Thomas Melle: „Haus zur Sonne“

Haus zur Sonne von Thomas Melle. Shortlist Deutscher Buchpreis 2025.

Sanatorien üben scheinbar ob der Exklusivität und Zurückgezogenheit, der Ähnlichkeit zu einer Klausur, auf die Literaturwelt eine besondere Faszination aus. Immer wieder kehrt dieser Topos von Thomas Manns Der Zauberberg zurück: in der US-amerikanischen Literatur bspw. in Sylvia Plaths Die Glasglocke oder in Ken Keseys Einer flog übers Kuckucksnest; in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dagegen in Dieter Fortes Auf der anderen Seite der Welt oder ganz neu in Rhea Krčmářovás Monstrosa oder Heinz Strunks Zauberberg 2. International hat die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk mit Empusion kürzlich das Thema bearbeitet. Nach seinem Erfolgsroman Die Welt im Rücken (2016), der bereits auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, kehrt Melle zu dem Thema bipolare Erkrankung in Haus zur Sonne zurück. In dem neuen Roman will der von seiner Bipolarität ausgelaugte Ich-Erzähler vorzeitig aus dem Leben scheiden und findet vom besagten Haus ein vielversprechendes Prospekt:

Verarschung, Verarschung, Verarschung, so sortierte ich einen [Flyer] nach dem anderen aus […] und die größte Verarschung war schließlich, so schien es, der letzte Flyer. »So nicht weiter?«, stand da in fetten Lettern, und darunter gleich: »Wir machen es anders! [..] Das Pilotprojekt zur Lebensverbesserung, Traumverwirklichung, Selbstabschaffung […] Auf unserem Wellness-Gelände können Sie in aller Abgelegenheit Ihre Lebensträume verwirklichen. Gefragt sind lediglich Sie als Person, mit allem, was Sie mitbringen – und mit allem, was Sie hinter sich lassen wollen. Sprechen Sie einfach Ihren Fallmanager an.«
Thomas Melle aus: „Haus zur Sonne“

Inhalt/Plot:

Der namenlos bleibende Ich-Erzähler befindet sich zu Erzählbeginn in einem tiefen Loch. Nach einer ruhigen Schaffensphase mit einigem Erfolg durch ein Buch über bipolare Erkrankung, nach Theaterprojekten und einer mehr oder weniger stabilen Liebesbeziehung, gerät er durch soziale Medien, insbesondere anlässlich einer Debatte um die Literaturnobelpreisverleihung an Peter Handke in eine manische Phase, die ihn im Nachhinein zu tiefst beschämt:

Erneut ergriff mich eine fiese Paranoia, ich war nicht mehr zu berechnen, die Welt war wieder die fremdeste, und dennoch hatte ich viel zu viel Energie in mir, die ich in falsche, nichtige Kanäle und Aktionen pumpte, und das für Monate und, anschwellend und abschwellend, für mehr als zwei Jahre. Ich wurde wieder verrückt und blieb es, und die Grundfesten meines Lebens waren weg, das Geld, die Beziehungen, der Ruf, das Leben.

Es wird aus dem Roman Haus zur Sonne allein nicht ersichtlich, was alles so in den zwei Jahren schiefgegangen ist. Der Vorgang scheint autobiographisch angelegt zu sein, denn tatsächlich hat Thomas Melle 2019 von einem „Schauprozess“ in seinem Artikel Clowns auf Hetzjagd gesprochen und dadurch eine Menge Kritik wie Zuspruch provoziert. Völlig nebulös bleiben aber die Auswirkungen auf seinen Beruf als Schriftsteller, Freund und Lebensgefährte, denn nach zwei Jahren liegt sein Leben plötzlich in Schutt und Asche. Er fühlt sich nicht mehr in der Lage, die normalsten Dinge im Alltag zu verrichten, bspw. einkaufen, aufräumen, aufstehen oder sich waschen. Zum Schreiben fehlt ihm völlig der Fokus. Sein Bekanntenkreis nimmt von ihm Abstand. Höhepunkt muss ein gewisser Farbtopf-Inzident gewesen sein, der sich wie eine Zäsur zwischen ihm und seinem Ich-Davor legt. Trotz mehrmaligen Erwähnens bleibt auch dieser Inzident mehr angedeutet als ausformuliert:

Ich wollte eigentlich nicht, aber ich erzählte [Vera] als Beispiel die Begebenheit mit den Farben. »Dann bist du halt mal in einen Topf voll Farbe gefallen. Und?«, sagte sie.
»Und? Und bin so durch die Gegend gelaufen, habe Leute bedroht, wurde festgenommen! Das sind einfach die Taten eines Verrückten, eines echten Verrückten! Ich bin dessen so müde«, sagte ich. »Und davon gibt es tausend Beispiele. Es ist wirklich zu viel und zu zerschossen, und ich bin einfach nicht mehr der Mensch, der ich einmal war. Ich hab alles verloren, alles, außen und innen. Ich bin erloschen.«

Hier ergibt sich sofort und sehr anschaulich das wohlbekannte literaturwissenschaftliche Problem des „Darstellen statt erzählen“ oder das „Show, don’t tell“ des US-amerikanischen Stückeschreibers Mark Swan, der 1927 in seinem Buch „How You Can Write Plays“ Folgendes als Grunddivise seiner Profession schrieb:

Beim Anlegen von Charakterisierung, Motivation und Beziehung gilt: nicht darüber reden, sondern zeigen. Drücke diese Dinge in gespielten Szenen aus, nicht in Erzählung oder Beschreibung.
Mark Swan aus: „How you can write plays“

Heutzutage aber bekannter durch folgendes Zitat:

Vor vierzig Jahren lehrte uns Percy Lubbock, daß „die Romankunst erst da beginnt, wo der Romanschriftsteller sich mit dem Gedanken trägt, seine Geschichte darzustellen, ja, sie so zu präsentieren, daß sie sich selbst erzählt.“
Wayne C. Booth aus: „Die Rhetorik des Erzählens“

Im Falle von Melles Roman Haus zur Sonne müsste die Verlorenheit, die Orientierungslosigkeit und der Lebensüberdruss der erzählenden Hauptfigur aus der Handlung heraus deutlich werden, aus sich repetierenden Dialogen, Versuchen, aus mühevollen Beschreibungen seiner Exzesse und den Nachwehen dieser Exzessen innerhalb seines sozialen Umfeldes hervorgehen als dadurch, dass er lediglich auf jeder dritte Seite schreibt, dass er keine Lust mehr habe zu leben, leer und tot sei, sich überflüssig und kaputt, krank, missverstanden und unwohl in seiner Haut fühle. Hauptanteil des Textes bleiben aber diese Selbstbeschreibungsversuche, die niemals ins Beschreiben, stets ins Erklären, Verweisen, ja lediglich ins Behaupten münden:

Würdelos, ja, dachte ich später als imaginäre Antwort, wie hätte ich denn würdevoll bleiben können, nach all den Katastrophen? Ich hatte ja versucht, alles hinzubiegen, alles einzutüten und abzupacken und neu zu formatieren, alles auch zu überschreiben, ohne dass der Palimpsestcharakter meines Lebens unsichtbar geworden wäre. Ich hatte alles offen hingelegt, hatte mich resozialisiert, mich erklärt, mich und meine Krankheit betrachtet und analysiert, hatte auch das Allgemeine meiner Störung versucht auszuleuchten und verständlich zu machen, hatte gewartet und gehadert und gehofft. 

Weder wird aus dem Text ersichtlich, was für Katastrophen noch wie er versucht hat, sie wieder hinzubiegen. Haus der Sonne bleibt in dieser Hinsicht hochabstrakt, wie auch in Bezug auf die Figuren, von denen der Ich-Erzähler einige in diesem Institut trifft und die alle ihre spezifischen Probleme mit sich tragen, bspw. eine Vera, die bald erblinden wird und diese Vorstellung nicht erträgt; oder Laurenz, der sich umoperieren lässt, um endlich seinem Selbstbild zu entsprechen. Durchbrochen werden diese kurzen Szenen von induzierten Träumen, deren Ursprung ebenfalls unklar bleibt, also maßgeschneiderte Phantasien, die dem Ich-Erzähler helfen sollen, Abschied von seinem Leben zu nehmen. Im Stoffbereich Körper-Geist-Bewusstsein angesiedelt, ergibt sich eine periphere Dynamik durch Aussteiger/Duldsamkeit.

