Kalenderwoche 19: Lesebericht.

Frühmorgens, wenn man in Berlin selbst die Vögel hört, lässt sich der Tag gut an. Wenig Regen in Berlin, dezente Straßengeräusche, viel weniger Sirenen. Neben der alltäglichen Arbeit glücklicherweise Zeit gefunden, Gotthard Günthers Geschichts-Rundumwasch zu lesen, dies mit Gustave Flauberts Briefen und Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand zu garnieren, und mir zum Nachtisch die transzendentale Analytik Kants zu Gemüte zu führen. Insbesondere das Amphibolie-Kapitel hat sehr viel Zeit gefressen, da ich es gleich vier Mal lesen musste, um das gespannte Verhältnis zu Leibniz zu beruhigen. Nun aber die drei Kategorien: Gekauft, an- und weitergelesen, ausgelesen.

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Kristine Bilkau: „Nebenan“

Auf der Suche nach Verbindlichkeit … Spiegel Belletristik-Bestseller (15/2022)

Der Roman „Nebenan“ spielt am Nord-Ostsee-Kanal in der Nähe von Hamburg. Er ist ganz in Blau gehalten. Blau bestimmt seine Stimmung, die Atmosphäre, das Licht und das Cover. Es hüllt die Figuren, die Handlungen, die Geheimnisse am Ufer des Kanals ein und hält die Zeit in der Schwebe. Sie vergeht langsam, bleibt hier und da beinahe stehen, nur um dann aber abrupt und spürbar zu springen, vom Winter in den Frühling, vom Frühling über Ostern in den Sommer.

Sie weiß nicht, was in ihm vorgeht, aber sie sind hier, schwerelos unter Wasser, es ist seltsam und schön. Sie wünschte, es könnte länger dauern. Sie weiß, dieser Moment lässt sich nicht wiederholen, es ist nicht möglich, dieses Erstaunen, über sie beide, über sich selbst, über den Lauf der Dinge, über das Gute, das sich darin verbirgt, noch einmal genau so zu empfinden.

Kristine Bilkau aus: „Nebenan“
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Fatma Aydemir: „Dschinns“

Von den Trümmern einer offenen Zukunft … Spiegel Belletristik-Bestseller (17/2022)

Generationenkonflikte entstehen durch verschiedene Erfahrungsräume. Die jeweils sehr unterschiedlichen Erlebnisstrukturen spannen andere Bedeutungs- und Erwartungshorizonte auf. Dieselben Wörter und Gesten verweisen plötzlich, ohne dass die Beteiligten dies verstehen, auf Verschiedenes. Was früher „Arbeit“ gewesen ist, ist heute vielleicht keine mehr. Was früher „normal“ war, ist plötzlich fremd. Wie trotzdem Generationen zusammenleben und sich zusammenraufen, beschreiben Familienromane. Fatma AydemirDschinns erzählt von einer türkischen Familie, die aus Emine, der Mutter, Hüseyin, dem Vater und den vier Kindern Ümit, Peri, Sevda und Hakan besteht.

Vielleicht ist Familie ja nichts anderes als das, ein Gebilde aus Geschichten und Geschichten und Geschichten. Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen? Sind sie die Lücken, die das ganze Konstrukt am Ende zum Einsturz bringen werden? Oder sind sie die Luft, die wir zum Atmen brauchen, weil die Wahrheit, die ganze Wahrheit, unmöglich zu ertragen wäre?

Fatma Aydemir aus: „Dschinns“
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Orhan Pamuk: „Die Nächte der Pest“

