Barbi Marković: „Minihorror“

Minihorror von Barbi Marković. Preis der Leipziger Buchmesse 2024.

Bei experimenteller Literatur stellt sich angesichts der Verständnisherausforderungen und sich oft ergebenden Verwirrungen und Desorientierungen schnell die Frage, inwiefern der Text oder die Aneignungsform, das Lesen selbst, an diesen die Schuld trägt. Wird dem Text mit einem falschen Erwartungshorizont begegnet? Wird dieser mit falschen Maßstaben gemessen oder desavouiert der Text sich selbst, scheitert am eigenen Konzept und geht von selbst in die Brüche ohne alles rezeptionsästhetische Zutun? Selbstredend lässt sich diese Frage nur im je stattfindenden Leseakt einer Antwort näher bringen. Barbi MarkovićMinihorror gehört jedenfalls offensichtlich zu dieser Art von die Rezeption herausfordernden Texten und wurde vielleicht deshalb mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2024 ausgezeichnet:

Während Mini weit vom Tod entfernt war, waren ihre Zimmerkolleginnen knapp dran, mit einem Bein schon drüben und bereits abgeschrieben. Nachts stirbt man leichter als tagsüber. Und in einem Krankenhaus ist es manchmal schwieriger zu überleben, als zu sterben, weil niemand zuschaut. Die Schmerzen und Ängste aller daliegenden Personen ufern komplett aus und vermischen sich. Wirklich, in der Nacht im Krankenhaus herrscht eine sehr ungute Atmosphäre, das kann Mini bestätigen.

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Carl Einstein: „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“

Bebuquin … An sich selbst irre gewordener Humanismus.

Mit dem Anbruch der Moderne fanden Versuche statt, den Stil, die Schreibweise völlig vom Inhalt zu lösen. Wegweisend wirkt hier Stéphane Mallarmé, der mittels einer Kunst für die Kunst, eines l’art-pour-l’art, zur reinen Form und Idee, zur poésie pure durchstoßen wollte. Symbolistisch, hermetisch treffen abstrakte Konstruktion aus L’après-midi d’un faune (1876) und eine Écriture automatique eines Lautréamonts mit seinen Die Gesänge des Maldoror (1874) aufeinander. Etwas später gesellt sich Carl Einstein hinzu, der 1912 mit Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders den Hermetismus in der Gattung des Romans vollendet und deshalb bis heute als das Sinnbild für absolute Prosa gilt:

[Im Kampfe mit zwei Wirklichkeiten] überkam [Nebukadnezar Böhm] eine wilde Freude, dass ihm sein Gehirn aus Silber fast Unsterblichkeit verlieh, da es jede Erscheinung potenzierte, und er sein Denken ausschalten konnte, dank dem präzisen Schliff der Steine und der vollkommen logischen Ziselierung. Mit den Formen der Ziselierung konnte er sich eine neue Logik schaffen, deren sichtbare Symbole die Ritzen der Kapsel waren. Es vervielfachte seine Kraft, er glaubte in einer anderen, immer neuen Welt zu sein mit neuen Lüsten. Er begriff seine Gestalt im Tasten nicht mehr, die er fast vergessen, die sich in Schmerzen wand, da die gesehene Welt nicht mit ihr übereinstimmte.

Carl Einstein aus: „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders“
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Bodo Kirchhoff: „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“

Seit er sein Leben mit einem Tier teilt … Deutscher Buchpreisträger 2016

Altmännerliteratur behandelt oft das Thema: alter Mann liebt junge Frau. Die um viele Jahrzehnte jüngere Frau dient diesem als Jungbrunnen, als Rejuvenalisierungsmöglichkeit, ohne dass diese unbedingt sofort eine intime und romantische Beziehung eingehen müsste. Martin Walser reicht in Das Traumbuch die Zusammenarbeit mit der viel jüngeren Malerin, um sich intensive Erinnerungen wachzurufen. In Martin Mosebachs Krass agiert die junge Begleiterin lediglich als Muse des schwergewichtigen Geschäftsmannes, wohingegen dann in Bernhard Schlinks Das späte Leben Nägel mit Köpfen gemacht werden und eine Ehe mit einem Altersunterschied von 34 Jahren beschrieben wird. Bodo Kirchhoff pendelt mit Seit er sein Leben mit einem Tier teil dezent dazwischen. Sein vierundsiebzigjähriger herzkranker Protagonist Louis Arthur Schongauer muss sich Jahre nach dem Tod seiner Ehefrau eingestehen, dass er sich allein fühlt:

