
fesselnd, explosiv
substanzlos.

Die Wissenschaft als hintergründiges Schema, das unsere Welt beherrscht, der sprichwörtliche Zauberlehrling, der die Geister nicht mehr loswird, die er gerufen hat, beschäftigt die Literatur in vielen Formen. Zumeist wird die der Biographie gewählt, eine Persona inszeniert, die die Welt auf seinen Schultern trägt, verantwortlich zeichnet und sowohl Fortschritt wie Angst vor der eigenen Courage vereinigt. Dietmar Daths Gentzen oder: Betrunken aufräumen oder Dirac stehen für eine solche Literatur Pate; auch Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, oder Steffen Schroeders Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor. Benjamin Labatut legt nun mit Maniac einen weiteren Versuch vor, in welchem es unter anderem um Johann (John) von Neumann geht:

Zum Dank, dass ich [Theodore von Kármán] mich für ihn eingesetzt hatte, schickte mir von Neumann seine Dissertation. Sie hätte nicht ehrgeiziger sein können. Er trachtete nach dem Heiligen Gral. Von Neumann hatte sich vorgenommen, die reinsten und grundlegendsten Wahrheiten der Mathematik zu finden und als unanfechtbare Axiome auszudrücken, Aussagen, die nicht widerlegt werden könnten und die widerspruchsfrei wären, Gewissheiten, die niemals verblassten oder entstellt würden und somit – einer Gottheit gleich – zeitlos wären, unwandelbar und ewiglich.

Benjamin Labatut aus: „Maniac“
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Friedrich Hölderlin: „Der Tod des Empedokles“

Der Tod des Empedokles
Der Tod des Empedokles … naturgesättigter Idealismus auf Abwegen.

Viele Zeitgenossen wie Achim von Arnim sahen in Friedrich Hölderlin eine Art „Mythenseher“. Insbesondere in seinen späten Hymnen und Balladen wie Brod und Wein, Patmos oder Der Rhein (1800-1806) verdichten sich Hölderlins Natur- und Antikenauffassung. Neben seinen Übersetzungen von Sophokles Werken wie Antigone arbeitete er auch einige Jahre an seiner Tragödie Der Tod des Empedokles (1797-1800). Sie blieb unvollendet, in ihrer Fragmentarizität aber strahlt sie eine hochindividuelle Rätselhaftigkeit aus, die viele Sprach- und Philosophieprobleme der Moderne vorausahnt:

EMPEDOKLES.
Vergehn? ist doch
Das Bleiben, gleich dem Strome den der Frost
Gefesselt. Töricht Wesen! schläft und hält
Der heilge Lebensgeist denn irgendwo,
Daß du ihn binden möchtest, du den Reinen?
Es ängstiget der Immerfreudige
Dir niemals in Gefängnissen sich ab,
Und zaudert hoffnungslos auf seiner Stelle,
Frägst du, wohin? Die Wonnen einer Welt
Muß er durchwandern, und er endet nicht.

Friedrich Hölderlin aus: „Der Tod des Empedokles“ (Erste Fassung)

Im Folgenden lege ich die erste Fassung von Der Tod des Empedokles meinem Lesebericht zugrunde. Sie ist von allen möglichen Rohformen und Ausarbeitungen die am weitest gediehene, und als Textgrundlage nehme ich die von Friedrich Beißner erstellten historisch-kritischen Stuttgarter Ausgaben.

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Mein Lesejahr 2023

Wie 2021 und 2022 habe ich die Zeit zwischen den Jahren genutzt, um mein Lesejahr 2023 Revue passieren zu lassen. Ich verlasse 2023 mit gemischten Gefühlen, da sich die Gegenwartsliteratur in diesem Jahr sehr spröde gegen meine Leseentfaltungsversuche gezeigt hat. Viele Bücher, die ich 2023 gelesen habe, verweigerten schlicht und einfach eine kommunikativ sich bereichernde Lektüre und trumpften eher mit Stichworten, Schlagworten und Szenenskizzen auf, so dass ich mich gegen Mitte des Jahres gezwungen sah, neue Lese-, Verständnis- und Auslegungswege einzuschlagen.

Überschaue ich die etwas mehr als 108 gelesenen Bücher, so dominierten die Themen DDR, Drogen, Italien und Kulturdimensionen der Annäherung. Trotz mancher Tiefschläge gab es dennoch einige Highlights. Ich küre für jede Kategorie das eine:

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Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes“

Die Ballade des letzten Gastes
Die Ballade des letzten Gastes … ein etwas anderer Erlenkönig

In Peter Handkes Die Ballade des letzten Gastes kehrt ein verlorener Sohn heim. Das Thema der Rückkehr, die Odyssee, die ihren Abschluss findet und einen Neuanfang erlaubt, verknüpft Handkes Text, der nicht als Roman ausgewiesen ist, mit Birgit Birnbachers Wovon wir leben und mit Thomas Hettches Sinkende Sterne, der ebenfalls explizit auf Homer eingeht. Handkes Ballade beginnt mit dem Motto:

… Wohin nur könnte ich hinab-hinaus-voranflüchten?
[bei Johann Heinrich Voß übersetzt als: „Wo entflieh ich alsdann?“]

Homer aus: „Odyssee“ [20/43]
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