Skandalbücher besitzen etwas sehr Zeitgebundenes. Sie antworten auf einen Zeitgeist, der aufschrickt, entsetzt zurückweicht. Bald schließen sie daraufhin die Lücke, die dem Zeitgeist bewusst geworden ist, um langsam in Vergessenheit zu geraten oder etwas verstaubt vor sich hin zu altern. Oh Boy: Männlichkeit*en heute oder Michel Houellebecqs Romane wie Unterwerfung stehen gegenwärtig für diese Form Pate. Vor ein paar Jahren gab es bspw. Charlotte Roches Feuchtgebiete, noch länger her Bret Easton Ellis‘ American Psycho und dann, irgendwann, kommt, kurz vor Erich Kästners Fabian. Die Geschichte eines Moralisten auch schon Vladimir Nabokovs Lolita (1955):
Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta. Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand, Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.
Vladimir Nabokov aus: „Lolita“
Inhalt/Plot:
Humbert Humbert, der Protagonist von Nabokovs Lolita, 1910 in Paris geboren, verliebt sich mit dreizehn in die gleichaltrige Annabel Leigh, mit der er eine Sommerliebe an der Riviera verbringt. Diese niemals körperlich vollzogene Liebe, die durch den frühzeitigen Tod Annabels im gleichen Jahr als ewig unvollendet besiegelt wird, prägt Humbert zeitlebens. Er wird, ungeachtet seines Alters, stets nach Annabel und einem ihr ebenbürtigen Ersatz suchen. Er findet ihn schließlich in Dolores Haze in Ramsdale, New England, nachdem sein Versuch, sich in einer konventionell geführten Ehe von seinen Begierden zu heilen, scheitert und er das Erbe seines reichen, in den USA verstorbenen Onkels antritt:
Die Formalitäten der Scheidung verzögerten meine Abreise, und die Düsternis eines weiteren Weltkrieges hatte sich auf den Erdball gesenkt, als ich nach einem langweiligen Winter in Portugal, wo ich eine Lungenentzündung durchmachte, endlich in den Staaten landete. In New York nahm ich mit Freuden den leichten Job an, den das Schicksal mir bot: Er bestand hauptsächlich darin, Parfumanzeigen zu ersinnen und zu redigieren. Das Seichte und das Pseudoliterarische daran sagten mir zu, und sooft ich nichts Besseres zu tun hatte, widmete ich mich dieser Aufgabe.
Das Bessere besteht in seiner ihn innerlich verzehrenden Gier nach vorpubertären Mädchen, die er Nymphchen nennt, und denen er heimlich im Central Park und überall, wo er nur kann, auflauert und begafft. Seine Gier treibt ihn in den Wahnsinn. Nach einigen Sanatoriumsaufenthalten erhält er die Möglichkeit, zu einer Familie nach Ramsdale zu ziehen und in unmittelbarer Nähe zu ihrer zwölfjährigen Tochter zu leben. Er nimmt das Angebot sofort an mit dem Vorhaben, dort seine mehrbändig angelegte ‘Vergleichende Geschichte der französischen Literatur für englischsprachige Studenten‘ zu beenden. Doch das Haus der besagten Familie brennt ab. Um Humbert nicht zu enttäuschen, vermitteln sie ihn an Charlotte Haze, die einen Mieter für ein freies Zimmer in ihrem Haus sucht. Humbert ist von diesen Aussichten alles andere als begeistert und überlegt bereits abzureisen:
Ich tastete nach dem Kursbuch, das ich in der Tasche hatte, und angelte es verstohlen heraus, um so schnell wie möglich nach dem nächsten Zug zu sehen. Ich ging noch immer hinter Mrs. Haze her durch das Eßzimmer, als es plötzlich grün um uns her wurde. «Die Piazza», sang meine Geleiterin, und ohne die geringste Warnung schwoll eine blaue Meereswelle unter meinem Herzen, und auf einer Binsenmatte in einem Sonnenteich kniete halbnackt meine Rivieraliebe, drehte sich auf den Knien zu mir her und sah mich über dunkle Brillengläser forschend an.