Ein Roman, der keiner sein will … Spiegel Bestseller 14/2022

Der neue Roman von Orhan Pamuk, Literaturnobelpreisträger aus dem Jahr 2006, bewegt sich in einem vieldiskutierten und mehrdimensionalen Spannungsfeld: Er thematisiert wie Emine Sevgi Özdamar in Ein von Schatten begrenzter Raum das Zusammenleben von Griechen und Türken auf den Inseln der Ägäis. Er geht den Tiefen und Untiefen einer Pandemie nach und gleicht in vielerlei Hinsicht Steffen Kopetzkys Monschau. Er untersucht außerdem die Liebe und die Probleme, die sich in der Fremde ergeben, wie Leïla Slimani in Das Land der Anderen. All dies und mehr, nämlich auch Reflexionen über Geschichtsschreibung als solche, verhandelt Die Nächte der Pest mit dem Nacherzählen der Ereignisse auf Minger im Jahre 1901, einer fiktiven Insel im Mittelmeer, die Pakize Sultan, Nichte des damals amtierenden Sultans des Osmanischen Reiches Abdülhamid II., und ihr Ehemann und Quarantänearzt Doktor Nuri besuchen:

Noch vor der Gründung von Arkaz sei vor der Bucht ein Schiff auf einen Felsen aufgelaufen, und die Menschen, die sich ans Ufer gerettet hätten, seien die Vorfahren der heutigen Mingerer gewesen. Die Insel habe ihnen sehr gefallen, mit ihren Felsen, Quellen, Wäldern und dem Meer, und sie hätten sie sich als neue Heimat auserkoren. Damals habe es in den Flüssen noch grüne Äschen und rot gepunktete Krebse gegeben, in den Wäldern seien farbene Störche und blaue Schwalben geflogen, die im Sommer nach Europa zogen.

Orhan Pamuk aus: „Die Nächte der Pest“
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Alois Hotschnig: „Der Silberfuchs meiner Mutter“

Blick ins ungezähmte Chaos … SWR Bestenliste Platz 1 (02/2022)

Kriege ziehen viel mehr in Mitleidenschaft als nur die oberflächlichen Zerstörungen und Verwüstungen und Verletzungen. Sie erschüttern Vertrauen, zwischenmenschliche Verhältnisse bis in die letzten Fasern und Fibern des Seins hinein. Untersucht Stefanie vor Schulte in „Junge mit schwarzem Hahn“ die unmenschlichen Gewaltverhältnisse während des Dreißigjährigen Krieges, so analysiert Susanne Abel in „Stay away from Gretchen“ die Problematik der während der Besatzung durch die Alliierten gezeugten Kinder im Nachkriegsdeutschland und Edgar Selge in „Hast du uns endlich gefunden“ die Wirkungen und Zerrüttungen des Krieges auf die familiären Verhältnisse, auf die Beziehung eines Sohnes zu seinem gewalttätigen Vater. Alois Hotschnigs Roman „Der Silberfuchs meiner Mutter“ eröffnet hier eine weitere Perspektive auf die Schrecken des Krieges und entwickelt diese entlang der Beziehung einer Mutter zu ihrem gewollt/ungewollten Sohn.

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Ayn Rand: „Atlas Shrugged“ (iii: die Logik)

Übers Leben um des Überlebens willen.

Nach der literaturhistorischen Einordnung im ersten Teil (i: das Genre), der Rekonstruktion des Plots als zweiten (ii: der Plot), nun die Erzähl- und Argumentationslogik von Ayn Rands Hauptwerk „Atlas Shrugged“ zum Abschluss (iii: die Logik). Rand betrachtete den Roman und insbesondere die Rede von John Galt im Kapitel „Hier spricht John Galt“ als die Grundlegung ihrer Philosophie des Objektivismus. In vielen Reden, Aufsätzen, in Interviews und Stellungnahmen verweist sie auf diese Rede als die ausführliche Darlegung all dessen, was sie in Bezug auf Philosophie in die Waagschale zu werfen hat. Es nimmt insofern kein Wunder, dass die Rede, die über 5% der Textmasse des Romans ausmacht, völlig aus dem Rahmen und unangemessen lang ausfällt. Sie beginnt mit den folgenden Worten:

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Ayn Rand: „Atlas Shrugged“ (ii: der Plot)

Von der Kunst, sich selbst in die Falle zu gehen.

