Vorstufen einer Taxonomie des Romans (ii): Plot

Plot-Kategorien.

Im ersten und vorangegangen Kategorie-Kapitel beschäftigte ich mich mit dem literarischen Stoff. Hier spielte das Wortfeld, das generelle, weitere Thema eine Rolle, also wo wird das Geschehen angesiedelt, um was für eine Welt handelt es sich, welcher Ausschnitt der Welt wird thematisch im Textgeschehen. Ein Beispiel wäre: das öffentliche Miteinander, die sozialen Interaktionen, berufliche Schwierigkeiten, Einflüsse der anderen auf das eigene Leben, aber hier andere, die in keinem verbindlichen sozialen Zusammenhang mit einem stehen, bspw. Kollegen.

Dieser Stoff lässt sich als Medium vorstellen, als Masse, als Gewebe, das träge und entspannt daliegt, mehr oder weniger durch seinen Wortschatz festgelegt und beschreibbar ist. Der Plot nun, dessen Kategorien ich im Folgenden darstellen möchte, dynamisiert den Stoff, bringt ihn dazu, Wellen zu schlagen, sich zu kräuseln, sich zu falten, aufzuwerfen, sich zu dehnen, zu verzerren, sich in der Form zu verändern und mehrdimensional zu werden. Der Plot dynamisiert den Stoff, haucht ihm Leben ein, und zwar durch Ereignisse und Handlungen.

Als Beispiel, Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer: Hier stellt die Natur, der Körper der Figur, das Alter den Stoff dar; die Dynamik aber resultiert aus dem Hunger Santiagos. Er hat nichts mehr zu essen, kein Geld mehr, um sich Nahrung zu kaufen. Er muss einen Fisch fangen. Der Plot besteht aus seinem physischen Ausgeliefertsein, Nahrung für sein Überleben zu benötigen.

Ein anderes Beispiel, Bernhard Schlinks Das späte Leben: Stoff bildet hier das Alter des Protagonisten Martin Brehm und die Ehe und Liebe zu seiner Frau Ulla. Dynamisiert wird diese familiäre Situation einerseits durch den beachtlichen Altersunterschied von 23 Jahren zwischen den beiden, und der Tatsache, dass er eine Krebsdiagnose erhält. Zum physischen Ausgeliefertsein gesellt sich also noch die Problematik von Alt liebt jung, da Martin erkennt, dass seine Frau noch lange nach ihm leben und auch weitere Beziehungen haben wird.

Mittels dieser Unterscheidung lassen sich schnell Romane vergleichen und Parallelen erkennen, bspw. hier zwischen Schlinks Das späte Leben und Michel Houellebecqs Vernichten, zwei Romane, die zwei sehr ungleiche Protagonisten besitzen, aber mittels der Krebsdiagnose den Plot der physischen Ausgeliefertheit teilen, und von dort aus viele Ähnlichkeiten erkennen lassen (Rückzug in den mütterlichen Schoß der Frau, die Suche, die Eifersucht, das Primat der körperlichen Liebe).

Es lassen sich auch überraschende Querverbindungen finden, wie zwischen Hemingways Der alte Mann und das Meer und Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän. Sie besitzen denselben Stoff (Alter/Natur) und auch denselben Plot (physisches Ausgeliefertsein). Auch wenn im Falle von Max Frischs Roman die Bergwelt Figur wird, die Lawinengefahr und mehr die geistige Schwächung (Demenz) als die physische eine Rolle spielt (wie bei Santiago beim Fischen) liegt der Schluss nahe, dass wer Der alte Mann und das Meer mochte, auch an Der Mensch erscheint im Holozän Gefallen finden könnte. Die Parallele zwischen Hemingway und Frisch findet so eine begriffliche, über die Intuition hinaus gehende Schärfe.