Dolores, die zwölfjährige Tochter, bringt alle Voraussetzungen mit, Annabel endlich leibhaftig zu ersetzen. Fortan wird sich im Leben von Humbert Humbert alles nur noch darum drehen, mit Dolores Sex zu haben. Er heiratet sogar ihre Mutter, um in ihrer Nähe bleiben zu können, die jedoch durch Humberts Aufzeichnungen von seinen Begierden erfährt und ihn alsbald vor die Tür zu setzen versucht. Bevor sie ihren Plan jedoch in die Tat umsetzen kann, kommt sie bei einem Autounfall ums Leben. Dolores, die unterdessen in einem Ferienlager erste sexuelle Erfahrungen mit Gleichaltrigen sammelt, weiß davon nichts. Humbert fährt schnell los und sammelt sie unter Angabe falscher Tatsachen ein:
[Dolores] setzte sich neben mich in den heißen Wagen, erschlug eine flinke Fliege auf ihrem entzückenden Knie; dann kurbelte sie, während ihr Mund energisch einen Kaugummi bearbeitete, rasch das Fenster an ihrer Seite herunter und lehnte sich wieder zurück. Wir fuhren durch den sonnengestreiften und gefleckten Wald.
«Wie geht’s Mama?» fragte sie höflich.
Ich sagte, die Ärzte wüßten noch nicht recht, was ihr fehle. Jedenfalls etwas Gastrointestinales. Was garstig Infernalisches? Nein, Intestinales. Wir müßten eine Weile in der Nähe bleiben. Die Klinik sei auf dem Lande, nahe der fröhlichen Stadt Lepingville, wo ein großer Dichter des frühen neunzehnten Jahrhunderts gelebt habe und wo wir uns alle Filme ansehen würden. Sie fand, das sei ein toller Plan, und fragte, ob wir noch vor neun Uhr abends in Lepingville wären.
Daraufhin entspinnt sich für Humbert das Paradies auf Erden. Von allen Menschen abgeschnitten, befindet sich Dolores nun völlig in seiner Hand, und er lebt aus, was er seit Jahrzehnten auszuleben gedenkt und nennt sie unaufhörlich ‚Lolita‘. Ihr Heulen und Schluchzen kümmern ihn wenig. Er missbraucht sie weiter. Überschüttet sie mit Geschenken, um sie stillzustellen, fährt sie hin, wohin sie will, solange sie ihm nur sexuell gefügig bleibt. Als das Geld zur Neige geht, nimmt er eine Dozentur in Beardsley an. Dort löst sich Dolores nach und nach aus Humberts Klauen, nimmt an einem Theaterstück teil, spart Geld und stellt Humberts Handlungsweise mehr und mehr in Frage:
Lolita, die nah beim Feuer gelesen hatte, rekelte sich und fragte mit erhobenen Ellbogen und einem Grunzen: «Wo ist sie eigentlich begraben?» – «Wer?» -«Na du weißt schon, meine ermordete Mutter.» – «Und du weißt, wo ihr Grab ist», sagte ich und nahm mich zusammen, nannte ihr aber dann den Friedhof – gleich außerhalb von Ramsdale, zwischen den Eisenbahngleisen und dem Hügel, von dem aus man den See sieht. «Im übrigen», fügte ich hinzu, «sollte man die Tragik eines solchen Unfalls nicht durch ein Beiwort wie jenes entwürdigen, das du anzuwenden für angemessen hieltest. Wenn du wirklich geistig über den Gedanken an den Tod zu triumphieren wünschst…» -«Bravo», sagte Lo und verließ matt das Zimmer, und ich starrte lange mit vor Tränen schmerzenden Augen ins Feuer.
Was immer sich Humbert auch vorgestellt hat, nämlich eine Heirat mit Dolores und die Zeugung von Nympchen mit ihr, stellt sich als infernalisches Hirngespinst heraus. Dolores verabscheut ihn. Als sie sich wieder auf einem Roadtrip befinden, büchst sie aus und verschwindet. Erst Jahre später erhält er einen Brief, in welchem sie um Geld bittet. Er fährt zu ihr und bettelt sie an, wieder mit ihm zu kommen. Sie lässt ihn aber abblitzen. Es hat nur einen Mann in ihrem Leben gegeben, nicht Humbert, nicht ihr jetziger Ehemann, nein, ein Schriftsteller namens Clare Quilty, an dessen Theaterstück sie mitgewirkt hat:
[…] sie redete, aber ich hörte nicht zu, versunken in meinen goldenen Frieden -, diesen goldenen und monströsen Frieden wiederzugeben, den mir diese logische Stimmigkeit verschaffte und den jetzt selbst mein feindseligster Leser empfinden sollte. Sie redete, wie ich sagte, immer noch. Jetzt war es ein entspannter Redestrom. Er sei der einzige Mann, nach dem sie je verrückt gewesen sei. Und Dick? Ach Dick, der sei ein Schatz, es sei das vollkommene Eheglück, aber sie meine etwas anderes. Und ich hätte natürlich nie gezählt?
