Ina Kramer: „Im Farindelwald“

Im Farindelwald
Utopisch auf Hermesflügeln des Erzählens.

Das phantastische Element gehörte von Anfang an zu den Mitteln der Literatur. Sagen und Anekdoten, Legenden und Abenteuer erlaubten, ja beförderten das Freischweifen der Imagination, das poetische Entriegeln und Tagträumen der Ernst Bloch‘schen utopischen Sinne. Es reicht an Ovids Metamorphosen, Homers Odyssee, an Dante Alighieris Göttliche Komödie oder Miguel de Cervantes Saavedras Don Quijote zu erinnern. Sie enthalten phantastische Elemente, die oftmals viel näher an Fantasy-Literatur neuerer Prägung wie J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe oder C.S. Lewis Die Chroniken von Narnia reichen, als üblicherweise angenommen wird. Auf eine gewisse Weise hat Fantasy viel mehr mit der klassischen Literatur gemein als Werke, die sich in ihrer direkten und sie auch zitierende Nachfolge sehen wie Siegfried Lenz Die Deutschstunde, Martin Walsers Ein fliehendes Pferd oder bspw. Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns, die allesamt dokumentarisch-prosaisch realistisch verfahren. Genre-behaftete Romanreihen, die üblicherweise nicht zur anspruchsvollen Literatur gezählt werden, warten deshalb unter Umständen mit Überraschungen auf. Ein Beispiel ist Ina Kramers Roman Im Farindelwald, der in der Reihe Das Schwarze Auge 1996 erschien:

Sie hörte die Träume des jungen Blaufalken, der am gestrigen Tag zum ersten Mal sein Nest verlassen hatte, sie hörte die Gedanken der alten Esche, aus dem ewigen Kreislauf der Jahreszeiten, aus Wachsen und Beharren gewoben. Sie spürte die Neugierde und Ungeduld des Bächleins und das Lied der unsichtbaren Wesen, die in ihm und an seinen Ufern wohnten, und sie atmete die ruhigen Atemzüge der Erde.

Ina Kramer aus: “Im Farindelwald”
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Annie Ernaux: „Der junge Mann“

Der junge Mann
auf den Spuren des eigenen Ichs … Spiegel Belletristik Bestseller (08/2023)

Die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux setzt die Tradition der französischsprachigen Biographen fort. Hier lässt sich sofort an das Tagebuch der Gebrüder de Goncourt denken, oder an Michel Leiris Die Spielregeln. Noch näher wären Jean-Jacques Rousseaus Bekenntnisse, selbstredend Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder aber auch die verstreuten Reminiszenzen eines Claude Simon wie in Die Akazie, Jardin des Plantes oder Das Haar der Berenike. In ihrem neuesten und sehr kurzen Text Der Junge Mann reflektiert Ernaux noch einmal eingehend, fast aphoristisch das Erinnern und das Schreiben des Erinnern selbst. Das Motto von Der junge Mann lautet so auch konsequenterweise:

Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe,
sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen,
sondern wurden nur erlebt.

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Robert Musil: „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
… von der Verklärung des eigenen Selbst

1906 erschien das Debüt von Robert Musil, als dieser sich noch als Volontärassistent an der Technischen Hochschule Stuttgart verdingte und alsbald zum Studium der Philosophie, Psychologie, Mathematik und Physik in Berlin einschrieb. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß blieb Musils einzig vollendeter Roman, da von Der Mann ohne Eigenschaften, sein zweiter Roman, 1930 nur der erste Teil erschien und Musil diesen vor seinem Tod 1942 nicht zu vollenden vermochte. Das steht im Zusammenhang mit seinem literarischen Ansatz der psychologischen Mikroskopierung, die schnell ins Ausufernde gerät. In Die Verwirrungen des Zöglings Törleß jedoch konzentrierte er seinen Stil bis aufs Äußerste:

Er hatte das Bedürfnis, rastlos nach einer Brücke, einem Zusammenhange, einem Vergleich zu suchen – zwischen sich und dem, was wortlos vor seinem Geiste stand. Aber sooft er sich bei einem Gedanken beruhigt hatte, war wieder dieser unverständliche Einspruch da: Du lügst. Es war, als ob er eine unaufhörliche Division durchführen müsste, bei der immer wieder ein hartnäckiger Rest heraussprang, oder als ob er fiebernde Finger wundbemühte, um einen endlosen Knoten zu lösen. Und endlich ließ er nach. Es schloss sich eng um ihn, und die Erinnerungen wuchsen in unnatürlicher Verzerrung.