Inhalt (Plot):

Als Wortfelder, generelle Themen ließen sich zwölf verschiedene Stoffe ausmachen, die über dreihundert Romane kategorisieren und vergleichbar werden lassen. Nach vielem Hin-und-Her vermochte ich aus zuerst über fünfzig Plotkategorien fünfzehn herauszudestillieren, die ebenfalls die bislang auf Kommunikatives Lesen besprochenen Texte übersichtlich und deutlich charakterisieren. Ich schlage vor, in Folgende Plotfelder zu unterscheiden:

  1. Physisches Ausgeliefertsein
  2. Kosmische Selbstüberschreitung            
  3. Repressive Entsublimierung      
  4. Prekäre Kindheitserfahrungen   
  5. Alt liebt jung
  6. Unerfüllte Liebe/Eifersucht
  7. Liebes- und Reiseabenteuer
  8. Umgarnte Machtmenschen       
  9. Genies und Wahnsinnige
  10. Verhängnisvolles Durcheinander
  11. Soziale Renitenz
  12. Aussteiger/Duldsamkeit
  13. Gewalt/Verbrechen/Krieg          
  14. Welt in Trümmern
  15. Aktivistisches AgitProp

Drei Grundkonstellationen werden in diesen Plotkategorien berücksichtigt: das Individuum für sich genommen, das Individuum mit einem anderen Individuum konfrontiert, das Individuum im Zusammenhang mit seinem sozialen System gelesen.

Für sich genommen sieht sich das Individuum mit den Beschränkungen konfrontiert, die durch seine physische Ausgeliefertheit, was alle Körpereigenschaften und -funktionen umfasst, zustande kommen. Diese Ausgeliefertheit kann dann durch eine kosmische Selbstüberschreitung, die mit den Beschränkungen und Determinanten kreativ verfährt, oder, als Ausflucht, Flucht, durch repressive Entsublimierung zeitweise überschrieben oder überlagert werden, bspw. durch Süchte.

In Zusammenhang mit einem direkten Gegenüber können im Rahmen von Kindheitserlebnissen prekäre Kindheitserfahrungen auftreten, die aus der physischen Unterlegenheit resultieren. Im Erwachsenenalter spielt dann die Liebesproblematik eine dynamische Rolle im direkten zwischenmenschlichen Kontakt: als räumliche Trennung im Liebes- und Reiseabenteuer, als emotionale Distanz in unerfüllte Liebe/Eifersucht oder durch zeitliche Diskrepanzen Alt liebt jung.

Die Freundschaft öffnet nun das soziale Feld, in welchen das Individuum auf umgarnte Machtmenschen und Genies und Wahnsinnige treffen kann oder mit einem verhängnisvollen Durcheinander konfrontiert wird. Gegen dieses Durcheinander kann es sich durch soziale Renitenz behaupten. Aussteiger/Duldsamkeit wären der Versuch, dem Durcheinander auszuweichen, es zu ignorieren, oder es mit Gewalt/Verbrechen/Krieg zu bekämpfen, was schnell zu einer Welt in Trümmern gerät. Ein letzter kommunikativer Akt besteht dann in einem aktivistischen AgitProp, das kaum noch Handlung, mehr Meinung und Interjektion, also Distanznahme zur erlebten Welt enthält.

Bei dieser Unterteilung des Plots spielt die Perspektive des einzelnen Romans eine entscheidende Rolle, sodass bspw. Lolita von Vladimir Nabokov keine prekäre Kindheitserfahrung von Dolores Haze beschreibt, sondern ein Gewalt/Verbrechen von Humbert Humbert, der in Ich-Perspektive von seiner gewalttätigen Neigung spricht und diese zu rechtfertigen sucht. Die genauen Beschreibungen der Kategorien werden im Folgenden präsentiert.

Kategorien:

1.) Physisches Ausgeliefertsein: Jede Form der erfahrenen körperlichen Restriktion, der materiellen Wirklichkeit der Schwäche, der Erschöpfung, der Auszehrung, der drohende Tod, die Krankheit. Hier belebt sich der Text durch den Widerstand, die Reflexion, den Versuch, aus der Abwärtsspirale hinauszugelangen. Sucht ist hier nicht das Problem – äußere, nicht handlungsbezogene Determinanten erscheinen, das Alter, die Krankheit, die von außen erzeugte Ausgeliefertheit den Elementen gegenüber. Dies gilt auch für den Verlust eines nahe stehenden Menschen, so dass der Verlust eine materielle/physische Wirklichkeit besitzt, eine Ausweglosigkeit. Konfrontation mit der Endlichkeit der Kraft, das ist die psychische Wucht des faktisch Erlittenen.