Möglich, dass sie die paar Dinge im Bad vergessen hat  – eher aber dort platziert, geht es ihm durch den Kopf, als er wieder vors Haus tritt, in ein Licht, als käme es allein vom See und seine Fläche bestünde aus Metallscherben in der Sonne. Schongauer schließt die Augen und stützt sich an einem der Korbstühle ab, die um den Tisch stehen  – fast die Haltung, in der er nachts im Bad seine Blase leert und dabei, weil er kein Licht macht, versehentlich die Spülung berührt und ein fast menschlicher Laut entsteht, eine Art Seufzen, als lebte er nicht allein.

Bodo Kirchhoff aus: „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“
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Ernest Hemingway: „Der alte Mann und das Meer“

Der alte Mann und das Meer … Nobelpreis für Literatur 1954.

Anlässlich des neu erschienen und das Gesamtwerk abschließenden Romans Wir sehen uns im August von Gabriel García Márquez bespreche ich den Kurzroman Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway, der ebenfalls den Abschluss seines schriftstellerischen Schaffens bildet, als er 1952 erschien. Ursprünglich hätte der kurze Roman, der auch als verfehlte Novelle bezeichnet wird, zum 100. Geburtstag von Herman Melvilles Moby Dick 1951 in den Druck gehen sollen. Im Gegensatz aber zu García Márquez‘ Wir sehen uns im August legte Hemingway noch die letzte Hand an die Ausgabe und das Erscheinen verspätete sich. Wie in Wir sehen uns im August handelt Der alte Mann und das Meer von dem Ringen um Selbstbewusstsein, von dem Wiederfinden von Mut, Kraft und Energie angesichts einer als übermächtig empfundenen Umwelt:

Aber jetzt im Dunkeln und ohne Lichtschein und ohne Lichter und nur mit dem Wind und dem gleichmäßigen Ziehen des Segels hatte er das Gefühl, daß er vielleicht bereits tot sei. Er legte beide Hände aneinander und fühlte seine Handflächen. Sie waren nicht tot, und er konnte einfach, indem er sie öffnete und schloß, den Schmerz des Lebens hervorrufen. Er lehnte den Rücken ins Heck und wußte, daß er nicht tot war. Seine Schultern sagten es ihm.

Ernest Hemingway aus: „Der alte Mann und das Meer“
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Herta Müller: „Der Fuchs war damals schon der Jäger“

Der Fuchs war damals schon der Jäger … Literatur-Nobelpreis von 2009

1992 erschien mit Der Fuchs war damals schon der Jäger der erste Roman von Herta Müller, der ebenso die erste Publikation nach ihrer Übersiedlung aus Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland 1987 gewesen ist. In ihrem Romandebüt behandelt Müller das Endstadium einer Diktatur, die ein Land in die Stagnation und das allumfassende gegenseitige Misstrauen gezogen hat. Verhandelt Christoph Hein in Der Tangospieler die letzten Tage der DDR auf erotomanische Weise auf der Insel Rügen und Jenny Erpenbecks Kairos die Wende durch die Augen der Protagonistin Katharina, die zeitgleich das Ende ihrer sadomasochistischen Beziehung zu einem Inoffiziellen Mitarbeiter in Berlin erlebt, so rekonstruiert Herta Müller in Der Fuchs war damals schon der Jäger die letzten Tage der Ceaușescu-Diktatur in Rumänien in Timișoara:

Aus dem Laden, in dem der Mann verschwunden ist, fällt warme Luft auf die Straße. Die Busse blasen hinter sich große Staubräder auf. Die Sonne hängt an jedem Bus, sie fährt mit. An den Ecken flattert sie wie ein offenes Hemd. Der Morgen riecht nach Benzin, und Staub, und durchgetretenen Schuhen. Und wenn jemand mit einem Brot in der Hand vorbeigeht, riecht der Gehsteig nach Hunger.

