Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Das unglückliche Bewusstsein“

Vom jubelnden Missverständnis und anderen Bewusstseinsformen.

Hegels Die Phänomenologie des Geistes lässt sich unter vielen verschiedenen Geschichtspunkten untersuchen und lesen. Die meisten wählen einen historischen Weg und sehen in den angegebenen Bewusstseinsstufen wie sinnliche Gewissheit, Verstand, Geist und Vernunft die Weltgeschichte aus europäischer Sicht nachgezeichnet. Andere begreifen die Kapitelabfolge vor allem als erkenntniskritische Selbstreflexion auf Wissen und was zu wissen möglich ist, zumal der Text mit dem absoluten Wissen schließt. Wiederum andere lesen Hegel rein politisch oder moralphilosophisch, vor dem Hintergrund seiner späteren Rechtsphilosophie. Auf diese oder jene Weise geraten seine Texte schnell unter die alles zermalmenden Räder sehr landläufiger, nahezu verfälschender Erwägungen, die mit wenigen Begriffen universalhistorisch argumentieren und ein reiches, in sich differenzierendes Denken unter den Generalverdacht dieses oder jenes Schlagwortes subsumieren. Für Details bleibt bei dieser Textauslegung kein Platz, und sie ignoriert Hegels eigenen Versuch, im Vorwort der Phänomenologie ein solches Subsumieren zu unterbinden:

Denn statt mit der Sache sich zu befassen, ist solches Tun [das Beurteilen und Vergleichen von Resultaten] immer über sie hinaus; statt in ihr zu verweilen und sich in ihr zu vergessen, greift solches Wissen immer nach einem Anderen und bleibt vielmehr bei sich selbst, als daß es bei der Sache ist und sich ihr hingibt. – Das leichteste ist, was Gehalt und Gediegenheit hat, zu beurteilen, schwerer, es zu fassen, das schwerste, was beides vereinigt, seine Darstellung hervorzubringen.

G.W.F. Hegel aus: „Die Phänomenologie des Geistes“ (Vorrede)

Im Folgenden nun eine Detailstudie zum Herzstück der Phänomenologie, zum IV. Kapitel Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst und in diesem zum Unterabschnitt Freyheit des Selbstbewußtseins; Stoicismus, Skepticismus und das unglückliche Bewußtseyn, die vielleicht anregt, Hegel ohne Vorurteil mal wieder selbst zu lesen.

Die Phänomenologie als Gesamtkonstrukt vollzieht grobgesagt den Werdegang eines Denkens aus einem rein äußerlichen, in einen rein innerlichen, von einem entzwei gerissenen und in einen dann wieder, aufgehoben, verbunden-verbindlichen Bewusstseinszustand nach. Diese Stationen werden oft als epochale Schritte der Menschheitsentwicklung gedeutet. In diesem Sinne wäre die sinnliche Gewissheit eine Allegorie der attischen, die Wahrnehmung und die Kraft jedoch die der römischen Antike. Die Wahrheit und Gewissheit könnte dann als christliches Mittelalter, die Vernunft als Renaissance und das Vertrauen in Wissenschaft und Technik, die Aufklärung und Individualisierung jedoch als Aufstieg und Fall des Absolutismus in der Französischen Revolution gemünzt werden, und das Nachspiel als Versöhnung und absoluter Geist abschließend im preußischen Rechtsstaat. Das hört sich konstruiert an und ist es auch. Oft wird Hegel vor diesem Hintergrund vorgeworfen, den Gedanken und die Geschichte in das Prokrustesbett seiner mechanischen Universallogik zu zwingen.  Sein Stil und Text verfahren jedoch anders:

Was für das Bewußtsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtsein[e], die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.  Das Bewußtsein hat erst in dem Selbstbewußtsein, als dem Begriffe des Geistes, seinen Wendungspunkt, auf dem es aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet.