Paradigma: Hermann Broch: „Der Tod des Vergil“; Ernest Hemingway: „Der alte Mann und das Meer

Beispiele

Brief an D.; da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete
Das späte Leben
Das Traumbuch
Der alte Mann und das Meer
Der andere Name
Der erste letzte Tag
Der heutige Tag
Der Mensch erscheint im Holozän
Die Ballade des letzten Gastes
Dschinns
Mama
Unzertrennlich
Vernichten

2.) Kosmische Selbstüberschreitung: Hier steht eine poetische Selbstübersteigerung der Weltwahrnehmung im Vordergrund, die gegen Binnendifferenzierungen protestiert, eine All-Einheit mit dem Kosmos sucht, sich in die Welt, in die Materie hineinfühlt, aufgehen möchte in ein ozeanisches Gesamtempfinden. Hier steht die Poetisierung der Welt im Vordergrund, keine Drogen, keine Exzesse, nur das Auflösen von abstrakten Grenzen, also eine inwendige Reise, die zu einer äußeren wird, sich der Welt öffnend, sich der Welt zeigend, mit der Welt spielend, die Möglichkeiten der Welt nutzend, ohne sie im Todestrieb aufzuzehren (Gegenbild zur repressiven Entsublimierung).

Paradigma: Novalis: „Heinrich von Ofterdingen“; Dante Alighieri: „Die göttliche Komödie

Beispiele

Der große Meaulnes;
Die Aufdrängung;
Die Insel des vorigen Tages;
Drifter; Hyperion;
Prana Extrem;
Über die See;
Malina;

3.) Repressive Entsublimierung: Hier findet eine narzisstische, selbstbezogene Entfesselung und Schädigung von sich und anderen statt, also eine Normen- und Moralübertretung, eine Bejahung von Tabus, eine Herausforderung der Normalität, eine Bekämpfung von Erwartungshorizonten mit aggressiven, gewalttätigen Mitteln, oder aber auch als reine provokative Geste. Vor allem eben das Durchstoßen des Alltags mit obszönen, radikalen, sadomasochistischen, sich an die Grenze bringenden, autosadistischen Mitteln der physischen und psychischen Extreme. Im Grunde jedwedes Ablegen von Grenzen und Fesseln, das Durchbrechen von Codes, ein Auskosten einer autonomen Geste – worin schon von alleine ein Konfliktpotential besteht. Meist in Verbund mit sozialem Abstieg, i.e. kurzfristige Lust gegen langfristige soziale, physische, psychische Interessen. Ein gewisser Genuss muss vorhanden sein.

Paradigma: Donatien Alphonse François, Marquis de Sade: „Justine und Juliette“; Comte de Lautreamont: „Gesänge des Maldoror“; Henry Miller: „Wendekreis des Steinbocks

Beispiele

American Psycho
Aufruhr der Meerestiere;
Blutbuch; Crossroads;
Der Totschläger;
Die Inkommensurablen;
Die Möglichkeit von Glück;
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß;
Ein Sommer in  Niendorf;
Es ist immer so schön mit dir;
Es war einmal in Hollywood;
Eurotrash;
Giovannis Zimmer;
Heroin Chic; Hunger;
Ich stelle mich schlafend;
Kairos; Kochen im falschen Jahrhundert;
Kruso; Liebe in Zeiten des Hasses;
Liebe ist gewaltig;
Liebes Arschloch;
Monstrosa;
Muna;
Paradais;
Professor Unrat;
Rituale;
Trophäe;
Unendlicher Spaß;
Warten auf die Barbaren

4.) Prekäre Kindheitserfahrungen: Hier wird die Kindheit durch einen Vertrauensverlust, durch einen Gewaltakt, eine Übergrifflichkeit herbeigeführt, die kindliche Welt bricht zusammen, das Kind steht vor einem Dilemma, Scherben einer Welt, Gewalt, Verlust, Heimatlosigkeit, Traurigkeit. Es wird mit Verbrechen, mit einer lieblosen Erwachsenenwelt konfrontiert, und sucht Wege, damit umzugehen: Krieg, Verbrechen, übergriffige, abwesende, nicht zugängliche Eltern, Familie, Geschwister, Freunde. Die Dynamik entsteht durch den Widerspruch, naiv einer Welt zuzugehören, von dieser aber ausgeschlossen, abgestoßen, ausgegrenzt zu werden.

