Maria Kjos Fonn: “Heroin Chic”

Heroin Chic
Vom Unbehagen im eigenen Selbst …

Maria Kjos Fonns neuester Roman Heroin Chic handelt von einem jungen Mädchen, das sich der Drogensucht bis zum Äußersten überlässt. Viele Romane behandeln dieses Thema, bspw. Candy von Luke Davies oder Trainspotting von Irvine Welsh. Das Unheimliche der Drogensucht zieht immer wieder literarische Versuche an, die dem Abwärtsstrudel kommunikativ beikommen wollen. Kjos Fonn geht einen sehr eigenen Weg. Karsten Herrmann von literaturkritik nennt ihn „ebenso packend wie erschütternd“. Sandra Falke von Literarische Abenteuer konstatiert eine kausallogische Berechenbarkeit des Plots, dem sie sich dennoch nicht zu entziehen vermochte: „Allerdings ist die Selbstzerstörung und die Abwendung von allen positiven Einflüssen so sachlich und beherrscht, dass die aus einer Ich-Perspektive erzählte Lebens- (und Sterbensgeschichte) als Lektüre ebenso einen Suchtfaktor annimmt.“ Selbiges empfindet Hauke Harder von leseschatz: „Die Sprache und die Handlungssprünge berauschen und dadurch wirkt der Roman selbst wie eine Gesellschafts-Droge.“ Der Roman Heroin Chic beginnt passenderweise mit der Beschreibung eines Treffens der Narcotics Anonymous:

Hallo, ich heiße Elise, und ich bin drogenabhängig, sage ich. Ich war erwachsen, als ich zum ersten Mal Heroin ausprobiert habe. Es gab niemanden, der meine Grenzen niedergerissen hat. Sie waren einfach nicht da. Nichts war da.

Maria Kjos Fonn aus: “Heroin Chic”
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Virginie Despentes: „Liebes Arschloch“

Liebes Arschloch
Verwirrende Zeiten und Zeilen … Spiegel Belletristik Bestseller (08/2023)

Nach Juli Zehs und Simon Urbans Zwischen Welten kommt nun ein ähnliches Projekt aus Frankreich auf den Literaturmarkt. Virginie Despentes Liebes Arschloch erscheint nachgerade als dunkles Spiegelbild von Zehs und Urbans Projekt. Hier wie dort schreiben sich eine Frau, ein Mann E-Mails miteinander. Im Plauderton konversieren sie über dieses und jenes. Bei Zeh/Urban hauptsächlich über die Tagespolitik, die Landwirtschaft und die Klimakatastrophe, bei Virginie Despentes über Drogen, das Kulturleben, MeToo und das Alt-Werden. Die Tagespolitik selbst findet auch irgendwie Erwähnung, aber nur nebenher:

Die Lockdowns haben mir geholfen durchzuhalten. Dieses Virus hat alles auf dem Planeten versaut – und uns, uns hat es geholfen. Ich konnte mich an das alles gewöhnen. Ohne obligatorisches Abendessen in der Stadt, der Alkohol fließt in Strömen, die Leute reden immer lauter, man füllt die Gläser mit Rotem oder goldenen Bläschen, die Leute lachen wegen nichts, begeistern sich am Gespräch, sind eifrig, die Party ist auf dem Höhepunkt, in einer Ecke riecht es nach Gras, das kleine Nachmittagsbierchen, Korken knallen an die Decke, aufgeregtes Geplapper nach der Premiere, man stößt an, die Gläser klingen […]

Virginie Despentes aus: “Liebes Arschloch”
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Ina Kramer: „Im Farindelwald“

Im Farindelwald
Utopisch auf Hermesflügeln des Erzählens.