Anders als die meisten anderen philosophischen Texte bleibt die Phänomenologie wie die anderen Schriften von Hegel sehr beschreibungs- und weniger argumentations- oder beweislastig. Ihre Logik ist mehr ein Logos, eine Wortverbindung und -verwendung, mehr ein Bericht als eine Beweis- und Engführung eines streng an die Kandare genommenen Gedankenganges. Wie der Ausschnitt zeigt, folgert Hegel nämlich nicht abstrakt. Wie er in seinem Vorwort schreibt, soll die Überzeugung aus der Beschreibung selbst entspringen. Sie steht vor dem Schreiben nicht fest, vielmehr zielt dieses Schreiben darauf ab, dass sie sich aus einer eigenst unternommenen intellektuellen Entdeckungsreise von alleine, vollständig zwanglos, ergibt. Er zwingt den Begriffen keinen äußeren Syllogismus auf. Das Denken entwickelt sich im sprichwörtlichen Sinne. Es spinnt aus sich heraus die Vernetzungen, Möglichkeiten, die sich aus den assoziativ-angeordneten Begriffen ergeben. Wortwendungen wie „daraus folgt“ oder „deshalb muss“ oder „dies beweist das“ finden sich, wenn überhaupt, dann sehr selten. Hegels Stil bleibt deskriptiv, illustrativ. Er versucht die Gedanken in Bewegung zu bringen, sie tanzen, sich mischen, sich verbinden zu lassen, ohne ihnen das Korsett einer dozierenden Formallogik aufzuzwingen. Anders als sein Ruf diktiert und zwingt er nicht auf. Ein Vergleich mit Arthur Schopenhauer, welcher Hegel wie kaum ein anderer ablehnte, verdeutlicht dies. Im Vorwort zu Die Welt als Wille und Vorstellung steht beispielsweise:

Ein System von Gedanken muß allemal einen architektonischen Zusammenhang haben, d.h. einen solchen, in welchem immer ein Theil den andern trägt, nicht aber dieser auch jenen, der Grundstein endlich alle, ohne von ihnen getragen zu werden, der Gipfel getragen wird, ohne zu tragen. Hingegen ein einziger Gedanke muß, so umfassend er auch seyn mag, die vollkommenste Einheit bewahren. Läßt er dennoch, zum Behuf seiner Mittheilung, sich in Theile zerlegen; so muß doch wieder der Zusammenhang dieser Theile ein organischer, d.h. ein solcher seyn, wo jeder Theil eben so sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen gehalten wird, keiner der erste und keiner der letzte ist, der ganze Gedanke durch jeden Theil an Deutlichkeit gewinnt und auch der kleinste Theil nicht völlig verstanden werden kann, ohne daß schon das Ganze vorher verstanden sei. – Ein Buch muß inzwischen eine erste und eine letzte Zeile haben und wird insofern einem Organismus allemal sehr unähnlich bleiben […]

A. Schopenhauer aus: „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (Vorreden)

In fast jedem Satz von Schopenhauer fällt auf diese oder jene Weise ein Imperativ, im erwähnten Abschnitt das „muß“, das in jedem Satz vorkommt. Hegels Diktion unterscheidet sich augenscheinlich sehr von einem solchen Philosophieren. In ihm möchte das Denken sich den Begriffen, die Begriffe dem Denken anschmiegen. Hegels Denken findet nicht auf Befehl eines Dirigentenstabes statt. Es beginnt irgendwo, läuft, verheddert, überlagert sich, um dann auf beinahe mysteriöse Weise zu einem unvorhergesehen Ergebnis zu gelangen. Das Unvorhergesehene selbst spricht für den Akt des Denkens. Die Überraschung dient beinahe als Beweisersatz für die in Anspruch genommene und ausagierte, sich selbst erlaubte Freiheit des intellektuellen Anschauungsvermögens:

Im Denken bin Ich frei, weil ich nicht in einem Anderen bin, sondern schlechthin bei mir selbst bleibe und der Gegenstand, der mir das Wesen ist, in ungetrennter Einheit mein Fürmichsein ist; und meine Bewegung in Begriffen ist eine Bewegung in mir selbst.