Mehr muss Humbert nicht hören. Er gibt ihr das Geld und plant seine Rache, die ihn letztlich ins Gefängnis bringt, und aus dem heraus er seine Lebensgeschichte schreibt, die „Humbert“ heißen müsste und nicht „Lolita“, denn Dolores taucht in diesem Roman nur sehr kurz auf:
[Dolores] betrachtete mich, als begreife sie auf einmal die unglaubliche-und irgendwie langweilige, verwirrende und unnötige – Tatsache, daß dieser ferne, elegante, schlanke, vierzigjährige, kränkliche Herr in der Samtjacke, der da neben ihr saß, jede Pore und jeden Follikel ihres halbwüchsigen Körpers gekannt und vergöttert hatte. In ihren blaßgrauen, fremdartig bebrillten Augen spiegelte sich sekundenlang unsere arme Liebe wider, wurde abgewogen und verworfen wie eine öde Party, wie ein verregnetes Picknick, zu dem nur die größten Langweiler gekommen waren, wie eine schale und lästige Übung, wie eine Kruste trockenen Schlamms, der ihrer Kindheit anhaftete. Knapp gelang es mir, mein Knie mit einem Ruck aus der Reichweite eines angedeuteten Klapses zu bringen – eine ihrer neuerworbenen Gesten. Sie sagte, ich solle mich nicht so anstellen. Vorbei sei vorbei. Ich sei ein guter Vater gewesen, glaube sie – das billigte sie mir zu.
Stil/Sprache/Form:
Nabokovs Roman stellt die Ereignisse aus Humberts Ich-Perspektive dar. Er schreibt in der Untersuchungshaft, zieht seine eigenen Aufzeichnungen zurate, gibt Briefe aus dem Gedächtnis wieder und beurteilt Situationen, die sich ereignet haben, nun aus der Retrospektive. Die Glaubwürdigkeit der Erzählinstanz bleibt aber von Anfang an gebrochen. Die Konstruiertheit des Romans, und dadurch auch seine Artifizialität, zeigt sich in der unplausiblen, inkohärenten Erzählform:
Nicht auszudenken, daß sie vor der Wahl zwischen einem Hamburger und einem Humburger sich prompt und mit eisiger Unfehlbarkeit für jenen entschiede. Nichts ist grausamer als ein vergöttertes Kind. Habe ich schon den Namen der Milchbar erwähnt, in der ich da eben gewesen war? Ausgerechnet Königin Frigida hieß sie. Ich lächelte ein bißchen traurig und nannte Lolita meine Prinzessin Frigida. Sie verstand meinen wehmütigen Scherz gar nicht. O Leser, runzle nicht die Brauen; ich habe nicht die Absicht, den Eindruck zu erwecken, als hätte ich es nicht geschafft, glücklich zu sein.
Humbert nämlich, so wie er schreibt, erscheint unwirklich, undurchschaubar, verschroben, launisch. Er gleicht einem kulturanthropologischen Flickenteppich, der lose die möglichen Assoziationen über sexuelle und literarische Zusammenhänge darbietet, eher wie ein Clown, Harlekin oder Gaukler. Seinem Bericht Glauben zu schenken, heißt ihn misszuverstehen. Er improvisiert. Er jongliert. Er fabuliert Zeugs, das er im Nachhinein nicht einmal mehr selbst auseinander halten kann.
[…] Ich merke, daß ich zwei Begebenheiten durcheinandergebracht habe, meinen Besuch in Briceland mit Rita auf dem Weg nach Cantrip und unsere Fahrt durch Briceland auf dem Rückweg nach New York, doch solch ein Ineinanderlaufen nasser Farben soll der Künstler, der Gedächtniskünstler nicht verschmähen.
[…] Sie und der Hund begleiteten mich hinaus. Ich war überrascht (eine rhetorische Figur, ich war es nicht), daß der Anblick des alten Autos, in dem sie als Kind und als Nymphchen gefahren war, sie so gleichgültig ließ.
Der typische unzuverlässige Erzähler erreicht in Lolita von Nabokov einen absurden Grad. Inexistent als Figur bleiben die Sätze allesamt unverbindlich und beliebig. Die Handlung tritt über weite Strecke deshalb auf der Stelle, weil der sogenannte Ich-Erzähler ein sich seiner selbst unbewusstes Konstrukt bleibt, das weder die Fäden in der Hand hält, noch sich selbst versteht, noch sich leiden kann.
