Albert Camus: „Der Fall“

Der Fall von Albert Camus. Literaturnobelpreis 1957.

Kurz nach Veröffentlichung von Der Fall 1956 erhielt Albert Camus den Nobelpreis für Literatur. In der Begründung heißt es u.a. für die hellsichtige Ernsthaftigkeit, mit welcher er die Probleme des menschlichen Gewissens illuminiert habe. Aus den Kreisen der Existentialisten im Zuge der Veröffentlichung seines Buches Der Mensch in der Revolte 1951 ausgestoßen, fand er 1956 zurück zu seiner Stimme. Sein letzter abgeschlossener Roman widersetzt sich bis heute einer einfachen Rezeption. Im Folgenden versuche ich einige Gründe dafür anzugeben, weshalb sich der hastig in wenigen Wochen niedergeschriebene Text bis heute einer konsistenten Interpretation entzieht. Im Zentrum steht die kalte hoffnungslose Welt eines ins Abseits geratenen Anwalts, Johannes Clamans:

Keine Entschuldigung, nie und für niemand, das ist der Grundsatz, von dem ich ausgehe. Ich lasse nichts gelten, weder die wohlmeinende Absicht noch den achtbaren Irrtum, den Fehltritt oder den mildernden Umstand. Bei mir wird nicht gesegnet und keine Absolution erteilt. Es wird ganz einfach die Rechnung präsentiert […] Mein Lieber, Sie sehen in mir einen aufgeklärten Befürworter der Knechtschaft.
Albert Camus aus: „Der Fall“

„Albert Camus: „Der Fall““ weiterlesen

Han Kang: „Die Vegetarierin“

Die Vegetarierin
Die Vegetarierin von Han Kang. Literatur-Nobelpreis 2024.

2024 erhielt die südkoreanische Autorin Han Kang den Nobelpreis für Literatur. Für Die Vegetarierin erhielt sie zudem noch den Man Booker International Prize 2016. Wie Elfriede Jelinek in Die Kinder der Toten, Terézia Mora in Das Ungeheuer, Olgar Tokarczuk in Empusion, verhandelt Kang das brenzlige Verhältnis zwischen der Frau und das sie umliegenden soziale Feld in all seiner Differenziertheit und Gewaltpotentialität. Anders aber als Tokarczuk oder Jelinek, eher ähnlich zu Murata, greift Han Kang auf eine äußerst verdichtete, reduzierte Form zurück. Ihre Sprache strebt Stille, ein Schweigen an, das zwischen den Zeilen unheimliche Dimensionalität entfaltet:

Fünf Minuten, länger kann ich nicht schlafen. Dann ist er wieder da, der Traum. Wenn man ihn denn so nennen kann. In meinem Kopf ist ein Kaleidoskop von wirren Szenen. Die glühenden Augen einer Bestie, Blut, ein offener Schädel, wieder die Augen eines Raubtieres. Der Ausgangspunkt für das alles scheint mein Bauch zu sein. Wenn ich zitternd aufwache, überprüfe ich schnell, ob meine Nägel noch kurz und meine Zähne keine Fangzähne sind.
Han Kang: „Die Vegetarierin“

„Han Kang: „Die Vegetarierin““ weiterlesen

Thomas Mann: „Der Tod in Venedig“

Der Tod in Venedig
Der Tod in Venedig von Thomas Mann. Ein beklemmender Befreiungsversuch.

Der Tod in Venedig von Thomas Mann handelt vor allem von einer künstlerischen Sackgasse und von dem Versuch, ihr zu entkommen. Zentral steht in dieser Novelle der Tabubruch, die Liebe eines fünfzigjährigen Schriftstellers, Gustav Aschenbach, zu einem vierzehnjährigen Jungen namens Tadziou, der als Projektionsfläche dient und jenen so wieder in die Intensität und Wirklichkeit des Lebens zurückführt. Anders als Vladimir Nabokov in Lolita geht es in Der Tod in Venedig weniger um den Vollzug der Lust am wehrlosen Kind und die uneingestandene Schuld am Missbrauch als um das imaginierte Spiel mit dem Abgrund, aus dem eine gewisse künstlerische Praxis ihre Inspiration zieht:

Das war der Rausch; und unbedenklich, ja gierig hieß der alternde Künstler ihn willkommen. Sein Geist kreißte, seine Bildung geriet ins Wallen, sein Gedächtnis warf uralte, seiner Jugend überlieferte und bis dahin niemals von eigenem Feuer belebte Gedanken auf.