Die Freiheit nicht abstrakt zu behaupten, sie vielmehr sich selbst im Vollzug unter Beweis zu stellen, kennzeichnet Hegels Phänomenologie von Anfang an. Die Erzählung dient nur als Vorschlag, als Anhaltspunkt, eine eigene, sinnerfüllte Sicht zu finden, die auch scheinbar sich gegenseitig ausschließenden Aspekte unter einen Hut zusammenbringen kann. Es gilt nur das geeignete Wort, den Sesam-Öffne-Dich-Begriff zu finden, und das ganze unheilvolle Wesen, als Missverständnis, fliegt fort. Dieses Vorgehen wirft auch, gerade in Bezug auf das Missverständnis, ein Licht auf das unglückliche Bewusstsein, von dem der Unterabschnitt handelt, aus dem die beiden ersten Zitate auch der Reihe nach stammen:

Diese neue Gestalt [das unglückliche Bewusstsein] ist hierdurch ein solches, welches für sich das gedoppelte Bewußtsein seiner als des sich befreienden, unwandelbaren und sichselbstgleichen und seiner als des absolut sich verwirrenden und verkehrenden und das Bewußtsein dieses seines Widerspruchs ist. – Im Stoizismus ist das Selbstbewußtsein die einfache Freiheit seiner selbst; im Skeptizismus realisiert sie sich, vernichtet die andere Seite des bestimmten Daseins, aber verdoppelt sich vielmehr und ist sich nun ein Zweifaches.

Das unglückliche Bewusstsein verbindet den Stoizismus mit dem Skeptizismus als Abfolge einer Abwehrbewegung gegen eine als unwandelbar akzeptierte Welt. Der Stoizismus nimmt hin und versucht das eigene Begehren zu vergessen. Der Skeptizismus negiert alles und versucht sich Erleichterung im Nichtverstehen zu verschaffen. Beide Formen erschöpfen sich in einer Symptombekämpfung. Weder vermag der Stoizismus das Begehren dauerhaft zu überwinden, noch der Skeptizismus dauerhaft der Illusion, nichts zu verstehen, zu unterliegen. Sie pendeln und wechseln sich ab, und dieses Pendeln, als Einheit reflektiert, führt zum Begriff des unglücklichen Bewusstseins, das seine Einheit als Wechselbewegung erkennt und ein stabiles, statisches Gleichgewicht in einer sich dauerhaft verändernden Welt ersehnt:

[…] die Hoffnung, mit ihm [dem Unwandelbaren] eins zu werden, muß Hoffnung, d.h. ohne Erfüllung und Gegenwart bleiben; denn zwischen ihr und der Erfüllung steht gerade die absolute Zufälligkeit oder unbewegliche Gleichgültigkeit, welche in der Gestaltung selbst, dem Begründenden der Hoffnung, liegt. Durch die Natur des seienden Eins, durch die Wirklichkeit, die es angezogen, geschieht es notwendig, daß es in der Zeit verschwunden und im Räume und ferne gewesen ist und schlechthin ferne bleibt.

Die Notwendigkeit des Scheiterns folgt tautologisch aus der Setzung, also aus der unbewussten, unausgesprochenen Erwartungshaltung des unglücklichen Bewusstseins, der Veränderung die Ewigkeit und eine der Zeit enthobenen Existenz entgegenzuhalten. Es ist kein logischer Schluss, nachgerade sein Gegenteil, nämlich ein Ent-Schluss des jeweiligen Weltentwurfs, das ein statisches Gleichgewicht bevorzugt, oder nur eine Form des Gleichgewichtes kennt, nämlich die Mitte, die Statik, die Ruheform des sich kompensierenden Ausgleichs. Es ersehnt einen Zustand, in welchem die Ansprüche und Gegenentwürfe sich von alleine austarieren. Für Hegel jedoch bedeutet dieses Ausgleichen und Aufheben, dass das unglückliche Bewusstsein nicht mit Blick auf das mannigfaltige Leben denkt und handelt, sondern unter Berücksichtigung des Leblosen, Statischen, eines erwarteten Jenseits und Grabes der eigenen Bemühungen urteilt und das Gleichgewicht zu erringen sucht:

Dem Bewußtsein kann daher nur das Grab seines Lebens zur Gegenwart kommen. Aber weil dies selbst eine Wirklichkeit und es gegen die Natur dieser ist, einen dauernden Besitz zu gewähren, so ist auch diese Gegenwart des Grabes nur der Kampf eines Bemühens, der verloren werden muß.