Das phantastische Element gehörte von Anfang an zu den Mitteln der Literatur. Sagen und Anekdoten, Legenden und Abenteuer erlaubten, ja beförderten das Freischweifen der Imagination, das poetische Entriegeln und Tagträumen der Ernst Bloch‘schen utopischen Sinne. Es reicht an Ovids Metamorphosen, Homers Odyssee, an Dante Alighieris Göttliche Komödie oder Miguel de Cervantes Saavedras Don Quijote zu erinnern. Sie enthalten phantastische Elemente, die oftmals viel näher an Fantasy-Literatur neuerer Prägung wie J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe oder C.S. Lewis Die Chroniken von Narnia reichen, als üblicherweise angenommen wird. Auf eine gewisse Weise hat Fantasy viel mehr mit der klassischen Literatur gemein als Werke, die sich in ihrer direkten und sie auch zitierende Nachfolge sehen wie Siegfried Lenz Die Deutschstunde, Martin Walsers Ein fliehendes Pferd oder bspw. Heinrich Bölls Ansichten eines Clowns, die allesamt dokumentarisch-prosaisch realistisch verfahren. Genre-behaftete Romanreihen, die üblicherweise nicht zur anspruchsvollen Literatur gezählt werden, warten deshalb unter Umständen mit Überraschungen auf. Ein Beispiel ist Ina Kramers Roman Im Farindelwald, der in der Reihe Das Schwarze Auge 1996 erschien:

Sie hörte die Träume des jungen Blaufalken, der am gestrigen Tag zum ersten Mal sein Nest verlassen hatte, sie hörte die Gedanken der alten Esche, aus dem ewigen Kreislauf der Jahreszeiten, aus Wachsen und Beharren gewoben. Sie spürte die Neugierde und Ungeduld des Bächleins und das Lied der unsichtbaren Wesen, die in ihm und an seinen Ufern wohnten, und sie atmete die ruhigen Atemzüge der Erde.

Ina Kramer aus: “Im Farindelwald”
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Annie Ernaux: „Der junge Mann“

Der junge Mann
auf den Spuren des eigenen Ichs … Spiegel Belletristik Bestseller (08/2023)

Die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux setzt die Tradition der französischsprachigen Biographen fort. Hier lässt sich sofort an das Tagebuch der Gebrüder de Goncourt denken, oder an Michel Leiris Die Spielregeln. Noch näher wären Jean-Jacques Rousseaus Bekenntnisse, selbstredend Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder aber auch die verstreuten Reminiszenzen eines Claude Simon wie in Die Akazie, Jardin des Plantes oder Das Haar der Berenike. In ihrem neuesten und sehr kurzen Text Der Junge Mann reflektiert Ernaux noch einmal eingehend, fast aphoristisch das Erinnern und das Schreiben des Erinnern selbst. Das Motto von Der junge Mann lautet so auch konsequenterweise:

Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe,
sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen,
sondern wurden nur erlebt.

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Robert Musil: „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
… von der Verklärung des eigenen Selbst

1906 erschien das Debüt von Robert Musil, als dieser sich noch als Volontärassistent an der Technischen Hochschule Stuttgart verdingte und alsbald zum Studium der Philosophie, Psychologie, Mathematik und Physik in Berlin einschrieb. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß blieb Musils einzig vollendeter Roman, da von Der Mann ohne Eigenschaften, sein zweiter Roman, 1930 nur der erste Teil erschien und Musil diesen vor seinem Tod 1942 nicht zu vollenden vermochte. Das steht im Zusammenhang mit seinem literarischen Ansatz der psychologischen Mikroskopierung, die schnell ins Ausufernde gerät. In Die Verwirrungen des Zöglings Törleß jedoch konzentrierte er seinen Stil bis aufs Äußerste:

Er hatte das Bedürfnis, rastlos nach einer Brücke, einem Zusammenhange, einem Vergleich zu suchen – zwischen sich und dem, was wortlos vor seinem Geiste stand. Aber sooft er sich bei einem Gedanken beruhigt hatte, war wieder dieser unverständliche Einspruch da: Du lügst. Es war, als ob er eine unaufhörliche Division durchführen müsste, bei der immer wieder ein hartnäckiger Rest heraussprang, oder als ob er fiebernde Finger wundbemühte, um einen endlosen Knoten zu lösen. Und endlich ließ er nach. Es schloss sich eng um ihn, und die Erinnerungen wuchsen in unnatürlicher Verzerrung.

Robert Musil aus: “Die Verwirrungen des Zöglings Törleß”
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Das Debüt 2022: Meine Favoriten

Das Debüt 2022

Zum ersten Mal habe ich in diesem Jahr bei der Blogger Jury zum Buchpreis Das Debüt teilgenommen.