Paradigma: Hermann Hesse: „Unterm Rad

Beispiele

Das andere Mädchen;
Das dritte Licht;
Das verlorene Paradies;
Der Silberfuchs meiner Mutter;
Ein rostiger Klang von Freiheit;
Emil und die Detektive;
Gittersee;
Hast du uns endlich gefunden;
Herumtreiberinnen;
Junge mit schwarzem Hahn;
Kaspar;
Lügen über meine Mutter;
Mädchen, Frau etc. ;
Ministerium der Träume ;
Nordstadt;
Radio Sarajevo;
Unterm Staub der Zeit;
Vatermal

5.) Alt liebt jung: Eine ältere Figur verliebt sich, vernarrt sich in, wird verrückt nach einer um viele Jahre jüngeren anderen. Der Abstand beträgt mindestens Jahrzehnte, um den Generationenkonflikt, das Tabuisierte an dieser Beziehung zu bearbeiten, der Versuch, eine Beziehung mit jemanden aufzubauen, der eine ganz anders geartete Kindheit und Jugend gehabt hat, die Entfremdung, oder die Fokussierung auf das rein Körperliche, die Verdinglichung. Der Plot entfaltet sich durch die Problematik der verschiedenen Welten und Erfahrungsbereiche – wie Liebe entsteht, entstehen soll, wie sie sich ermöglicht, verunmöglicht, wenn altersbedingte extreme Ungleichheiten aufeinanderstoßen. Die Problematik impliziert auch eine radikale Infragestellung der Liebenden, vielleicht sogar den völligen Rückzug, i.e. das Transzendieren von zeitlichen Unterschieden.

Paradigma: Thomas Mann: „Der Tod in Venedig“;

Beispiele

Das späte Leben;
Der junge Mann;
Der menschliche Makel;
Der Tod in Venedig;
Echos Kammern;
Es ist immer so schön mit dir;
Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid;
Melody;
Seit dem er sein Leben mit einem Tier teilt;

6.) Unerfüllte Liebe/Eifersucht: Hier entwickelt sich die Dynamik hauptsächlich aus dem Wunsch, dem Begehren nach einem anderen Menschen heraus. Hier handelt es sich um das typische Genre der Romanze mit allem Beiwerk, ohne den abenteuerlichen Aspekt, den das Liebesabenteuer besitzt. Hier bleibt der Ort meist statisch, und die Beziehung problematisch, wohingegen beim Liebesabenteuer die Liebe unproblematisch, der Raum aber trennend wirkt. Liebe inkludiert hier alle pathologischen Formen der Besessenheit, der amourösen Psychopathologien.

Paradigma: Gustave Flaubert: „Madame Bovary“; Johann Wolfgang Goethe: „Die Leiden des jungen Werther

Beispiele

Ansichten eines Clowns;
Crossroads;
Der Kreis des Weberknechts;
Der Pole; Der Tunnel;
Die folgende Geschichte;
Die Leiden des jungen Werther;
Die Nacht unterm Schnee;
Die neuen Leiden des jungen W.;
Die Stunde zwischen Frau und Gitarre;
Es ist immer so schön mit dir;
Flammengeküsst;
Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid;
Kairos; Lichtungen;
Mein Name sei Gantenbein;
Mistral; Stay away from Gretchen;
Was ich nie gesagt habe;
Wir sehen uns im August

7.) Liebes- und Reiseabenteuer: Am ehesten verwandt der Romanze, eine Reise, ein Ereignis, das Treffen von Bekannten und Unbekannten in bekannten oder unbekannten Orten, Reisememoiren, eine Handlung mit Akzent auf Bewegung, Neuerung, Öffnung für das Unbekannte, Geheimnisvolle. Hier spielt das freundlich Fremde eine Rolle, der Mut, sich dem Neuen zu öffnen, das Neue zu wagen. Das Genre besitzt etwas Unschuldiges-Dümmliches-Verworrenes.