Robert Musil aus: “Die Verwirrungen des Zöglings Törleß”
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Juli Zeh, Simon Urban: „Zwischen Welten“

Zwischen Welten
Im Räderwerk der Eitelkreiten … Spiegel Belletristik-Bestseller (08/2023)

Der bekannteste Briefroman in deutscher Sprache ist bislang Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers geblieben. Zu den hervorragenden Eigenschaften dieser Romangattung gehört, die Inszenierung, scheinbar in Echtzeit ablaufende Vorstellung von Authentizität. Das Publikum darf sich angesprochen fühlen. Es ist Teil eines privaten Vorganges, einer intimen Geschichte, die sich vor den eigenen Augen entfaltet. Zumeist, um das Erlebnis zu steigern, wird eine auktoriale, die Schriften herausgebende und kommentierende Stimme zugeschaltet. Diese bestätigt vor allem, dass das, was zu lesen ist, der Wahrheit entspricht und vom Publikum skrupellos verfolgt werden darf. Dieses Stilmittel findet in Juli Zehs und Simon Urbans E-Mail- und Whatsapp-Roman Zwischen Welten keine Anwendung. Das Publikum gehört zu einer Art Nachrichtendienst, der ungefragt die Aufzeichnung zweier Privatmenschen tickerartig aufzeichnet. Der Roman beginnt, indem er mit der Tür ins Haus fällt:

17:22 Uhr, Stefan per E-Mail:
Hallo Theresa!
Trotz meines WhatsApp-Terrors von heute Morgen keine Nachricht von dir. Das kann man konsequent nennen. Oder sadistisch. Diese Seite an dir ist neu. Aber ich habe ja gestern Abend viel Neues entdeckt. An dir und an mir.

Juli Zeh, Simon Urban aus: “Zwischen Welten”
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Hermann Hesse: „Narziß und Goldmund“

Narziß und Goldmund
Auf Schusters Rappen … Nobelpreis für Literatur 1946.

In der Gegenwartsliteratur steht die Mutter oft nicht hoch im Kurs. In Annika Brüsings Nordstadt und Claudia Schumachers Liebe ist gewaltig hassen die Figuren sogar explizit die Mutter. In Toril Brekkes Ein rostiger Klang der Freiheit und Daniela Dröschers Lügen über meine Mutter lässt sich bestenfalls von einer erzählerischen Ambivalenz sprechen, die Geschehenes im Nachhinein wiedergutzumachen versucht. In Annie Ernaux‘ Das andere Mädchen liebt die Mutter die Ich-Erzählerin nicht genug, und in Kim de l’Horizons Blutbuch geraten die Mutter und Großmutter zeitweilig gar zu “Monstren”. Vor diesem Hintergrund ist es eine willkommene Abwechslung in Hermann Hesses Narziß und Goldmund eine andere Art von Erinnerung an die Mutter zu lesen:

Nie in meinem Leben habe ich jemand so geliebt wie meine Mutter, so unbedingt und glühend, nie habe ich jemand so verehrt, so bewundert, sie war Sonne und Mond für mich. Weiß Gott, wie es möglich war, dies strahlende Bild in meiner Seele zu verdunkeln und allmählich diese böse, bleiche, gestaltlose Hexe aus ihr zu machen, die sie für den Vater und für mich seit vielen Jahren war.