Das widersprechende Motiv liegt im Versuch, ein ortloses Außen zu finden, ein Außerhalb vom Fließen und Bewegen der Dinge, also zu einem festen, für alle Zeiten beständigen Bild und Begriff vom Kosmos zu gelangen, der so harmoniert und versöhnt, dem unglücklichen Bewusstsein die Zufriedenheit gäbe, endlich zuhause angekommen und dem Fluss der Zeit entronnen zu sein. Hegel zeichnet dieses Verhalten behutsam nach. Er geht nicht von außen an diese Zwietracht heran. Er sucht die innere Dynamik. Weder argumentiert noch demonstriert noch urteilt er abstrakt oder von oben herab. Er lässt sich auf den Widerspruch des unglücklichen Bewusstseins ein. Die Die Phänomenologie des Geistes auszeichnende Beschreibungsform ist empathisch:

Das unglückliche Bewußtsein aber findet sich nur als begehrend und arbeitend; es ist für es nicht vorhanden, daß, sich so zu finden, die innere Gewißheit seiner selbst zum Grunde liegt und sein Gefühl des Wesens dies Selbstgefühl ist. Indem es sie für sich selbst nicht hat, bleibt sein Inneres vielmehr noch die gebrochene Gewißheit seiner selbst; die Bewährung, welche es durch Arbeit und Genuß erhalten würde, ist darum eine ebensolche gebrochene; oder es muß sich vielmehr selbst diese Bewährung vernichten, so daß es in ihr wohl die Bewährung, aber nur die Bewährung desjenigen, was es für sich ist, nämlich seiner Entzweiung findet.

Was dem unglücklichen Bewusstsein nämlich fehlt, ist das ausgeprägte Gedächtnis, die Aufhebung und Bewahrung seiner Versuche als inneres Bild einer sinnlich erlebten und vergegenwärtigten Vergeblichkeit. Es bleibt in einer Sisyphusarbeit gefangen. Es vergisst die Fallen, in die es bereits getappt ist, und fällt immer wieder erneut auf sie herein. Es vergisst die Versuche, die unerfolgreich geblieben sind, und vermag deshalb nicht aus dem Teufelskreis auszubrechen. Das Gedächtnis erlaubt dem Verstand eine Vernunft auszubilden, die Voraussetzung für den Geist, um sich dort selbst vor sich und für sich zu spiegeln und aus den eigenen Erlebnissen zu lernen, gestärkt hervorzugehen, also eine Gegenwart zu kreieren, die der sinnlichen Anschauung entgegenzuarbeiten vermag. Will das unglückliche Bewusstsein über sich hinauswachsen, muss es die Erinnerung an die vergeblichen Versuche in der Vergangenheit zum Anlass nehmen, den Teufelskreis durch Verzichtleistung zu durchbrechen, also die Gegenwart im Lichte einer erfassten Vergangenheit zurückzunehmen und neu zu begreifen:

Die Verzichtleistung auf sich konnte es [das unglückliche Bewusstsein] allein durch diese wirkliche Aufopferung bewähren; denn nur in ihr verschwindet der Betrug, welcher in dem inneren Anerkennen des Dankens durch Herz, Gesinnung und Mund liegt, einem Anerkennen, welches zwar alle Macht des Fürsichseins von sich abwälzt und sie einem Geben von oben zuschreibt, aber in diesem Abwälzen selbst sich die äußere Eigenheit in dem Besitze, den es nicht aufgibt, die innere aber in dem Bewußtsein des Entschlusses, den es selbst gefaßt, und in dem Bewußtsein seines durch es bestimmten Inhalts, den es nicht gegen einen fremden, es sinnlos erfüllenden umgetauscht hat, behält.

Die Mnemosyne rettet. Das unglückliche Bewusstsein überwindet sich im Behalten seiner eigenen Versuche und Bemühungen, im Behalten als Gedächtnis und Erfassen seiner selbst. Bei Hegel vermittelt das Denken den Prozess eines zeitlichen Verständigungsvorganges – nämlich Kommunikation. Ganz im Gegensatz zu seinem Ruf zelebriert Hegel also nicht die geschlossene Form und die Determination einer unterstellten Universallogik. Das unglückliche Bewusstsein bleibt nur solange unglücklich, wie es sich und seine eigenen Handlungen und Entscheidungen vergisst. Von Schicksal und Notwendigkeit keine Spur und wenn, dann nur im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung aufgrund einer sich selbst auferlegten Unaufrichtigkeit oder eines mnemonischen Unvermögens. Die letztliche Auflösung des Konfliktes besteht im Bejahen eines dynamischen, sich wiederherstellenden, sich perpetuierenden Gleichgewichts durch die verschiedenen, erinnerten Momente hindurch. Genau dies gelingt dem Bewusstsein am Ende von Die Phänomenologie des Geistes, aber noch nicht am Ende des Kapitels über das unglückliche Bewusstsein, wo es heißt:

Aber für es selbst bleibt das Tun und sein wirkliches Tun ein ärmliches und sein Genuß der Schmerz und das Aufgehobensein derselben in der positiven Bedeutung ein Jenseits. Aber in diesem Gegenstande, worin ihm sein Tun und Sein, als dieses einzelnen Bewußtseins, Sein und Tun an sich ist, ist ihm die Vorstellung der Vernunft geworden, der Gewißheit des Bewußtseins, in seiner Einzelheit absolut an sich oder alle Realität zu sein.

Das Jenseits bleibt noch dem Zeitfluss enthoben, aber befindet sich bereits potentiell als Bewusstsein seiner selbst im Diesseits, um dem Wechselschritt zwischen Genuss und Schmerz die Einheit einer ihrer eigenen Entscheidung bewussten Existenz an die Seite zu stellen, und so leiten diese Sätze das nächste Kapitel mit der Überschrift Gewissheit und Wahrheit der Vernunft ein, in welchem das Denken lernt, sich selbst über die Schulter zu schauen. Der Schlüssel bleibt bei Hegel stets die Eule der Minerva, die Mnemosyne, das Gedächtnis. Ohne dieses bleibt das Bewusstsein den Wechselfällen der Zeit ausgeliefert und im Zustand des unglücklichen Bewusstseins bestehen. Die Hegel-Rezeption bietet ausreichend Beispiele hierfür. Sie vergisst schlicht Ton und Gang und Stil der  Texte von Hegel. Beispielsweise schreibt Ortega y Gasset in seinem Essay Hegel und Amerika aus dem Jahr 1930:

In Hegel haben wir den seltenen Fall eines Erz-Intellektuellen, der gleichwohl mit den seelischen Eigenschaften eines Staatsmannes begabt ist. Autorität, zwingend, hart, konstruktiv. In der seelischen Veranlagung hat er weder mit Platon noch mit Descartes, weder mit Spinoza noch mit Kant das geringste gemein. Dem Charakterformat nach gehört er vielmehr in die Reihe: Caesar, Diokletian, Tschingis Khan, Barbarossa. Und zu diesen Persönlichkeiten zählt er nicht trotz, sondern gerade wegen seines Denkertums. Seine Philosophie ist imperatorisch, cäsarisch, tschingis-khanisch. Und so kam es denn auch, daß er am Ende von seinem Katheder aus den preußischen Staat politisch, ja geradezu diktatorisch beherrschte.

José Ortega y Gasset aus: „Hegel und Amerika“ (GW Bd. 6)

Wie Gasset zu dieser, oft zitierten, Einschätzung kommt, bleibt ein Rätsel. Kaum eine Philosophie bewegt sich auf dünnerem Eis als Hegels. Das ganze Vorhaben würde scheitern, sobald deklamatorisch eine Gewissheit eingeführt würde, die den ganzen Gang einer Bewusstwerdung überflüssig werden ließe. Vielmehr spiegelt sich in der Rezeption der Wunsch wieder, etwas, was sich nur im Vollzug verstehen lässt, nichtsdestotrotz im Resultat zu begreifen. Selbst noch bei Theodor W. Adorno in Skoteinos. Es geht nicht, und doch soll es gehen, und im Sollen, eine Narrationsform, derer sich Hegel vollends entschlägt, entpuppt sich das ganze zum Scheitern verurteilte abstrakte Unterfangen. Oder, wie Emil M. Cioran es am 27. Dezember 1969 in seinem Notizbuch fasst:

Hegel – der am wenigsten gelesene und meistzitierte Philosoph.

E. M. Cioran aus: „Notizen 1957-1972“

Kürzer lässt sich das unglückliche Verstehen und glückliche Missverstehen weder fassen noch erklären. Mit Hegels Philosophie hat es offensichtlich nicht viel zu tun.

3 Antworten auf „Georg Wilhelm Friedrich Hegel: „Das unglückliche Bewusstsein““

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