Die Widersprüchlichkeit von Ayn Rands „Atlas Shrugged“ lässt sich bereits in der literarischen Anlage, also im Genre des Romans lokalisieren. Im ersten Teil der dreiteiligen Besprechung dieses überbordenden Wälzers wurden die Parallelen zu den klassischen Vertretern des sozialistischen Realismus herausgearbeitet. Dies verwundert sehr, zieht man in Betracht, dass „Atlas Shrugged“ eine dezidiert anti-sozialistische Pose einnimmt. Im zweiten Teil werden nun die Widersprüche in der Handlung untersucht, die ebenfalls überraschend klar das literarische Unternehmen von Ayn Rand ad absurdum führen, freie, rationale, selbstbewusste Figuren einzuführen, um deren Überlegenheit darzustellen. Der Roman beginnt mit Eddie Willers, der sich an seine Kindheit erinnert, an die Eiche auf dem Landsitz der Familie Taggart:

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Ayn Rand: „Atlas Shrugged“ (i: das Genre)

Widersprüchlich gegen Widersprüchlichkeit … mit Schwung übers Ziel hinausgeschossen.

Mit „Der freie Mensch“ liegt Ayn Rands Roman „Atlas Shrugged“ in einer neuen, dem Verlag nach, zeitgemäßen Übersetzung von Michael und Thomas Görden vor. Er ist ihr literarisches Hauptwerk, erschien 1957, und ist bis heute das enfant terrible der Literaturkritik geblieben. Zu erfolgreich, um ignoriert zu werden. Zu eigensinnig, um sich gefällig auf eine der vielen Seiten zu schlagen. Zu kitschig für den vermeintlich gehobenen Anspruch und viel zu lang für den Gelegenheitsleser. Und doch: Der Roman ist bis heute über allen Maßen erfolgreich mit Auflagen in Millionenhöhe und gehört zu den meistgelesenen und einflussreichsten Romanen der US-Literatur. Es ist nicht einfach ein Buch. Es ist das Zeugnis einer in sich zerstrittenen, janusköpfigen Welt und das Buch des US-amerikanischen Traums schlechthin:

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Yasmina Reza: „Serge”

Von einer immer kleiner werdenden Welt … Spiegel Belletristik-Bestseller 05/2022

Wie ein Treppenwitz der Literatur erscheint dreizehn Tage nach der Veröffentlichung von Michel Houellebecqs „Vernichten“ der Roman „Serge“ von Yasmina Reza als direkte, indirekte, aber in jedem Falle eng bezogene, wahrscheinlich aber unfreiwillige Antwort auf Houellebecqs semi-aktuelle Gegenwartsanalyse. Beide Romane behandeln ein in sich konfligiertes Familiengeflecht im heutigen Frankreich: Generationen, die sich nicht verstehen, die sich aber um Verständnis bemühen, denen aber die Sprache, die Kommunikationsmodi abhandengekommen sind. Protagonist in beiden Romanen ist ein Mann jenseits der Vierzig. In „Serge“ heißt er Jean, besucht das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, ist von Beruf Experte für Materialleitfähigkeit und kümmert sich gern um Luc, den Sohn seiner Ex-Freundin Marion:

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Kim Young-Ha: „Aufzeichnungen eines Serienmörders“

Zwanghaftes Vergessen … Spiegel Belletristik-Bestseller 07/2020

Dass Literaturkategorien höchstens zur sehr groben Orientierung dienen, beweist der Roman „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ von Kim Young-Ha. Dieser rangiert unter Krimis. Wurde 2020 mit dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet, belegte Platz 1 der Krimbestenliste und Platz 1 der besten Krimis der Saison, ebenfalls 2020. Wer nun meint, er bekomme den nächsten Simon Beckett oder Sebastian Fitzek geboten, oder einen Brunetti-Roman von Donna Leon, der täuscht sich. Er bekommt etwas geboten, und zwar eine polithistorische Parabel auf Gewalt, Vergessen, Schuld und Sühne in einem heimgesuchten Land, das genug Tote für viele weitere Generationen gesehen hat: Südkorea. Es handelt sich also um einen Fall, der sich nicht so leicht lösen lässt. Der Roman handelt von einem an Alzheimer erkrankten Serienmörder, Byongsu Kim.

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