Statt dessen bin ich der schlaksige, starkknochige, wollbrüstige Humbert Humbert mit dichten schwarzen Augenbrauen, einem komischen Akzent und einer Senkgrube voll faulender Ungeheuer hinter seinem langsamen jungenhaften Lächeln.
Unterstrichen wird diese Form des konstruierten, an den Haaren herbeigezogenen, unempathischen Erzählens für die eigene, selbstgewählte Erzählinstanz durch absurde Adjektivkonstruktionen und ins Leere gehende Beschreibungen, die die Szenarien in tausend Einzelteile zerlegen, ohne eine Stimmung erzeugen zu können. Es handelt sich bei ihnen um gewollt-surrealistisch-avantgardistische Worthäufungen:
In selenischem Schimmer, wahrhaft mystisch in seinem Gegensatz zu der mondlosen, massiven Nacht, hob auf einer gigantischen, abgeschrägten Leinwand inmitten dunkler, schläfriger Felder ein dünnes Phantom eine Waffe, und der schräge Winkel dieser entweichenden Welt machte die Gestalt wie ihren Arm zu zitterndem Spülwasser -und im nächsten Augenblick war die Gebärde von einer Baumreihe verdeckt.
Die Parodie geht dann nicht auf. Nabokovs Erzähler verspielt direkt von Anfang an jedwede Plausibilität und vermag diese nicht durch schattenhafte Assoziationszusammenhänge und lyrische Verweisdimensionen zu ersetzen. Er führt dies selbst darauf zurück, dass er zu diesem Zeitpunkt gezwungen gewesen sei, in einer Sprache, nämlich Englisch, zu schreiben, die ihm noch nicht bis in die innerste Faser seiner Dichtkunst hinein vertraut gewesen wäre:
Meine private Tragödie, die niemanden etwas angehen kann, ja niemanden angehen sollte, besteht darin, daß ich mein natürliches Idiom aufgeben mußte, meine ungebundene, reiche und unendlich gefügige russische Sprache, um sie gegen eine Art zweitklassiges Englisch einzutauschen, welchem alle jene Requisiten abgehen -der Trickspiegel, der schwarzsamtene Hintergrund, die mitschwingenden Assoziationen und Traditionen-, deren sich der heimische Illusionist mit wehenden Frackschößen bedienen kann, um bei seinen Kunststücken das Erbe auf ganz eigene Weise zu transzendieren.
Vladimir Nabokov aus: „Über ein Buch mit dem Titel «Lolita»“
Kommunikativ-literarisches Resümee:
Nabokovs Lolita kommuniziert offensichtlich mit einer europäischen Kulturtradition, der er nicht viel abgewinnen kann. Hierzu gehört vor allem Thomas Mann, den er in seinen Vorlesungen, teilweise publiziert als Die Kunst des Lesens, „Scharlatan“ nennt oder wie folgt abkanzelt:
[Franz Kafka] ist der bedeutendste deutschsprachige Schriftsteller unseres Zeitalters; im Vergleich zu ihm sind Lyriker wie Rilke und Romanciers wie Thomas Mann Zwerge oder Gipsheilige.
Vladimir Nabokov aus: „Die Kunst des Lesens“
Die Parallelen von Lolita mit Thomas Manns Der Tod in Venedig (1912) liegen dennoch klar auf der Hand. In beiden Texten reisen ältere Schriftsteller in ein anderes Land, verlieben sich in ein präpupertäres Kind. Beide Protagonisten sind wohlhabende Rentiers, aber todkrank. Beide sterben. Beide sehnen sich nach dem ewigen Jungbrunnen, der ihnen die Liebe, das Begehren zum Kind verheißt, und leiden unter Schreibhemmungen und allgemeinem Kulturverdruss. Hinzugesellt sich André Gides Der Immoralist, erschienen 1902, der ebenfalls das Thema Pädophilie bearbeitet und diese wie bei Thomas Mann als Befreiungsgeste von als zu eng empfundenen gesellschaftlichen Konventionen insbesondere hinsichtlich der Ehe inszeniert.
Vor diesem Hintergrund lässt sich Lolita von Nabokov als Parodie von Gustav Aschenbach und Gides Protagonist Michel verstehen. Der Blick Aschenbachs auf Tadziou lässt sich mit dem Humberts auf Dolores direkt vergleichen:
Sein honigfarbenes Haar schmiegte sich in Ringeln an die Schläfen und in den Nacken, die Sonne erleuchtete den Flaum des oberen Rückgrats, die feine Zeichnung der Rippen, das Gleichmaß der Brust traten durch die knappe Umhüllung des Rumpfes hervor, seine Achselhöhlen waren noch glatt wie bei einer Statue, seine Kniekehlen glänzten, und ihr bläuliches Geäder ließ seinen Körper wie aus klarerem Stoffe gebildet erscheinen. Welch eine Zucht, welche Präzision des Gedankens war ausgedrückt in diesem gestreckten und jugendlich vollkommenen Leibe!