Herta Müller aus: „Der Fuchs war schon damals der Jäger“
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Iris Wolff: „Lichtungen“

Das Ende des Kalten Krieges findet nicht nur durch die DDR Eingang in die gegenwärtige deutschsprachige Literatur. Behandeln so verschiedene Erzählweisen wie Terézia Mora, Anne Rabe oder Christoph Hein die deutsch-deutsche Wendezeit, so auch Jan Faktor jene mit Blick auf die damalige Tschechoslowakei oder Herta Müller mit Fokus auf das Ende der Ceauseșcu-Diktatur in Rumänien, bspw. in Der Fuchs war schon damals der Jäger. Iris Wolff antwortet auf das literarische Schaffen der letztgenannten mit ihrem neuesten Roman Lichtungen, in welchem sie die Wendezeit in Rumänien beschreibt und wie diese eine Familie, Freundschaften auseinander und wieder zusammentreibt:

Die Auswanderung war unausweichlich. Wie eine Sucht. Jeder fürchtete, der Letzte zu sein. […] Von nun an sah Lev die Dörfer, durch die er mit seinem neuen Rad fuhr, mit anderen Augen. Er hatte zuvor kaum darauf geachtet, auch in seinem Dorf gab es verlassene Häuser, verwaiste Gärten. Auch in seinem Dorf war es über die letzten Jahre so gewesen, dass ein jeder den anderen ansah mit diesem Blick: Gehst auch du? Dass vor den Toren, auf den Bänken immer jemand von jemandem zu berichten wusste, der ging. Und mit jedem, der ging, wuchs der Gedanke, ebenfalls zu gehen. Und mit jedem, der blieb, festigte sich die Hoffnung, bleiben zu können.

Iris Wolff aus: „Lichtungen“
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Ivo Andrić: „Die Brücke über die Drina“

Vom Verbinden und Vergessen … Literaturnobelpreis von 1961

Was Dublin für James Joyce in Ulysses und Lissabon für Fernando Pessoa in Das Buch der Unruhe, oder Berlin für Alfred Döblin in Berlin—Alexanderplatz, das ist Višegrad und die Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke für Ivo Andrić in Die Brücke über die Drina. Sie gilt als Sinnbild für die Geschichte, das Werden und Vergehen der Vielvölkerstadt an der Grenze zwischen Bosnien und Serbien. Im Gegensatz jedoch zu den anderen Beispielen löst der Literaturnobelpreisträger von 1961 Ivo Andrić Zeit und Raum auf, verleiht nicht einer Figur die Stimme, sondern lässt einen Kessel Buntes, einen kunterbunten Mosaikreigen auf sein Publikum herabrieseln:

Am Sankt-Veits-Tage veranstalteten die serbischen Vereine, wie in jedem Jahre, eine Kirmes auf dem Mesalin. Am Zusammenfluß der Drina und des Rsaw wurden auf dem grünen hohen Ufer unter den dichten Nußbäumen Zelte aufgeschlagen, in denen man Getränke ausschenkte und vor denen Hammel an Spießen über leichtem Feuer gedreht wurden. Im Schatten saßen die Familien, die ihr Essen mitgebracht hatten. Unter einem Dach aus grünen Zweigen spielte schon laut schmetternd die Musik. Auf der festgestampften Fläche wurde bereits seit dem Vormittag Kolo getanzt.

Ivo Andrić aus: „Die Brücke über die Drina“
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Das Debüt 2023: Meine Favoriten

Das Debüt 2023. Meine Favoriten.

Der Blog Das Debüt, auf den Dr. Bozena Badura und Janine Hasse schreiben, lobt den Bloggerpreis „Das Debüt“ für den überzeugendsten literarischen Erstling des jeweils vergangenen Jahres aus. Aus den vielen Einsendungen wird eine Shortlist erstellt, die die teilnehmenden Blogs lesen und besprechen. Die Punktevergabe erfolgt am Schluss und staffelt sich von 5 Punkte für das überzeugendste Debüt, über 3 Punkte und 1 Punkt für die zweit- bzw. drittplatzierten Titel. Wie auch bei meiner Besprechung der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023 und im letzten Jahr für Das Debüt 2022 möchte ich auch dieses Mal meine Punktevergabe so transparent wie möglich gestalten. Selbstredend fällt sie ohnehin vor einem äußerst lese- und erfahrungsspezifischen Hintergrund aus, weshalb ich zusätzlich noch mein Ein Kanon im letzten Jahr erstellt habe, um Gründe zur Annahme an die Hand zu geben, weshalb meine Beurteilungen so und nicht anders für gewöhnlich ausfallen.