Hermann Hesse aus: “Narziß und Goldmund”
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Annika Büsing: „Nordstadt“ [Das Debüt 2022]

Die Stimmen zu Annika Büsings Debütroman Nordstadt konstatieren einhellig, um es mit literaturundfeuilleton zu sagen: „eine flotte, unverblümte Sprache, die der prävalent vorherrschenden Gewalt voranschreitet.“ Büsing thematisiert prekäre soziale Konstellationen und Bedingungen, in denen sich ihre Figuren, ohne einen Ausweg zu sehen, wiederfinden. Hierfür setzt sie als „das sich wiederholende Element die Ironie“ ein, wie es aufklappen fasst, und literaturgefluester betont, dass die Sprache „manchmal ein wenig altmodisch“ wirkt und „manche eindrucksvolle Metaphern“ mehrmals zitiert werden. Wiederholungen und Thema ergeben einen eigenen „Sound“, denn Büsing „scheut sich nicht, Begehren in Worte zu fassen und entwickelt für ihre Heldin einen unangepassten, manchmal rotzigen und bisweilen sehr dem Mündlichen abgelauschten Ton“, wie auf buch-haltungen steht. Büsings Protagonistin nimmt tatsächlich kein Blatt vor den Mund:

Ich wurde schon alles Mögliche gefragt: Hast du einen Freund? Stehst du auf blasen? Hast du eine Schwester? Sind deine Brüste echt? (Wobei die Frage wirklich bescheuert ist! Meine Titten sehen nicht aus wie gemacht. Und sie sind auch nicht so groß wie gemachte Titten. Ich behaupte einfach mal, wer meine Titten nicht von gemachten Titten unterscheiden kann, der hat noch nicht viele Titten gesehen.) Könntest du das weiße Shirt mal mitbringen, wenn wir ficken?

Annika Büsing aus: “Nordstadt”
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Moritz Baßler: „Populärer Realismus“

Populärer Realismus
Pop gegen Populismus …

Interpretationsmodelle (4): Alle wissen, dass sich über Geschmack trefflich streiten lässt, ob als stehende Wendung in Latein oder als Lied „Jede Jeck is anders“, was dem einen seine Eul‘ ist dem anderen seine Nachtigall. Literaturkritik leistet ihren eigenen Beitrag und verteilt gerne Prädikate und Preise in der kaum zu übersehbaren Flut von Neuerscheinungen. Wie interesseleitend und hilfreich bei der Lektüreauswahl diese dann auch sind, lässt sich schwerlich abschätzen und nur im Einzelfalle überprüfen. Literaturwissenschaft geht auch hier und da einen anderen Weg. Sie versucht dann zusammenfassende Oberbegriffe für Literaturfelder zu finden, um dem Chaos der Neuerscheinungen ein wenig Einhalt gebieten zu können. Moritz Baßler schlägt in Populärer Realismus seinem neuen und gleichnamigen Buch einen solchen vor:

Der Populäre Realismus ist ein Erzählen nach den audiovisuellen und heute auch nach den digitalen und sozialen Medien.

Moritz Baßler aus: “Populärer Realismus”
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Claudia Schumacher: „Liebe ist gewaltig“ [Das Debüt 2022]

Das Cover von Claudia Schumachers Debütroman zeigt eine in Öl gemalte junge Frau. Sie liegt kopfüber und schaut aus dem Bild heraus und schaut in ihr Publikum. Sie schaut still und unbesorgt, ihre Wange hinhaltend. Neben den rotgeschminkten Lippen prangt der Romantitel Liebe ist gewaltig. Wie in der Danksagung zu finden ist, handelt es sich um einen Ausschnitt aus Xenia Hausners Gemälde Baywatch. Die warmen Farben, das friedliche Motiv und das Kopfüber-Stehen deuten auf eine tieferliegende, fast prästabilierte Harmonie hin. Nur der stoische Blick der Frau lässt einen Widerstand vermuten. In ihm liegt etwas Unbestechliches, etwas Nüchternes, Zeitloses, aber auch Hinnehmendes. Im Roman jedoch geht es gleich hart zur Sache:

Papa schlug Bruno mit der Faust ins Gesicht. Aufs Auge. Auf die Lippen. Bruno winselte vor Schmerz und vor Demütigung, presste dazwischen Sätze raus wie: Papa, ich hab‘ doch nichts gemacht, Papa, hör auf, Papa, ich wollte das nicht, Papa, Papa, bitte, bitte. Und irgendwann lag er auf dem Boden. Sein linkes Auge geschwollen. Blut am Mund. Papa kickte ihm brüllend gegen den Kopf. Mit Schuhen, die er sich extra dafür angezogen hatte.