Thomas Mann aus: „Der Tod in Venedig“
Es war das gleiche Kind – die gleichen zerbrechlichen, honigfarbenen Schultern, der gleiche seidige, geschmeidige nackte Rücken, der gleiche kastanienbraune Haarschopf […] Dort legte sich meine kleine Schönheit auf den Bauch und zeigte mir, zeigte den tausend weitoffenen Augen in meinem sehenden Blut ihre leicht angehobenen Schulterblätter und den hauchzarten Flaum entlang der Einbuchtung des Rückgrats und die Rundung ihres straffen, schmalen, schwarz bekleideten Gesäßes und den Strand ihrer Schulmädchenschenkel.
Vladimir Nabokov aus: „Lolita“
Als literaturwissenschaftliche Parodie überzeugt Nabokovs Lolita, aber verliert den literarischen Charakter vollends. Der infantile Erzähler, der sich zurückzieht, blendet die Welt aus. Alles wird impressionistisch, beliebig, langatmig und trägt nicht zur Figurenentwicklung bei. Im Gegensatz zu Gustav Aschenbach und Michel durchläuft Humbert Humbert nämlich keinen Prozess. Das vernichtende Urteil steht von Anfang an fest. Richard Rorty schreibt dazu:
Nabokovs großartigste Schöpfungen sind Zwangsneurotiker – Kinbote, Humbert Humbert und Van Veen –; Nabokov hasst sie alle […] Humbert ist, sagt Nabokov, »ein eitler, grausamer Schuft […]«
Richard Rorty aus: „Kontingenz, Ironie und Solidarität“
Und so handelt es sich bei Lolita um eine versuchte Dekonstruktion des abendländischen Dekadent, der auf Schritt und Tritt durch Kakao überzogen wird. Das Buch versucht sich am Münchhausenstück, den Täter durch die Täterperspektive zu überführen, was lediglich die Glaubwürdigkeit des Textes untergräbt. Glaubwürdig wäre einzig Dolores Perspektive auf Lolita gewesen, die jedoch hat Vladimir Nabokov ausgespart. Dass er sie noch nach der Geburt eines toten Mädchens sterben lässt, erscheint dann nur noch, wie das ganze Buch, als ein reines Nachtreten.
tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung gibt es hier.
Außerplanmäßig werde ich ab und zu Besprechungen zu Klassikern posten. In diesem Zuge soll nach und nach mein ein Kanon an Leben und Inhalt gewinnen.
Andere aktuelle und Klassiker-Kurzrezensionen findet sich vorab bereits hier.

Oh, gerade Zeit für (moderne) Klassiker? 🙂
Ich flechte gerne abundzu ein paar Klassiker ein, die ich als Vergleichsgröße heranziehe. Heute hat Tod in Venedig mit Lolita gut zusammengepasst, fand ich. Ich werde vielleicht demnächst wieder mehr Klassiker lesen, um einen neuen, anderen Blick auf die Gegenwartsliteratur werfen zu können. Welche (moderne) Klassiker empfiehlst du mir noch? Ich bin gespannt 🙂 Viele Grüße aus Berlin!
In einem ganz neuen Buch wird „Lolita“ häufig erwähnt:
Neige Sinno „Trauriger Tiger“
Gruß von Sonja
Tatsächlich bin auf das Buch auch gestoßen. Ist es ähnlich? Lesenswert? Ich kenne die Autorin Neige Sinno nicht. Wäre sehr gespannt auf ein paar Eindrücke! Danke für den Hinweis! 🙂
‚Lolita’ steht schon lange auf meiner Leseliste, gerade wegen dieses wohl prototypisch „unzuverlässigen Erzählers“. Du scheinst da eher skeptisch zu sein … allerdings hätte ich vermutet, dass darin gerade der Reiz des Buches liegt. Ich muss es mir echt mal vornehmen …
Ja, bitte, und dann hau mir meine Besprechung um die Ohren. Ich war sehr ernüchtert, aber vor allem wegen der hakeligen Sprache, habe selbst das Original konsultiert. Ich fand’s kompositorisch, und auch vom „high-noon“-Faktor am Ende irgendwie schräg. Leider, aber ich lasse mich gerne überzeugen 😁🌻