Auf der Shortlist stehen dieses Mal fünf Titel:

  1. Tomer Dotan-Dreyfus: „Birobidschan
  2. Viktor Gallandi: „Kaspar
  3. Grit Krüger: „Tunnel
  4. Magdalena Saiger: „Was ihr nicht seht
  5. Jenifer Becker: „Zeiten der Langeweile
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Bernhard Schlink: „Das späte Leben“

Das späte Leben von Bernhard Schlink … ein schwacher Trost voller Fragezeichen.

Die Konfrontation mit dem Tod kennt viele Gesichter. Es gibt die, die ihn glühend bekämpfen, wie ein Johann Wolfgang Goethe in seinem West-östlicher Divan; die, die ihn stoisch zur Kenntnis nehmen wie ein Michel de Montaigne in seinen Essais; jene, die durch ihn hindurch in die Gesamtheit ihrer Lebensexistenz gelangen und Erinnerungswelten entfachen wie Hermann Broch in Der Tod des Vergil, oder auch die, die ihn flüchten, sich betäuben, bspw. mit Sex wie Michel Houellebecq in Vernichten, oder mit Nachrichten an die Nachwelt trösten wie Irvin D. und Marilyn Yalom in Unzertrennlich. Bernhard Schlink gehört mit seinem neuesten Roman Das späte Leben eher zu den letzteren. Sein Protagonist flieht den Tod:

Beim Abschied vom Arzt hatte er die nötige Entschlossenheit aufgebracht, und er würde es auch bei den Begegnungen mit Frau und Sohn. Dass er nicht wusste, wohin er gehörte, noch zu den Lebenden oder schon zu den Toten, dass er sich verdächtig war, würde ihm nicht dazwischenkommen. Er zog den Mantel aus, machte Kaffee und setzte sich ins Wohnzimmer. Er wusste, dass, was der Arzt gesagt hatte, ihn noch nicht wirklich erreicht hatte. So war es immer schon gewesen.

Bernhard Schlink aus: „Das späte Leben“
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Friedrich Hölderlin: „Der Tod des Empedokles“

Der Tod des Empedokles … naturgesättigter Idealismus auf Abwegen.

Viele Zeitgenossen wie Achim von Arnim sahen in Friedrich Hölderlin eine Art „Mythenseher“. Insbesondere in seinen späten Hymnen und Balladen wie Brod und Wein, Patmos oder Der Rhein (1800-1806) verdichten sich Hölderlins Natur- und Antikenauffassung. Neben seinen Übersetzungen von Sophokles Werken wie Antigone arbeitete er auch einige Jahre an seiner Tragödie Der Tod des Empedokles (1797-1800). Sie blieb unvollendet, in ihrer Fragmentarizität aber strahlt sie eine hochindividuelle Rätselhaftigkeit aus, die viele Sprach- und Philosophieprobleme der Moderne vorausahnt:

EMPEDOKLES.
Vergehn? ist doch
Das Bleiben, gleich dem Strome den der Frost
Gefesselt. Töricht Wesen! schläft und hält
Der heilge Lebensgeist denn irgendwo,
Daß du ihn binden möchtest, du den Reinen?
Es ängstiget der Immerfreudige
Dir niemals in Gefängnissen sich ab,
Und zaudert hoffnungslos auf seiner Stelle,
Frägst du, wohin? Die Wonnen einer Welt
Muß er durchwandern, und er endet nicht.

Friedrich Hölderlin aus: „Der Tod des Empedokles“ (Erste Fassung)

Im Folgenden lege ich die erste Fassung von Der Tod des Empedokles meinem Lesebericht zugrunde. Sie ist von allen möglichen Rohformen und Ausarbeitungen die am weitest gediehene, und als Textgrundlage nehme ich die von Friedrich Beißner erstellten historisch-kritischen Stuttgarter Ausgaben.

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