Claudia Schumacher aus: “Liebe ist gewaltig”
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Noemi Somalvico: „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ [Das Debüt 2022]

Ist hier das Jenseits, fragt Schwein
Farm der Tiere, nur friedlich … Shortlist des Bloggerpreises “Das Debüt 2022”

Sprechende Tiere tauchen gar nicht so selten in der Literatur auf, bspw. die sprechenden Hunde in Franz Werfels Stern der Ungeborenen oder in Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie oder als neuere Variante Bekenntnis des Affen von Shinagawa aus Haruki Murakamis Erste Person Singular. Als Träger der Haupthandlung, als Haupfiguren also, tauchen sie seltener auf. Allen voran wären da zu nennen: George Orwells Die Farm der Tiere, und Jack Londons Ruf der Wildnis oder Unten am Fluß von Richard Adams. Im Gegensatz zu den genannten Versionen existieren in Noemi Somalvicos Ist hier das Jenseits, fragt Schwein gar keine Menschen, nur Tiere und Götter:

Nacht ist nicht geworden. Deshalb gibt’s auch keinen Tagesanbruch, keine Morgenröte, keinen ersten Sonnenstrahl, der auf den Sand fällt, sodass dieser zu sirren beginnt. Wären da nicht die kleinen Insekten, die herumschwirren, man könnte meinen, bei dieser Landschaft handle es sich um ein begehbares Foto. […] Gott trottet im Abstand von etwa hundert Metern hinterher. Es ist keine Kunst, der Route von Dachs und Schwein zu folgen. Mit dem Koffer, den es wie einen Schlitten hinter sich herzieht, gräbt Schwein eine fette Linie in den Sand.

Noemi Somalvico aus: “Ist hier das Jenseits, fragt Schwein”
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Slata Roschal: „153 Formen des Nichtseins“ [Das Debüt 2022]

153 Formen des Nichtseins
Im Kampf gegen Fremdbestimmung … Shortlist des Bloggerpreises “Das Debüt 2022

Es gibt Romane, die laut anklagen, krakeelen wie Hengameh Yaghoobifarahs Ministerium der Träume; oder jene, die larmoyant ihre soziale Existenz bedauern, indes sie von einem Leben in Saus und Braus träumen wie Kim de l’Horizon in Blutbuch. Es gibt auch solche, die mit Humor zur Sache gehen wie Tomer Gardi in Eine runde Sache oder verwundet und etwas gebrochen, aber perennierend und auf Kultur und Kunst hoffend wie Emine Sevgi Özdamar in Ein von Schatten begrenzter Raum. Bei aller Unterschiedenheit eint diese Schreibweisen, die mit den höchstdotiertesten deutschen Literaturpreisen versehen wurden, bspw. u.a. mit dem Büchner- oder den Deutscher oder Schweizer Literaturpreis, ein Ankämpfen gegen normierte, von außen aufgedrückte fremde Sprach- und Sprechweisen. Stiller, bescheidener, aber mit selbiger Stoßrichtung kommt Slata Roschals 153 Formen des Nichtseins daher:

Ich wollte mich als einen Teil der ansässigen Bevölkerung präsentieren, als einen Einheimischen, als einen Vertreter der ärmlichen, aber gebildeten, intellektuellen und aufsteigenden Mittelschicht. Mein Deutschsein war aber zu reflektiert, zu absichtlich, sobald ich das Pragmatische, die konkreten Ziele des Sprechens außer Acht ließ, wurde meine Sprache zu einer seltsamen Mischung, zu einer breit angelegten Performance, eigenartig und irritierend.

Slata Roschal aus: “153 Formen des Nichtseins”
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