Paradigma: Miguel de Cervantes Saavedra: “Don Quijote”; Daniel Defoe: “Robinson Crusoe

Beispiele

Aus dem Leben eines Taugenichts;
Der Ölprinz;
Die Prinzessin von Babylon;
Echtzeitalter;
Hard Land;
Im Farindelwald;
Monschau;
Spitzweg;
Über das japanische Kloster Kozan-ji;
Yoga

8.) Umgarnte Machtmenschen. Hier stehen mächtige Figuren im Zentrum, die schalten und walten, wie sie wollen, unterdessen sich andere um sie herum scharen, sie bewundern, und sich etwas von ihnen erhoffen. Hier gibt es eine gehässige Unterwürfigkeit und Bewunderung, eine Form der mentalen Unterwerfung, ein unentschiedenes Faszinosum, das von diesen Menschen ausgeht, und diese Menschen halten auch den Stoff in Bewegung, ihr Schicksal, ihre Meinung, ihre Art, an die Dinge heranzugehen.

Paradigma: Heinrich Mann: „Der Untertan“;  

Beispiele

Atlas Shrugged;
Der Untertan;
Die Kandidatin;
Dunkelblum;
Herz der Finsternis;
Krass; Lichtspiel;
Melody; Mindset;
Nachmittage;
Noch wach?;
Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna;
Tauben im Gras

9.) Genies und Wahnsinnige. Hier besteht der Plot in einer sehr reduzierten, spezialisierten Weltsicht, einer Dynamik durch Exklusion, Verrückung, durch anomales Verhalten, aus der Reihe tanzen, Größenwahnsinnige, Exoten, die durch ihre Leidenschaft und ihr Steckenpferd in Konflikt mit ihrer Umwelt geraten, oder Individuen, die an einer Geisteskrankheit leiden. Eine gewisse Aggressivität gehört in diese Kategorie. Sie hat nichts Drolliges, Freundliches. Es handelt sich nicht um einen liebevollen Exoten, sondern um gewisse Abgründe, die sich in der Inselbegabung durchsetzen und zeigen.

Paradigma: Stefan Zweig: „Schachnovelle“;  Joris-Karl Huysmans: „Gegen den Strich“; Fjodor Michailowitsch Dostojewski: „Der Idiot

Beispiele

Aufzeichnungen eines Serienmörders;
Baumgartner;
Bebuquin;
Der Kreis des Weberknechts;
Der neunte Arm des Oktopus;
Der menschliche Makel;
Der Zorn des Oktopus;
Die andere Seite;
Dirac;
Kaspar; Maniac;
Mindset;
Red Pill;
Schachnovelle

10.) Verhängnisvolles Durcheinander. Hier besteht ein größerer, meist politischer, kulturell weiterer Zusammenhang, das in Chaos, Leid, Verwirrung und Missstimmung stürzt. Im Gegensatz zur entsagenden Duldsamkeit besitzt dieser Plot eine Mannigfaltigkeit, die über das Individuelle hinaus geht – nicht so sehr eine einzelne Person steht im Vordergrund als eine Stimmung, eine Atmosphäre, eine gewisse allgemeine Bewegtheit, die einen Zeitgeist, eine Zeit, einen Ort in seiner Gesamtheit und Zerworfenheit darstellt, i.e. eine kollektive, allgemeine Form der Duldsamkeit, eine soziale Dissoziation.

Paradigma: Gabriel Garcia Marquez: „Hundert Jahre Einsamkeit

Beispiele

Birobidschan;
Das Land der Anderen;
Das Ungeheuer;
Das Versprechen;
Der falsche Gruß;
Der Schlaf in den Uhren;
Die andere Seite;
Die Anomalie;
Die blaue Frau;
Die Brücke über die Drina;
Die Krume Brot;
Die Nächte der Pest;
Fabian;
Guldenberg;
Kairos;
Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna;
Rot und Schwarz;
Schicksal;
Serge; Trottel;
Violeta

11.) Soziale Renitenz: Hier entwickelt sich aufbegehrendes Verhalten gegen äußere Zwänge, gegen Verbote, gegen Ausschlüsse, eine Form des Protestes, eine Rebellion, aber gegen eine klar ausgewiesene Fremdbestimmung, also jedweder Widerstand gegen Eingrenzung, Ausgrenzung, gegen Bevormundung, ohne dass eine Form von physischer Gefahr für andere in der angestrebten Freiheit ausgeht. Soziale Renitenz speist sich aus zivilem Ungehorsam, Frechheit, Aufbegehren, spielerischem Ausweichen oder klar ausgewiesenem Protestieren, aber in Bezug auf ein individuelles Begehren, nicht unbedingt als repräsentativer Akt, vielleicht auch, aber nicht ausgehend von einem Allgemeinen, sondern eben von diesem je Besonderen, i.e. das Besondere gegen das Allgemeine.