Die Shortlist umfasste dieses Mal fünf Bücher, die aus über 70 Einsendungen von dem Organisationsteam bestehend aus Dr. Bozena Anna Badura, Janine Hasse und Sarah Jäger ausgesucht worden sind. In die nähere Auswahl gekommen sind:

Bücher lassen sich schnell, flüchtig, intensiv, akribisch, besonnen oder hektisch und so weiter lesen. Sie lassen sich reihen, stapeln, vergleichen, singularisieren, bedauern, bejubeln und begrüßen. All dies gehört zum Sprachspiel der Literatur, dem Suchen, Schwadronieren, dem Hoffen, zwischen Genre pendelnd das neue Erwarten.

Wie dem einzeln Buch überhaupt gerecht werden, lautet die Frage, die mich stets, auf jeder neuen Seite eines Buches beschleicht. Wie lesen? Auf welche Weise den Rhythmus der Wörter betonen? Wie der Erzählposition nachspürend? Was erinnern? Was vergessen? Was hinzutun? Alles, was für mich Literatur auszeichnet, bleibt in dieser Schwebesituation, Gedanken zu ermöglichen, Einblicke zu gewähren, Begriffshorizonte zu erweitern, ohne etwas zu erzwingen – vielleicht, um Jürgen Habermas etwas abzuwandeln, das ungezwungen Zwingende des schönen Schreibens.

Zum Punkt, um überhaupt eine Liste tolldreist erstellen zu können, hangele ich mich über Kategorien zur Punktegabe. Ansonsten habe ich keine Chance, mich selbst zu überraschen. Ich wähle 5 Kategorien und vergebe jeweils die Punkte von 1 bis 5 mit Kurzerklärungen.

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Juli Zeh, Simon Urban: „Zwischen Welten“

Zwischen Welten
Im Räderwerk der Eitelkreiten … Spiegel Belletristik-Bestseller (08/2023)

Der bekannteste Briefroman in deutscher Sprache ist bislang Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers geblieben. Zu den hervorragenden Eigenschaften dieser Romangattung gehört, die Inszenierung, scheinbar in Echtzeit ablaufende Vorstellung von Authentizität. Das Publikum darf sich angesprochen fühlen. Es ist Teil eines privaten Vorganges, einer intimen Geschichte, die sich vor den eigenen Augen entfaltet. Zumeist, um das Erlebnis zu steigern, wird eine auktoriale, die Schriften herausgebende und kommentierende Stimme zugeschaltet. Diese bestätigt vor allem, dass das, was zu lesen ist, der Wahrheit entspricht und vom Publikum skrupellos verfolgt werden darf. Dieses Stilmittel findet in Juli Zehs und Simon Urbans E-Mail- und Whatsapp-Roman Zwischen Welten keine Anwendung. Das Publikum gehört zu einer Art Nachrichtendienst, der ungefragt die Aufzeichnung zweier Privatmenschen tickerartig aufzeichnet. Der Roman beginnt, indem er mit der Tür ins Haus fällt:

17:22 Uhr, Stefan per E-Mail:
Hallo Theresa!
Trotz meines WhatsApp-Terrors von heute Morgen keine Nachricht von dir. Das kann man konsequent nennen. Oder sadistisch. Diese Seite an dir ist neu. Aber ich habe ja gestern Abend viel Neues entdeckt. An dir und an mir.

Juli Zeh, Simon Urban aus: “Zwischen Welten”
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Hermann Hesse: „Narziß und Goldmund“

Narziß und Goldmund
Auf Schusters Rappen … Nobelpreis für Literatur 1946.

In der Gegenwartsliteratur steht die Mutter oft nicht hoch im Kurs. In Annika Brüsings Nordstadt und Claudia Schumachers Liebe ist gewaltig hassen die Figuren sogar explizit die Mutter. In Toril Brekkes Ein rostiger Klang der Freiheit und Daniela Dröschers Lügen über meine Mutter lässt sich bestenfalls von einer erzählerischen Ambivalenz sprechen, die Geschehenes im Nachhinein wiedergutzumachen versucht. In Annie Ernaux‘ Das andere Mädchen liebt die Mutter die Ich-Erzählerin nicht genug, und in Kim de l’Horizons Blutbuch geraten die Mutter und Großmutter zeitweilig gar zu “Monstren”. Vor diesem Hintergrund ist es eine willkommene Abwechslung in Hermann Hesses Narziß und Goldmund eine andere Art von Erinnerung an die Mutter zu lesen:

Nie in meinem Leben habe ich jemand so geliebt wie meine Mutter, so unbedingt und glühend, nie habe ich jemand so verehrt, so bewundert, sie war Sonne und Mond für mich. Weiß Gott, wie es möglich war, dies strahlende Bild in meiner Seele zu verdunkeln und allmählich diese böse, bleiche, gestaltlose Hexe aus ihr zu machen, die sie für den Vater und für mich seit vielen Jahren war.