Thomas Mann aus: „Der Tod in Venedig“
„Thomas Mann: „Der Tod in Venedig““ weiterlesen

Abdulrazak Gurnah: „Das versteinerte Herz“

Das versteinerte Herz by Abdulrazak Gurnah
Das versteinerte Herz von Abdulrazak Gurnah. SWR Bestenliste 07/2024.

Der neunte von den bislang zehn veröffentlichten Romanen des Nobelpreisträgers für Literatur aus dem Jahre 2021 erschien im Original 2017 und trägt den Titel Das versteinerte Herz, das sowohl auf Shakespeares Drama Maß für Maß und auf Wilhelm Hauffs Das kalte Herz anspielt, weniger auf Arno Schmidts Das steinerne Herz, mit welchem es beinahe den Titel teilt und auch das Thema, nämlich Ehe und Affären, nur ohne Nachwuchs bei Schmidt, ohne Hedonismus bei Gurnah. Das versteinerte Herz Abdulrazak Gurnahs steht ganz im Zeichen von Entfremdung, Entwurzelung, ja persönliche Dissoziierung in Folge fraglich gewordener kultureller Zusammenhänge, hier im postkolonialen Sansibar Tansanias:

Das Foto im Büro des Direktors war auf den Dezember 1963 datiert und damit am Ende des Schuljahres entstanden, kurz vor der Revolution. Kurze Zeit später würde Maalim Yahya seinen Job verlieren und nach Dubai gehen. Seine Frau und die beiden Töchter folgten ihm, mein Vater blieb allein zurück. Sie kamen nie wieder, nicht einmal für einen kurzen Besuch, und so konnte ich mir abgesehen von dem Gruppenfoto kein Bild von der Familie meines Vaters machen. […] Meine Welt bestand aus mir, meiner Mutter und meinem Vater. Die Gesprächsfetzen, die ich als Kind aufschnappte, waren unterhaltsam, aber die darin erwähnten Menschen blieben mir fremd.
Abdulrazak Gurnah aus: „Das versteinerte Herz“

„Abdulrazak Gurnah: „Das versteinerte Herz““ weiterlesen

Gabriel García Márquez: „Wir sehen uns im August“           

Wir sehen uns im August
Wir sehen uns im August … Nobelpreis für Literatur 1982.

Fragment gebliebene Manuskripte faszinieren, aber verstören auch. Die Kommunikation bricht mitten im Satz ab. Der Text verstummt. Es bleiben Lücken, die gewollt oder ungewollt sein können. Im Nachhinein lässt sich, auch bei ausgeklügelster Editionsrecherche, nicht mehr feststellen, wie der Text fertig gestellt worden wäre. Franz Kafkas Das Schloß, Werner Bräunigs Rummelplatz, Friedrich Hölderlins Der Tod des Empedokles, Hermann Brochs Bergroman, Fernando Pessoas Das Buch der Unruhe gehören zu solchen Texten. Je umfangreicher jedoch das Manuskript, desto mehr stellt sich ein Eindruck, eine Tendenz ein. Beim Der Tod des Empedokles, oder Franz Kafkas Der Proceß wirkt die Kürze nach. Gabriel García Márquez‘ Wir sehen uns im August stellt eine Ausnahme dar. Unvollendet und knapp im Umfang wirkt die Struktur nichtsdestotrotz fest und entschlossen:

Es hatte zwei Uhr geschlagen, als ein Donner das Haus bis ins Fundament erschütterte und der Wind den Riegel des Fensters aufdrückte. Schnell schloss sie es wieder, und im plötzlichen Mittagslicht eines weiteren Blitzes sah sie die aufgewühlte Lagune und, durch den Regen hindurch, den riesigen Mond am Horizont und die blauen Reiher atemlos im Sturm flattern.