Paradigma: Sophokles: „Antigone“; Christa Wolf: „Kassandra

Beispiele

153 Formen des Nichtseins;
22 Bahnen;
Am Gletscher;
Angabe der Person;
Annette, ein Heldinnenepos;
Antigone;
Atlas Shrugged;
Das Ereignis;
Dass die Erde einen Buckel werfe;
Der belgische Konsul;
Der Fuchs war schon damals der Jäger;
Der Tangospieler;
Der Untergeher;
Die Fremde;
Die göttlichen Kindchen;
Die Rache ist mein;
Echos Kammern;
Franziska Linkerhand;
Ist hier das Jenseits, fragt Schwein;
Junge mit schwarzem Hahn;
Klara und die Sonne ;
Lektionen in dunkler Materie;
Lord Jim;
Maman;
Menschenkind;
Middlemarch;
Ministerium der Träume ;
Pünktchen und Anton;
Rummelplatz;
Später; 
Unser Deutschlandmärchen;
Vom Aufstehen ;
Wo der spitzeste Zahn der Karawanken …;
Zukunftsmusik;

12.) Aussteiger/Duldsamkeit/Bucolica: Eine gewisse Aura der Unabhängigkeit. Äußerliche Erwartungshorizonte werden hingenommen, aber nicht übernommen. Es findet kein Protest, aber auch keine Unterwerfung, eher ein Ausweichen statt. Es werden kleine Refugien gebaut, kleine Ausweichmanöver, Übersprungshandlungen, Kompensationen. Alternativen werden gesucht, Möglichkeiten werden ausgelebt, ausprobiert, Ausnahmesituationen herbeigeführt, eher tote Winkel im Weltgesamtgeschehen. Kurze Räume des Aufatmens für die Figuren, wo sie sich ihrer besinnen, neuen Mut schöpfen, i.e. Selbstimmunisierungsstrategien.

Paradigma: Hermann Hesse: „Narziss und Goldmund“; Fernando Pessoa: „Das Buch der Unruhe“; Franz Kafka: „Die Verwandlung

Beispiele

Blaues Blut;
Daheim ;
Das Café ohne Namen;
Das Erbe;
Das glückliche Geheimnis;
Der Brand;
Der erste letzte Tag ;
Der Markisenmann;
Der Tod des Empedokles;
Die Enkelin;
Die Nacht unterm Schnee;
Die neuen Leiden des jungen W.;
Diese ganzen belanglosen Dinge;
Dschinns;
Ein Sommer in Niendorf;
Empusion;
Griechischstunden;
Hunger;
Im Auge der Pflanzen;
Kruso;
Maman;
Montauk;
Nebenan;
Rituale;
Sinkende Sterne;
Stiller;
Tunnel;
Was ihr nicht seht;
Winters Garten ;
Wovon wir leben;
Yoga;
Zandschower Klinken;
Zeiten der Langeweile;
Zur See

13.) Gewalt/Verbrechen/Krieg. Aus der Sicht der Tat, derjenigen, die Gewalt anwenden, eine Beschreibung von Verbrechen, von Gewalt, von Zerstörung, die nicht erlitten, die begangen wird. Hier auch typische Genre-Romane, Gewalt, die faszinieren soll, die den Eklat erbringt, den Stoff vorwärts treibt. Gewalt als Mittel angewandt, um den Stoff interessant zu gestalten, oder um der Ausweglosigkeit zu entkommen, als letztes Mittel der Selbstbehauptung.