Hermann Hesse aus: “Narziß und Goldmund”
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Arno Geiger: „Das glückliche Geheimnis“

Das glückliche Geheimnis
Künstler oder Nicht-Künstler sein … Spiegel Belletristik-Bestseller (07/2023)

Ein entscheidender Hinweis findet sich direkt auf der Titelseite von Arno Geigers neuestem Buch Das glückliche Geheimnis: Dort steht nur der Verlag und keine Gattungsbezeichnung. Es handelt sich also nicht um einen Roman oder um eine Erzählung. Und in der Tat, wiewohl das Buch in der Belletristik Bestseller-Liste geführt wird, ordnet es sich in die Reihe der Sachbücher/Autobiographien ein. Buecheratlas nennt es eine autobiographische Erzählung. „Der Autor schont sich ganz und gar nicht“, was „zu vielen aufschlussreichen Passagen“ führt. Für literaturoutdoors ist es “Seite um Seite ein Mitgerissenwerden in Neugierde und Spannung“, wobei feinerreinerbuchstoff es aufgrund seiner „Lebensweisheiten“ und Alltagsbetrachtungen „einem ruhigen, leisen, unaufgeregten und liebevollen Schatzkästchen“ gleichsetzt und leckerekekse unsicher bleibt,  „wie offen und wahrheitsgetreu diese Erzählungen und Berichte sind, aber unterhaltsam sind sie auf jeden Fall.“ Arno Geigers Das glückliche Geheimnis sperrt sich also gegen eindeutige Zuordnungen und dies hat viel mit der zugrundeliegenden Ambivalenz des Ich-Erzählers zu tun, der sein Doppelleben bloßlegt:  

In der Welt der Geheimnisse gibt es jetzt ein Geheimnis weniger. Ein glückliches Geheimnis ist gelüftet. Der dunkle Deckmantel meines Doppellebens liegt am Boden. Weil ich es so will. Und warum? Um zu versuchen, endlich der zu sein, der ich bin? Oder um mich endgültig abzusondern und zu sagen, ich gehöre nicht zu euch? Vermutlich ein bisschen von beidem. Auf alle Fälle erfordert es Überwindung, mich zu zeigen.

Arno Geiger aus: “Das glückliche Geheimnis”
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Annika Büsing: „Nordstadt“ [Das Debüt 2022]

Die Stimmen zu Annika Büsings Debütroman Nordstadt konstatieren einhellig, um es mit literaturundfeuilleton zu sagen: „eine flotte, unverblümte Sprache, die der prävalent vorherrschenden Gewalt voranschreitet.“ Büsing thematisiert prekäre soziale Konstellationen und Bedingungen, in denen sich ihre Figuren, ohne einen Ausweg zu sehen, wiederfinden. Hierfür setzt sie als „das sich wiederholende Element die Ironie“ ein, wie es aufklappen fasst, und literaturgefluester betont, dass die Sprache „manchmal ein wenig altmodisch“ wirkt und „manche eindrucksvolle Metaphern“ mehrmals zitiert werden. Wiederholungen und Thema ergeben einen eigenen „Sound“, denn Büsing „scheut sich nicht, Begehren in Worte zu fassen und entwickelt für ihre Heldin einen unangepassten, manchmal rotzigen und bisweilen sehr dem Mündlichen abgelauschten Ton“, wie auf buch-haltungen steht. Büsings Protagonistin nimmt tatsächlich kein Blatt vor den Mund:

Ich wurde schon alles Mögliche gefragt: Hast du einen Freund? Stehst du auf blasen? Hast du eine Schwester? Sind deine Brüste echt? (Wobei die Frage wirklich bescheuert ist! Meine Titten sehen nicht aus wie gemacht. Und sie sind auch nicht so groß wie gemachte Titten. Ich behaupte einfach mal, wer meine Titten nicht von gemachten Titten unterscheiden kann, der hat noch nicht viele Titten gesehen.) Könntest du das weiße Shirt mal mitbringen, wenn wir ficken?

Annika Büsing aus: “Nordstadt”
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