Vollständige Inhaltsangabe mit Spoilern hier.

Stil/Sprache/Form:

Zwei Beobachtungen legen den Text stilistisch fest, einerseits als Ich-Erzählung in der Retrospektive, denn die Erzählinstanz berichtet im Präteritum und überlebt insofern all das, was auf diese Weise im Roman Haus zur Sonne erzählt wird und was die Spannung um das Schicksal des zum Sterben verurteilten Protagonisten empfindlich schmälert; andererseits die äußerst lakonische, relativierende, herumlavierende Erzählweise, die ein Ich inszeniert, das sich seiner unsicher bleibt, sich in Floskeln und Phrasen ausdrückt und im Grunde x-mal um den heißen Brei herumschleicht, bis er ihn schließlich dennoch vor Angst, sich den Mund zu verbrennen, stehen lässt:

Es geht nämlich leider nicht, diese Phasen ganz von sich abzutrennen. Das rächt sich vielleicht sogar. Denn dieses war, wenn auch zerschossen, mein Leben. Dies war meine Geschichte und eben auch meine Kontinuität. Eine völlig zerhackte, diskontinuierliche Kontinuität, und doch – sie verlief linear, trotz aller Lücken, Haken und Katastrophen, und ich musste mich ihr aussetzen, alles mitnehmen ins Selbstbild, in den Versuch der Erklärung, in den Entwurf einer personalen Einheit.

Paradoxer lässt sich eine Selbstbeschreibung kaum durchführen. Es findet ein ständiger Wechsel zwischen Stetigkeit-Unstetigkeit und Kohärenz-Inkohärenz statt. Vom Thema hier gleicht Haus zur Sonne in vielerlei Hinsicht Sylvia Plaths Die Glasglocke. Es handelt sich um eine Erzählinstanz, die den Lebenswillen verliert, die in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert wird, wo ihr Elektroschocks und Medikamente verabreicht werden und trotzdem die Hoffnung auf Genesung weiterhin bestehen bleibt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Texten liegt nicht im exzessiven Gebrauch des Pronomens der ersten Person Singular und seiner Varianten. Plath verwendet auf 70642 Wörtern 5142 (7,2%), Melle hingegen auf 75656 Wörtern lediglich 5085 Formen (6,7%). Auffällig aber hier, dass Melle selten den Dativ verwendet, das Ich als Ort des Geschehens, der Erduldung, als Verbindlichkeitsträger einsetzt, Plath hingegen sehr oft (fast 100% mehr als Melle):

Doktor Gordon befestigte zwei Metallplatten an beiden Seiten meines Kopfes. Mit einem Band, das sich mir in die Stirn einschnitt, schnallte er sie fest und gab mir einen Draht zu beißen. Ich schloß die Augen. Es trat eine kurze Stille ein, wie ein Atemanhalten. Dann kam etwas über mich und packte und schüttelte mich, als ginge die Welt unter. Wii-ii-ii-ii-ii schrillte es durch blau flackerndes Licht, und bei jedem Blitz durchfuhr mich ein gewaltiger Ruck, bis ich glaubte, mir würden die Knochen brechen und das Mark würde mir herausgequetscht wie aus einer zerfasernden Pflanze. Ich fragte mich, was ich Schreckliches getan hatte.
Sylvia Plath aus: „Die Glasglocke“

Die sehr ähnlich gelagerten Texte unterscheiden sich auch in der Häufigkeit von Negationen, adversativen Wendungen und Relativierungen und Abschwächungen, die bei Melle in Haus zur Sonne doppelt so häufig vorkommen. Hierdurch gerät die Erzählinstanz stark ins Schwimmen. Sie verliert als Ort der Verbindlichkeit an Boden und verunklart sich noch weiter durch Abschwächungen und Negationen, sodass sich schwerlich ein Bild von ihr ergibt.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Neben den offensichtlichen Bezügen auf die bereits genannten Romane, kommuniziert Thomas Melles Roman Haus zur Sonne vor allem mit zeitdiagnostischen Texten wie Thomas Hettches Sinkende Sterne. In beiden Fällen gerät ein Protagonist aus ihm unklaren Gründen ins Abseits. In beiden Fällen suchen sie ihr Glück in der Abgeschiedenheit, in der Klausur. In beiden Fällen kommen gesundheitliche Krisen vor und homoerotische Phantasien werden gepflegt:

‚Ich bin Niemand‘, heißt es bei Homer, in der arabischen Variante fehlt dieser Satz. Weshalb? Geschichten, die übereinandergelegt werden können, Übersetzen und Schreiben und Dschamīls Blick. Was hatte ich mir von ihm versprochen? Und welches Versprechen nicht gehalten? Das bleiche Lila der wächsernen, durchscheinenden Herbstzeitlosen im trockenen Gras, ihre Becher auf den fleischfarbenen Stielen kamen blattlos direkt aus der Erde. Die Gattung der Zeitlosen ist giftig, echote es in meinem Kopf, als wäre das eine Warnung.
Thomas Hettche aus: „Sinkende Sterne“

Das Niemand-Sein, das Verschwinden, aber das Unterwerfen einer Sprache gegenüber, das Verschmelzen mit anderen im Rausch, auf Partys, in Schweizer Chalets, auf Kreuzfahrtschiffen, diese Phantasien werden auch bei Thomas Melle verwendet, neu zusammengesetzt und weitergetrieben. Die Sehnsucht nach Schönheit und Unversehrtheit –  beide Protagonisten fühlen sich eher dick und alt, beide fühlen sich zu jüngeren Männern hingezogen – bricht sich bei ihnen bahn und will über das Brüderliche hinaus:

Ich hauchte ihm einen Kuss auf, roch, dass er nach nichts roch, spürte, dass er wirklich schon kühler war als jeder lebendige Mensch. Aber es war nur ein Bruderkuss. Es reichte nicht. Das spürte wohl auch er, denn nun nahm er mein Kinn sachte in die Hand, damit ich mich nicht wegbewegte, wandte sich mir zu und setzte seine Lippen auf die meinen. Ich öffnete meinen Mund, und unsere Zungen berührten sich fragend. Ohne Gier, fast ohne Lust küssten wir uns nun lange, wie zur Einübung in eine Unsterblichkeit, wie als Zeichen eines großen Einverständnisses, unglaublich harmonisch. Dann lösten wir den Kuss, und ich sah die Entscheidung in seinen Augen aufblitzen.

Wie in Sinkende Sterne mit Marietta gibt es aber auch in Haus zur Sonne eine starke Frauenfigur, Vera, beide erreichen die jeweiligen Protagonisten nicht. Sie befinden sich jedoch auf einer anderen, selbstbezogenen, introvertierten Ebene. Sie bleiben in einer Art Traum, nebulös, auf eine abstrakt-reduzierte Weise vergeistigt, verklausuliert, empfindlich und peinlich darauf besessen, auf Distanz zur Welt zu bleiben. Genauso lesen sich diese Texte, nämlich mehr als Metakommunikation, als Geheimbriefe an Vertraute, als Geheimsprache, die über das Gros des Publikums hinweg seine Adressaten schon finden wird. Wer nicht dazugehört, schaut dagegen bis zum Ende etwas in die Röhre.

tl;dr … eine Kurzversion der Lesebesprechung, aber mit detaillierter Inhaltsangabe findet sich hier.

In den folgenden Wochen stelle auf Kommunikatives Lesen die Shortlist des Deutschen Buchpreises vor. Bislang erschienen:

Dorothee Elmiger: „Die Holländerinnen“ [9. September]
Christine Wunnicke: „Wachs“ [16. September]
Jehona Kicaj: „ë“ [23. September]
Thomas Melle: „Haus zur Sonne“ [28. September]

Es fehlen noch [Links gehen zur Kurzrezension]:
Fiona Sironic: „Am Samstag gehen die Mädchen …“ [3. Oktober]
Kaleb Erdmann: „Ausweichschule“ [8. Oktober]

Am 12. Oktober 2025 werde ich dann meine Prognose und mein Fazit zum Buchpreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 2025 ziehen. Hier finden sich die Fazits der jeweilig letzten Jahre: 2024, 2023 und 2022.

Die Kurzversion findet sich bald hier und auch andere aktuelle Kurzrezensionen.

Eine Antwort auf „“

Kommentar verfassenAntwort abbrechen

Entdecke mehr von Kommunikatives Lesen

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen

Die mobile Version verlassen
%%footer%%