Paradigma: Emile Zola: „Die Bestie im Menschen“; Ernst Jünger: „In Stahlgewittern

Beispiele

American Psycho;
Das Erbe von Winterfell;
Der Heimweg;
Der Thron der sieben Königreiche;
Der Tunnel;
Die Bestie im Menschen;
Die Herren von Winterfell;
Die Verlorenen;
Herz der Finsternis;
Lolita;
Menschenkind;
Schattenfuchs;
Trophäe

14.) Welt in Trümmern. Bezeichnet Chaos, das um sich greift, das soziale System in die Grundfesten hinein erschüttert, durch Wetterkatastrophen, Krieg, durch die Folgen von Krieg, von Bürgerkriegen, wenn alles zweifelhaft, in der Schwebe, in Trümmern liegt, alles zerbröckelt, und diese Welt kurz vor dem Verschwinden steht. Ein sehr allgemeines, kein Schicksal eines Einzelnen – um sich greifende Zerstörung im zivilisatorischen Ausmaße.

Paradigma:  Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: „Simplicissimus Teutsch

Beispiele

Atlas Shrugged;
Blue Skies;
Ein von Schatten begrenzter Raum;
Rombo;
Tauben im Gras;
Um mich herum Geschichten;
Vatermal; Winters Garten;
Zu zweit

15.) Aktivistisches AgitProp. Verhängnisvolles Durcheinander nur ohne wirklichen Plot, oder Figurenzeichnung, ein Kessel Buntes voller Meinungen und Assoziationen, tatsächlich eher eine Art Kollage, eine Zeitgeistnotiz mit nur rudimentärem Versuch, Charakter zu zeichnen, eher unpersönliche Pamphlete, Hetzereien, Anekdoten, Literatur als Interjektion, Intervention, als Dokument, als Performance. Kennzeichnend eine sehr große Distanz zu den Figuren, sehr abstrakt, sehr schematisch, sehr Schwarzweiß-Freund-Feind-Denken.

Paradigma: Henry David Thoreau: „Walden”; Peter Handke: “Publikumsbeschimpfung

Beispiele

Der Mann, der Donnerstag war;
Die Erweiterung;
Die Woche;
Eine runde Sache;
Irre; Liebes Arschloch;
Mädchen, Frau etc.;
Minihorror;
Publikumsbeschimpfung;
RCE;
Red Pill;
Über Menschen;
Zwischen Welten

Anhand dieser Plot-Kategorien werde ich nun zunehmend versuchen, neue Querverbindungen und Parallellektüren zu verwirklichen. Im Sinne der Taxonomie steht als nächstes die Komposition an, also die Analyse und Kategorien der Erzählinstanz und Komposition, die bislang noch nicht berücksichtigt worden sind. Ich freue mich über Anregungen und Kommentare!

11 Antworten auf „Vorstufen einer Taxonomie des Romans (ii): Plot“

  1. Sandra von Siebenthal – Künstlerin und Kreativkost mit Hang zur Philosophie, die der Überzeugung ist, dass Kunst nicht nur schönes Beiwerk ans menschliche Leben, sondern dessen Elixier und tiefster Sinn ist.
    Sandra von Siebenthal sagt:

    Was du hier als Plot erklärst, hätte ich eher Thema genannt.

    Wieder eine sehr analytische Herangehensweise. Ich bin beeindruckt von deiner Sorgfalt, deiner sachlichen Disziplin.

    Ich staune immer wieder, wie viele herangehensweisen es an die Literatur gibt. Ich merke grad, wie dankbar ich bin, habe ich in einer Zeit Literaturwissenschaft studiert, in der Literatur nicht ganz so technisch beurteilt wurde. Mir wäre die Freude abhanden gekommen. So blicke ich nun mit staunendem Blick in (fast) fremde Welten des Lesens.

    Danke für diese Einblicke!

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ja, inwiefern Plot/Sujet/Thema/Fabel … da bin ich nicht sicher, ich denke, deshalb habe ich es zu erklären versucht, wie ich das anwende. Ich denke auch, dass wir sehr ähnlich lesen. Ich lasse mich völlig auf den Text ein, lasse ihn wirken, gehe da ziemlich unverkrampft heran – aber im Nachhinein organisiere ich gerne meine Gedanken und Gefühle zu dem Text, und dann versehe ich ihn noch mit ein paar Kennzeichen, dass ich nicht nach zwei Jahren völlig vergessen habe, was ich da las. Mir geht es also nur um Gedächtnisorganisation mit den Kategorien, und um bessere Vergleiche herstellen zu können, mehr im Text zu sehen, im Nachhinein. So analytisch ist das gar nicht gemeint 🙂 Danke fürs Lesen!