Gabriel García Márquez aus: „Wir sehen uns im August“
„Gabriel García Márquez: „Wir sehen uns im August“           “ weiterlesen

Ernest Hemingway: „Der alte Mann und das Meer“

Der alte Mann und das Meer
Der alte Mann und das Meer … Nobelpreis für Literatur 1954.

Anlässlich des neu erschienen und das Gesamtwerk abschließenden Romans Wir sehen uns im August von Gabriel García Márquez bespreche ich den Kurzroman Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway, der ebenfalls den Abschluss seines schriftstellerischen Schaffens bildet, als er 1952 erschien. Ursprünglich hätte der kurze Roman, der auch als verfehlte Novelle bezeichnet wird, zum 100. Geburtstag von Herman Melvilles Moby Dick 1951 in den Druck gehen sollen. Im Gegensatz aber zu García Márquez‘ Wir sehen uns im August legte Hemingway noch die letzte Hand an die Ausgabe und das Erscheinen verspätete sich. Wie in Wir sehen uns im August handelt Der alte Mann und das Meer von dem Ringen um Selbstbewusstsein, von dem Wiederfinden von Mut, Kraft und Energie angesichts einer als übermächtig empfundenen Umwelt:

Aber jetzt im Dunkeln und ohne Lichtschein und ohne Lichter und nur mit dem Wind und dem gleichmäßigen Ziehen des Segels hatte er das Gefühl, daß er vielleicht bereits tot sei. Er legte beide Hände aneinander und fühlte seine Handflächen. Sie waren nicht tot, und er konnte einfach, indem er sie öffnete und schloß, den Schmerz des Lebens hervorrufen. Er lehnte den Rücken ins Heck und wußte, daß er nicht tot war. Seine Schultern sagten es ihm.

Ernest Hemingway aus: „Der alte Mann und das Meer“
„Ernest Hemingway: „Der alte Mann und das Meer““ weiterlesen

Herta Müller: „Der Fuchs war damals schon der Jäger“

Der Fuchs war damals schon der Jäger
Der Fuchs war damals schon der Jäger … Literatur-Nobelpreis von 2009

1992 erschien mit Der Fuchs war damals schon der Jäger der erste Roman von Herta Müller, der ebenso die erste Publikation nach ihrer Übersiedlung aus Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland 1987 gewesen ist. In ihrem Romandebüt behandelt Müller das Endstadium einer Diktatur, die ein Land in die Stagnation und das allumfassende gegenseitige Misstrauen gezogen hat. Verhandelt Christoph Hein in Der Tangospieler die letzten Tage der DDR auf erotomanische Weise auf der Insel Rügen und Jenny Erpenbecks Kairos die Wende durch die Augen der Protagonistin Katharina, die zeitgleich das Ende ihrer sadomasochistischen Beziehung zu einem Inoffiziellen Mitarbeiter in Berlin erlebt, so rekonstruiert Herta Müller in Der Fuchs war damals schon der Jäger die letzten Tage der Ceaușescu-Diktatur in Rumänien in Timișoara:

Aus dem Laden, in dem der Mann verschwunden ist, fällt warme Luft auf die Straße. Die Busse blasen hinter sich große Staubräder auf. Die Sonne hängt an jedem Bus, sie fährt mit. An den Ecken flattert sie wie ein offenes Hemd. Der Morgen riecht nach Benzin, und Staub, und durchgetretenen Schuhen. Und wenn jemand mit einem Brot in der Hand vorbeigeht, riecht der Gehsteig nach Hunger.

Herta Müller aus: „Der Fuchs war schon damals der Jäger“
„Herta Müller: „Der Fuchs war damals schon der Jäger““ weiterlesen

Ivo Andrić: „Die Brücke über die Drina“

Die Brücke über die Drina
Vom Verbinden und Vergessen … Literaturnobelpreis von 1961

Was Dublin für James Joyce in Ulysses und Lissabon für Fernando Pessoa in Das Buch der Unruhe, oder Berlin für Alfred Döblin in Berlin—Alexanderplatz, das ist Višegrad und die Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke für Ivo Andrić in Die Brücke über die Drina. Sie gilt als Sinnbild für die Geschichte, das Werden und Vergehen der Vielvölkerstadt an der Grenze zwischen Bosnien und Serbien. Im Gegensatz jedoch zu den anderen Beispielen löst der Literaturnobelpreisträger von 1961 Ivo Andrić Zeit und Raum auf, verleiht nicht einer Figur die Stimme, sondern lässt einen Kessel Buntes, einen kunterbunten Mosaikreigen auf sein Publikum herabrieseln:

Am Sankt-Veits-Tage veranstalteten die serbischen Vereine, wie in jedem Jahre, eine Kirmes auf dem Mesalin. Am Zusammenfluß der Drina und des Rsaw wurden auf dem grünen hohen Ufer unter den dichten Nußbäumen Zelte aufgeschlagen, in denen man Getränke ausschenkte und vor denen Hammel an Spießen über leichtem Feuer gedreht wurden. Im Schatten saßen die Familien, die ihr Essen mitgebracht hatten. Unter einem Dach aus grünen Zweigen spielte schon laut schmetternd die Musik. Auf der festgestampften Fläche wurde bereits seit dem Vormittag Kolo getanzt.

Ivo Andrić aus: „Die Brücke über die Drina“
„Ivo Andrić: „Die Brücke über die Drina““ weiterlesen

Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes“

Die Ballade des letzten Gastes
Die Ballade des letzten Gastes … ein etwas anderer Erlenkönig

In Peter Handkes Die Ballade des letzten Gastes kehrt ein verlorener Sohn heim. Das Thema der Rückkehr, die Odyssee, die ihren Abschluss findet und einen Neuanfang erlaubt, verknüpft Handkes Text, der nicht als Roman ausgewiesen ist, mit Birgit Birnbachers Wovon wir leben und mit Thomas Hettches Sinkende Sterne, der ebenfalls explizit auf Homer eingeht. Handkes Ballade beginnt mit dem Motto:

… Wohin nur könnte ich hinab-hinaus-voranflüchten?
[bei Johann Heinrich Voß übersetzt als: „Wo entflieh ich alsdann?“]

Homer aus: „Odyssee“ [20/43]
„Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes““ weiterlesen

Knut Hamsun: „Hunger“

Hunger
Hunger von Knut Hamsun. Ein Selbstexperiment auf Abwegen … Literaturnobelpreis von 1920.

Typischerweise gilt Knut Hamsun, Literaturnobelpreisträger von 1920, als Wegbereiter für die literarische Moderne. Rhetorisch verklärt heißt es, dass er mit seinem 1890 erschienenen Debütroman eine ganz neue Form des Erzählens, eine völlig auf sich bezogene, sich und seinen eigenen Assoziationen überlassene Erzählfigur antizipiere, die im inneren Monolog und Zwiegespräch, in einer sich selbst beobachtenden Art und Weise die Welt erlebt und von diesem Erleben berichtet. Je nach Perspektive gilt dies aber bereits für den Minnegesang eines Walter von der Vogelweides des Mittelalters (um 1200), für Friedrich Hölderlins Hyperion in der Frühromantik (1797) oder für Die Gesänge des Maldoror von Lautréamont (1874). Horizonterweiternd jedoch erweist sich Hamsuns detaillierte, an die Übelkeit angrenzende physiologische Betrachtungsweise psychischer Vorgänge:

[Der Knochen] schmeckte nach nichts; ein erstickender Geruch von altem Blut stieg von ihm auf, und ich mußte mich sofort erbrechen. Ich versuchte es wieder. Wenn ich es nur bei mir behalten könnte, würde es wohl seine Wirkung tun; es galt, den Magen zu beruhigen. Ich erbrach mich wieder. Ich wurde zornig, biß heftig in das Fleisch, zerrte ein Stückchen ab und würgte es mit Gewalt hinunter. Und es nützte doch nichts; sobald die kleinen Fleischbrocken im Magen warm geworden waren, kamen sie wieder herauf. Wahnsinnig ballte ich die Hände, war vor Hilflosigkeit dem Weinen nahe und nagte wie ein Besessener; ich weinte, daß der Knochen naß und schmutzig wurde von den Tränen, erbrach mich, fluchte und nagte wieder, weinte, als wollte mir das Herz brechen, und übergab mich abermals.

Knut Hamsun aus: „Hunger“ [Übersetzung: Julius Sandmeier]
„Knut Hamsun: „Hunger““ weiterlesen