      Hast du irgendwelche Grundlagenbücher für die Literaturwissenschaft, die du mir empfehlen könntest?

      Viele Grüße!

  2. Ich bin auch sehr beeindruckt frage mich aber, ob wirklich alles, was ich jemals gelesen habe – und das ist eine ganze Menge – in diese Kategorien hineinpasst. Diese Frage werde ich im Auge behalten …

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Genau deshalb poste ich das ja! Ich würde mich über Kritik freuen, Erweiterungen, Anregungen, außer ist eine interaktive Tabelle geplant, auch mit Begründungen, so dass sich ähnliche Titel finden lassen, und zudem mein Gedächtnis und mein Tiefenstruktur-Lesen befeuern können. Ich habe tatsächlich alle Titel (ohne Krampf und Verfälschung) unterbringen können – es hat leider sehr lange gedauert und die Kategorien haben sich sehr oft geändert. Jetzt habe ich aber ein Stand erreicht. Danke fürs Interesse, liebe Myriade! Es sieht wie ein Witz aus, war aber super anstrengend (und mir wurde wieder bewusst, wie schnell ich Bücher und ihren Inhalt zu vergessen drohe). 🙂 Viele Grüße!

      1. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass dein Projekt super anstrengend ist ! Ich bin eine Strukturiererin und es fasziniert mich ungemein, wenn es manchmal gelingt in irgendeiner Disziplin die Welt in brauchbare Kategorien einzuteilen. Ein anderer Anteil von mir wünscht sich, dass das nicht möglich ist. Aber ich werde dranbleiben und überlegen, ob sich meine letzten und nächsten Lektüren eingliedern lassen. Ich habe mir zu diesem Zweck deine Kategorien ausgedruckt

      2. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
        Alexander Carmele sagt:

        Das ist nett! Danke fürs Mitforschen! Auch berücksichtigen, dass es stets eine Gewichtung des Hauptplots ist und die Perspektive, aus der erzählt wird, maßgeblich berücksichtigt wird. Im übrigen bereite ich noch Strukturen und Kategorien für die Erzählstimme und -situation vor. Auch interessant (aber mein Kopf qualmt, erst mal Beine hochlegen 🙂

      3. Ah Erzählperspektiven finde ich auch sehr spannend. Freue mich schon, wenn du mit den Beinen dann wieder herunten bist 🙂

  3. Ja, Wahnsinn, da machst du dir aber echt Mühe.

    Dass du aus über 50 Kategorien 15 machen konntest, finde ich mega. Daran würde ich direkt scheitern.

    Finde das Projekt sehr interessant und werde es verfolgen.
    Trotzdem irgendwie beruhigend, dass du ‚ganz normal‘ liest, bevor du den Text dann so einordnest usw. 🙂

    1. Alexander Carmele – Ich lese gern, reise viel, laufe Langstrecken, studiere, lerne und bin wissbegierig und interessiert an neuen Erfahrungswelten. Studiert, am Arbeiten, Hobbydenker, Freizeitsportler, offen für moderne Unterhaltung aller Art. Germanistik, Physiker, und blogge herum.
      Alexander Carmele sagt:

      Ja, ich versaue mir doch nicht den Lesespaß. Nee, die Analyse kommt stets nachher, nach der Immersion. Die Kategorien helfen nur dem Gedächtnis, sodass nicht immer alles verschwimmt und in Vergessenheit gerät – bspw. denke ich, das habe ich doch schon mal irgendwo gelesen, und nun bieten mir die Kategorien Hilfstützen, diesen Eindruck zu untermauern. Die Kategorien auszubaldowern hat gedauert, ich bin meine Liste immer wieder durchgegangen und habe Zuordnungen verändert, bis sie sich gut zusammenfassen ließen. Naja, halt so ein Hobby 😁 Danke für die Nachricht! Viele Grüße!!

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